Publikationen / Grundrechte-Report / Grundrechte-Report 2008

Wie frei ist der geheim­dienst­lich beobachtete Abgeord­nete? - Überle­gungen zur Eingrenzung der bisherigen Praxis

Grundrechte-Report 2008, Seite 119

Kann es richtig sein, Parlamentarier durch Verfassungsschutzbehörden beobachten zu lassen? Oder gilt der Grundsatz, den beispielsweise die FDP in der Debatte um die Zweckmäßigkeit eines NPD-Verbotsverfahrens von Anfang an vertreten hat, dass der politischen Auseinandersetzung der Vorzug zu geben sei?

Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Juni 2007 berichtete, wurde beispielsweise Oskar Lafontaine, Vorsitzender der Bundestagsfraktion Die Linke – „erfasst“. Das mutet schon relativ skurril an, wenn man sich erinnert, dass Lafontaine ein Jahrzehnt lang Ministerpräsident eines Bundeslandes und – freilich jeweils nur für eine kurze Zeit – Bundesvorsitzender der SPD sowie Bundesfinanzminister in der Regierung Schröder/Fischer gewesen ist. Die Abgeordnete Petra Pau wurde in Kenntnis ihrer politischen Auffassungen mit großer Mehrheit zur Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags gewählt und amtiert als solche zur allseitigen Zufriedenheit, steht aber laut Frankfurter Rundschau und Süddeutscher Zeitung (jeweils vom 22. Juni 2007) unter Beobachtung des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Sollten die Abgeordneten des Bundestags so unklug gewesen sein, eine gefährliche Person als Stellvertreterin des im Staatsprotokoll weit oben angesiedelten Bundestagspräsidenten berufen zu haben? Frau Pau repräsentiert eine herausragende demokratische Institution, nämlich das Parlament, also die erste Gewalt im Staate, aber ihre politische Tätigkeit wird zugleich von der Exekutive, der zweiten Gewalt, verfolgt – eine eigentümliche Situation. Petra Pau wurde in ihrem Berliner Wahlkreis wiederholt direkt in den Bundestag gewählt. Soll man nicht am Ende die Wähler entscheiden lassen, wie sie die Politik einer Partei und einer Abgeordneten bewerten? Entspricht dies nicht eher den Regeln in einer Demokratie, als wenn man die Sicherheitsbehörden bemüht?

Ein Paradoxon: der Rollen­tausch der Kontrol­leure

Die frei gewählten Abgeordneten haben die Aufgabe und Pflicht, die Exekutive zu kontrollieren. Beispielsweise geschieht dies hinsichtlich der Nachrichtendienste in speziellen parlamentarischen Gremien wie etwa der G-10-Kommission oder dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr). Ist es nicht paradox, wie die Rollen wechseln können: Im PKGr überprüfen Abgeordnete die Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Sobald dessen Präsident die Sitzung verlässt, ist er wieder der Kontrolleur, der womöglich ein Dossier anlegen lässt über einen Abgeordneten, dem er soeben noch Rede und Antwort zu stehen hatte!

In der Antwort auf eine Kleine Anfrage (Bundestags-Drucksache 16/3964 vom 22.12.2006) teilte die Bundesregierung mit: „Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet die PDS bzw. die ‚Linkspartei.PDS’ ohne Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel. Dies gilt selbstverständlich auch in Bezug auf die Abgeordneten der Partei.“ Es handle sich um eine Beobachtung, bei der auf offen zugängliches Material zurückgegriffen werde. „Die gesammelten und ausgewerteten Informationen umfassen insbesondere Publikationen und Veröffentlichungen der Partei selbst oder zur Partei. Entsprechendes gilt für ihre Untergliederungen und Funktionäre.“

Echter Schutz der Verfassung oder Diskri­mi­nie­rung?

Aber worin soll denn der Nutzen liegen, wenn öffentliche Publikationen, Reden, Broschüren und ähnliches gesammelt werden? Parteien und deren Abgeordnete zeichnen sich meist nicht durch das Bestreben aus, ihre Reden geheim zu halten, sondern produzieren im Gegenteil einen Wust von Papier häufig mit dem ausschließlichen Ziel, damit in die Medien zu gelangen. Parteitagsreden werden ebenso wie Bundestagsdebatten oftmals live in Phoenix übertragen. Jedermann kann sie auf dem heimischen Bildschirm mitverfolgen. Muss dies alles auch noch vom Verfassungsschutz protokolliert werden? Das Einkleben von Zeitungsartikeln in eine „Sachakte“ wirkt wie ein Anachronismus aus den Zeiten vor Google. Heute kann jeder Bürger Hunderte von Reden und Pressemitteilungen diverser Abgeordneter per Mausklick in Sekundenschnelle im Internet aufrufen – ein Archiv, dessen Qualität vermutlich den amtlichen Sammlern nicht nachsteht.

In der Antwort vom 23. Mai 2006 auf eine Kleine Anfrage hat die Bundesregierung ihre Auffassung – auch unter Berufung auf ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags – wie folgt zusammengefasst: „Rechtsgrundlage für die Beobachtungstätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) ist § 3 Absatz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes (BVerfSchG), wonach Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen über die dort näher bezeichneten Bestrebungen ist. Das BVerfSchG sieht in Bezug auf den gesetzlichen Auftrag des BfV keine privilegierende Sonderbehandlung von Mitgliedern parlamentarischer Körperschaften vor. Insoweit sind die gesetzlichen Vorschriften ohne Ansehen der Person anzuwenden. Vorbehaltlich besonderer Regelungen bzw. Vorgaben hinsichtlich der Beobachtung von Abgeordneten mit nachrichtendienstlichen Mitteln sieht auch kein Landesverfassungsschutzgesetz eine Privilegierung von Abgeordneten in Bezug auf eine Sammlung und Speicherung von Informationen zu ihrer Person vor. Auch ein vom wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages für den Ältestenrat erstattetes Gutachten vom 8. Mai 2006 (‚Parlamentarische Kontrolle der Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz’) kommt zu dem Ergebnis, dass eine Beobachtung von Abgeordneten bzw. der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel nur dann unzulässig ist, wenn die Funktionsfähigkeit des Parlaments bzw. die innerparlamentarischen Statusrechte des Abgeordneten beeinträchtigt werden (S. 11, 14 des Gutachtens). Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden auf die parlamentarische Willensbildung bzw. die parlamentarische Tätigkeit des Abgeordneten als solche direkt oder indirekt Einfluss nehmen würde (z. B. Beeinflussung des Abstimmungsverhaltens oder der Redebeiträge). Vorbehaltlich solcher statusbeeinträchtigender Rechtswirkungen auf die verfassungsmäßigen Rechte nach den Artikeln 46 und 38 GG ist eine Beobachtung von Abgeordneten – auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln – grundsätzlich zulässig.“

Wahrnehmung des Mandats frei von Druck und Beein­flus­sung

Gibt es also mangels Sondernormen keinen besonderen Schutz der Abgeordneten vor nachrichtendienstlicher Beobachtung, oder ist ihnen aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Stellung nicht doch eine besondere Position einzuräumen, die ihnen solchen Schutz gibt?

Nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 GG sind Abgeordnete des Deutschen Bundestages Vertreter des ganzen Volkes, nicht an Aufträge und Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Dies wird als „freies Mandat“ bezeichnet. Der Abgeordnete ist darauf angewiesen und muss darauf vertrauen können, sein Mandat frei von Druck und Beeinflussung wahrnehmen zu können. Dies bedeutet, dass der einzelne Abgeordnete kraft seines Mandats gegenüber allen, auch noch so subtilen Einwirkungs- und Beeinflussungsansinnen sämtlicher dreier Staatsgewalten, einschließlich der Behörden des Verfassungsschutzes, geschützt ist. Dieser Schutz umfasst die gesamte Tätigkeit des Abgeordneten inklusive der außerhalb des Parlaments liegenden Bereiche wie z. B. öffentliche Diskussionen und parteipolitische Veranstaltungen.

Ein besonderes Augenmerk ist hierbei auf die Sicherung der Freiheit des Kommunikationsprozesses zu richten – auch im Sinne des grundgesetzlich geschützten Zeugnisverweigerungsrechts (Artikel 47 GG). Abgeordnete befinden sich als Vertreter des ganzen Volkes im permanenten Dialog mit den Bürgern, was ein durch Vertrauen geprägtes Verhältnis zwischen beiden Seiten voraussetzt. Eine ungestörte Ausübung des Mandats wäre für den Abgeordneten nicht mehr möglich, wenn sich der Bürger aufgrund der latenten Gefahr einer nachrichtendienstlichen Überwachung durch Kontaktaufnahme mit dem Mandatsträger abhalten lassen würde, weil er befürchten muss, dadurch in den Fokus der Verfassungsschutzbehörden zu geraten.

Zu bedenken ist außerdem die möglicherweise diskriminierende Wirkung der behördlichen Beobachtung eines politisch missliebigen Wahlbewerbers.

Im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz des freien Mandats eines Abgeordneten müssen daher an die Art und Weise der Beobachtung des Abgeordneten durch den Verfassungsschutz strenge Anforderungen gestellt werden. Eine auf den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen gestützte Beobachtung eines Mandatsträgers ist nach herrschender Meinung zwar grundsätzlich gem. § 3 Absatz 1 i. V. m. § 8 BVerfSchG möglich, setzt aber tatsächliche Anhaltspunkte einer aktiven die Verfassung beeinträchtigenden Haltung voraus.

Restrik­ti­onen gegen die Beobach­tungs­praxis

Ob mit diesen Merkmalen wirklich schon eine ausreichende Eingrenzung erreicht wird, erscheint aber selbst Vertretern der herrschenden Meinung fraglich. Deshalb werden verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen diskutiert. In einigen Landesgesetzen finden sich solche Regelungen. So sieht etwa § 29 Absatz 1 des Verfassungsschutzgesetzes von Sachsen-Anhalt vor, dass der Minister des Inneren die Parlamentarische Kontrollkommission und den Präsidenten des Landtages unverzüglich davon zu unterrichten hat, wenn die Verfassungsschutzbehörde nachrichtendienstliche Mittel gegen Mitglieder des Landtags von Sachsen-Anhalt einsetzt. Der Verfassungsrechtler Michael Brenner hält es für „verfassungspolitisch wünschenswert“, dass der Gesetzgeber auch auf Bundesebene „die Voraussetzungen für die Erfassung von Abgeordneten … näher konkretisieren“ würde. Zumindest sei eine Mitteilungspflicht an den Präsidenten des Bundestags „oder gar dessen Zustimmung oder die des Ältestenrates“ angeraten. Man könnte ergänzen: Zu denken wäre auch an eine mit qualifizierter Mehrheit oder sogar einstimmig zu beschließende vorherige Zustimmung durch das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags bzw. der Landesparlamente.

Die Beobachtung von Parlamentariern durch den Verfassungsschutz ist in den meisten Fällen zumindest überflüssig, aber auch rechtlich problematisch. Eine Organklage von Bodo Ramelow (MdB) und der Bundestagsfraktion DIE LINKE vom 20. Juni 2007 bietet nun dem Bundesverfassungsgericht Gelegenheit, das Verhältnis von freiem Mandat und geheimdienstlicher Beobachtung von Abgeordneten zu klären und die Vorgaben des Grundgesetzes zu konkretisieren. Sofern Karlsruhe keine völlige Abkehr von der bisher herrschenden Meinung anordnen sollte, müsste der Gesetzgeber durch eine legislatorische Präzisierung der Eingriffsvoraussetzungen sowie durch Verfahrensregeln sicherstellen, dass die bisherige Praxis auf ein unumgängliches Minimum reduziert wird. Eine Neuregelung, dass etwa das Parlamentarischen Kontrollgremium vor einer Beobachtung dem Ob und Wie zustimmen muss, würde die Thematik von der Exekutive wegnehmen und dorthin bringen, wo sie hingehört, nämlich ins Parlament.

Die wahre Aufgabe des Verfas­sungs­schutzes

Eine aufgrund materieller und formeller Schutzmechanismen radikal reduzierte Beobachtungspraxis hätte sich dann daran zu orientieren, woran Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 22. Juni 2007 anlässlich der Organklage der Linken erinnert hat. Nicht jeder, so Prantl, ist ein Verfassungsfeind, der die Verfassung ändern will, denn dann wäre der halbe Bundestag verfassungsfeindlich. Innenminister, die für die Einführung heimlicher Online-Durchsuchungen die Verfassung ändern wollen, wären bei einer so engen Definition selber Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes. Es sei Zeit, sagt Prantl zu Recht, dem Verfassungsschutz zu sagen, was seine wahre Aufgabe sei: Er soll Gruppierungen observieren, die ihre Politik nicht mit demokratischen Mitteln, sondern irregulär und gewaltsam durchsetzen wollen.

Grundsätzlich muss sich jede Aktion der Nachrichtendienste mit der vordringlichen Bewahrung und Sicherung demokratischer Institutionen legitimieren lassen. Daher hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine jahrelange Beobachtung einer schwedischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments scharf verurteilt.

Literatur

Michael Brenner, „Abgeordnetenstatus und Verfassungsschutz“ in: „Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel“, Festschrift für Peter Badura, 2004

nach oben