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Abschie­bungen von Asylsu­chenden nach Griechen­land

Grundrechte-Report 2010, Seite 148

Das Bundesverfassungsgericht hat am 8. September 2009 erstmals die Abschiebung eines irakischen Asylsuchenden nach Griechenland gestoppt und den vorläufigen Verbleib des Irakers in Deutschland angeordnet. Nach Ansicht des Gerichts sei aufgrund ernst zu nehmender Quellen zu befürchten, dass das griechische Asylsystem nicht europäischen Standards entspreche (Beschluss vom 8.9.2009 – 2 BvQ 56/09).

Der Iraker hatte sich bevor er in Deutschland einen Asylantrag gestellt hatte in Griechenland aufgehalten und war dort mit seinen Fingerabdrücken als Asylsuchender gespeichert worden. Deswegen hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entschieden, dass nicht Deutschland sondern Griechenland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Gemäß der Dublin II-Verordnung, die innerhalb der EU die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für Asylverfahren festlegt, sei Griechenland zur Rückübernahme des Irakers verpflichtet. Nach dieser EU-Verordnung ist in der Regel der Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in dem der Asylbewerber erstmals EU-Territorium betreten hat. Die Folge des Dublin-Systems ist, dass immer mehr die Staaten an den EU-Außengrenzen, wie Griechenland, für „zuständig“ erklärt werden. Im Jahr 2009 wurden fast ein Drittel aller Asylerstanträge als Dublin-Fälle behandelt. Griechenland wird von Deutschland in ca. 25 Prozent aller Dublin-Fälle um Übernahme des Asylsuchenden ersucht. Hier zeigt sich die Tendenz, dass die Verantwortung für Flüchtlinge in die Grenzregionen der EU ausgelagert werden soll.

Griechi­sches Asylsystem desaströs

Der Idee einer Verteilung von Asylsuchenden auf die einzelnen EU-Staaten liegt die Annahme zugrunde, dass es überall vergleichbare Asylverfahren gebe. Dass die Praxis in Griechenland tatsächlich desaströs ist, haben zahlreiche Berichte von Human Rights Watch, Amnesty International, PRO ASYL und anderen Menschenrechtsorganisationen gezeigt. Griechenland sorgt weder für eine einigermaßen menschenwürdige Unterbringung von Flüchtlingen noch bekommen diese Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren. Die Menschen, darunter auch Kinder, sind ganz überwiegend zur Obdachlosigkeit gezwungen. Viele leben in Abbruchhäusern. Besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, wie Minderjährige, Schwangere, Kranke oder Alte sind genauso diesen unhaltbaren Zuständen ausgeliefert wie alle anderen. Hinzu kommt, dass Griechenland keinen effektiven Schutz vor Rückschiebungen in den Verfolgerstaat gewährt. Ein solcher Schutz scheitert bereits daran, dass die griechische Bürokratie mit der Registrierung von Asylsuchenden überfordert ist. Die wenigen, die ein Asylverfahren bekommen, werden teils auf Griechisch, teils im gebrochenen Englisch – jedenfalls fast immer ohne angemessene Übersetzung – zu ihren Asylgründen angehört. Kein Wunder, dass die Asylentscheidungen nie auf das individuelle Schicksal des Einzelnen eingehen, sondern einfach pauschal die Ablehnung bekannt geben. Die Anerkennungsquote im Jahr 2009 liegt in Griechenland nur knapp über null Prozent. Dabei ist Griechenland schon mehrfach von der Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg verklagt worden, weil es EU-Asylrichtlinien nicht beachte. Am 19. April 2007 hat der Europäische Gerichtshof Griechenland wegen Verletzung der Richtlinie über die sozialen Aufnahmebedingungen verurteilt. Seither hat sich die Situation nicht verbessert.

Reaktion der Gerichte

Nachdem sich die Berichte über die unhaltbaren griechischen Verhältnisse mehrten, setzten immer mehr Verwaltungsgerichte die Überstellungen nach Griechenland aus. Mehr als die Hälfte der Gerichte setzten die Abschiebung nach Griechenland im Eilverfahren vorläufig aus. Obwohl der Gesetzgeber im Jahr 2007 die Möglichkeit, Eilrechtsschutz zu erlangen, für Überstellungen innerhalb der EU abgeschafft hatte, wurde der einstweilige Rechtsschutz gewährt.

Einen Akt des zivilen Ungehorsams oder der Rechtsbeugung stellen diese Gerichtsbeschlüsse indes nicht dar. Vielmehr beriefen sich die Gerichte entweder auf höherrangiges Verfassungsrecht oder auf Europarecht, wonach einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren sei.

Schließlich nahm sich das Bundesverfassungsgericht der Klärung der Frage an, ob aus Verfassungsgründen Abschiebungen in andere EU-Staaten zu unterbleiben haben, wenn das dortige Asylsystem fragwürdig ist. Da der Eilrechtsbeschluss vom 8. September 2009 keine formale Bindungswirkung für andere Fälle hat, folgten weitere Eilentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes.

Das Bundesinnenminister sah sich durch die Beschlüsse nicht veranlasst, die Abschiebungen nach Griechenland bis zur endgültigen Entscheidung des Verfassungsgerichts zu stoppen. Im Gegenteil: Die Abschiebungen nahmen seit der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts sogar noch zu. Das Bundesinnenministerium rief die Länder dazu auf, trotz der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts weiterhin Dublin-Überstellungen nach Griechenland vorzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht habe die Erfolgsaussichten offen gelassen und keine Aussagen zu vorgetragenen Verletzungen der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Genfer Flüchtlingskonvention oder der Kerngewährung des EG-Flüchtlingsrechts durch Griechenland getroffen.

Mit dieser Position zwingt das Bundesinnenministerium die Betroffenen dazu, in jedem Einzelfall eine Verfassungsbeschwerde einzulegen. Damit werden die Rechte der Asylsuchenden eklatant missachtet. Diese sind oftmals nicht anwaltlich vertreten sind und deswegen nicht in der Lage, ihre Fälle nach Karlsruhe zu tragen.

Verfas­sungs­recht­liche Fragen

Das Bundesverfassungsgericht wird in der Hauptsache zu klären haben, ob aus Verfassungsgründen effektiver Rechtschutz vor Rücküberstellungen in Staaten wie Griechenland zu gewähren ist, in denen das Asylsystem massive Mängel aufweist. Damit steht auch die Grundgesetzänderung von 1993 auf dem Prüfstand. Diese sah vor, dass Asylsuchende auch ohne Gewährung von Eilrechtsschutz in so genannte „sichere Drittstaaten“ abgeschoben werden können. Mitgliedstaaten der Europäischen Union – wie Griechenland – wurden von Verfassung wegen als sicher qualifiziert. Nur in Extremfällen ließ das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung zur Asylrechtsänderung im Jahr 1996 eine Ausnahme von dem Sofortvollzug der Abschiebung zu – wenn zum Beispiel in einem angeblich sicheren Staat dem Asylsuchenden die Todesstrafe oder Verfolgung droht.

Das Bundesverfassungsgericht formuliert nun in einer seiner Pressemitteilungen: Die Verfassungsbeschwerde „gibt Anlass zur Untersuchung, ob die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 […] entwickelten Vorgaben zu den verfassungsrechtlich gebotenen Ausnahmen vom Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebung von Asylantragstellern in für die Behandlung des Asylbegehrens zuständigen Drittstaaten zu präzisieren sind. Darüber hinaus ist zu klären, ob Fallkonstellationen denkbar sind, denen die Abschiebung eines Asylantragstellers in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union vorläufigen Rechtschutz ausgesetzt werden darf, wie dies europarechtlich nach der Dublin II-Verordnung möglich ist.“

Wie auch immer das Bundesverfassungsgericht letztlich entscheiden wird – die Asylsuchenden haben auch nach dem Europarecht das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz. Dies garantiert nicht zuletzt die nunmehr verbindliche EU-Grundrechtecharta. Für Asylsuchende in der EU heißt dies, dass sie nicht wie rechtlose Verschiebemasse von einem EU-Staat in den nächsten verfrachtet werden dürfen. Sie haben Rechte – und deren Einhaltung müssen gerichtlich einklagbar sein. Dies stellt eigentlich eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit dar. Doch die war in Deutschland seit 1993 für Asylsuchende verloren gegangen. Jetzt scheint die Zeit reif, ein rechtstaatliches Terrain für Asylsuchende wieder gutzumachen. Führt der Weg über Karlsruhe in eine Sackgasse, muss die Reise weiter nach Luxemburg gehen.

Literatur

Bundesverfassungsgericht,  Beschluss vom 8.9.2009, 2 BvQ 56/09

Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 103/2009 vom 8. September 2009

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8.12.2009, 2 BvR 2780/09

Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 137 vom 9. Dezember 2009

Karl Kopp/Marei Pelzer, Die Missachtung des europäischen Flüchtlingsrechts durch Griechenland, in: Asylmagazin 12/2009, S. 3-11.

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