Hartz-IV'-Regelsätze müssen jetzt transparent festgelegt werden - und die überflüssige Bildungschipkarte muss vom Tisch
Humanistische Union fordert die Bundesregierung auf, sich an die Vorgaben des BVerfG zu halten
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 festgeschrieben, welche Neuregelungen durch den Gesetzgeber und die Bundesregierung zu treffen sind, um die Verfassungsmäßigkeit der Regelsatzbemessungen für ‚Hartz-IV‘-Empfänger und deren Kinder zu gewährleisten.
Die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union (HU) hat die Bundesregierung und die Bundestagsabgeordneten in einem offenen Brief aufgefordert, sich an die Vorgaben des Gerichts zu halten und ein transparentes und sachgerechtes Verfahren zur Ermittlung der Regelsätze zu wählen. Außerdem fordert die HU den Gesetzgeber auf, von Gutschein- oder Berechtigungsscheinmodellen und insbesondere von einer Chipkarte Abstand zu nehmen. Die Eltern müssen in ihrer Erziehungsaufgabe bestärkt und dürfen nicht durch derart bürokratische Entmündigungen beschämt werden. Andere Ansätze und Vorschläge, wie sie z.B. der Paritätische Gesamtverband mit seinem Konzept „Kinder verdienen mehr“ vorgelegt hat, sind dabei gleichwertig und öffentlich zu diskutieren.
Am 20. September 2010 – drei Monate vor Ablauf der vom BVerfG gesetzten Frist – hat das BMAS es gerade einmal geschafft, einen ersten Referentenentwurf vorzulegen, der aber immer noch nichts Konkretes zur Berechnung enthält. Jutta Roitsch-Wittkowsky vom Bundesvorstand der HU erklärt hierzu: „Die Vorgehensweise der Ministerin wird dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 nicht gerecht. Mehr noch: Das von der Ministerin gewählte Verfahren verstößt eklatant gegen die Vorgaben des höchsten Gerichts. So gibt es bisher weder neue verlässliche Zahlen noch eine öffentliche und transparente Diskussion über ein realitätsgerechtes Berechnungsverfahren.“
Stattdessen liegt der Fokus des BMAS offensichtlich weiterhin auf seinem sogenannten ‚Bildungspaket‘, das einen ‚Paradigmenwechsel‘ herbeiführen soll. Die Zielrichtung dieses Wechsels ist dabei klar, kritisiert Roitsch-Wittkowsky: „Der Bundesministerin geht es vorrangig um eine neue Kontrollinstanz über Kinder und Eltern im ‚Hartz-IV‘-Bereich. Sie setzt auf die medienwirksam in Szene gesetzten Vorurteile gegen die Familien im untersten Fünftel der deutschen Gesellschaft. In den Jobcentern will sie ‚Familienlotsen‘ ausbilden, die es bisher nicht gibt, und konterkariert damit vielfältige lokale Ansätze, die sie noch als Familienministerin selbst massiv mit Geld gefördert hat.“
Offensichtlich ist auch, dass das BMAS bei der Umsetzung des Bildungspakets weiterhin die sogenannte ‚Bildungskarte‘ favorisiert. Während Bundesministerin von der Leyen gegenüber der Presse zwar nur von einem ‚Vorschlag‘ spricht, wird mit dem Referentenentwurf (unter SGB II, § 29 Absatz 4) versucht, alle Voraussetzungen zu schaffen, um eine solche Karte gegebenenfalls auch gegen Widerstände möglichst einfach seitens des BMAS „durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates“ (per Verordnungsermächtigung also) durchsetzen zu können.
Diese Bildungskarte allerdings ist hochgradig entmündigend, bürokratisch, stigmatisierend, teuer und zudem unnötig. Bereits ein Gutscheinsystem, aber besonders ein Chipkartensystem stellt einen eklatanten Eingriff in die Privatsphäre dar: Es spricht den Eltern ab, individuelle Entscheidungen und Handlungen frei treffen und wählen zu können und bedeutet eine Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Zudem beschränkt die Karte als Zugangs-/Kontrollmedium soziale Teilhabe mehr als sie diese befördert, ist datenschutzrechtlich mehr als bedenklich einzustufen und bedeutet einen weiteren Schritt hin zum gläsernen Menschen.
Die HU fordert den Gesetzgeber auf, sich von diesem Modell zu distanzieren und dem BMAS dafür keinen ‚Freifahrtsschein‘ auszustellen. Stattdessen soll er sich lieber mit Ernsthaftigkeit dem Auftrag des BVerfG zuwenden und diesen realitätsgerecht umsetzen.
Weiterführende Informationen:
Eine ausführliche Darstellung der Position und Argumente der HU finden Sie auf unserer Webseite unter: www.humanistische-union.de/shortcuts/hartz4/. An dieser Stelle findet sich auch der offene Brief der HU an die Bundestagsabgeordneten vom 23.9.2010.
Der Vorschlag des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Gesamtverband e.V. inklusive der Broschüre ‚Kinder verdienen mehr‘ ist unter www.kinder-verdienen-mehr.de abrufbar.
Informationen zum Referentenentwurf sowie ein Pressegespräch mit Bundesministerin von der Leyen hat das BMAS auf seiner Webseite zur Verfügung gestellt. Die Regelungen im Detail, können im Referentenentwurf des BMAS vom 20.9.2010 („Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuch“) eingesehen werden (s.u.).