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Im Niemands­land zwischen Repression und Prävention - Polizei­liche Video­über­wa­chung in Hamburg

Grundrechte-Report 2010, Seite 44

„Niemand kann das Recht geltend machen, unerkannt durch die Stadt zu gehen“, proklamierte der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach im Jahr 2000, um der Forderung großflächiger Videoüberwachung Nachdruck zu verleihen. Seitdem hat die Videoüberwachung öffentlicher und öffentlich zugänglicher Räume in großem Maße zugenommen; jüngste Schätzungen gehen von ca. 50.000 privat und staatlich betriebenen Kameras allein in Hamburg aus. Gleichwohl findet wohl bei kaum einer anderen Maßnahme ein derart intensives Ringen um deren Legalität und Legitimität statt. Hiervon zeugen nicht zuletzt die Rechtfertigungsdiskurse der Strafverfolgungsbehörden.

Videoüberwachung repräsentiert geradezu paradigmatisch das Ensemble neuerer polizeilicher Standardmaßnahmen, die darauf abzielen, die Grenzen der polizeirechtlichen Haftung auszuweiten, und die im Interesse der Risikoreduzierung bereits im Vorfeld möglicher Gefahren operieren. Videoüberwachung stellt potentiell eine permanente verdachtslose Beobachtung und Erfassung im jeweiligen Überwachungsraum dar, die gleich einem Chamäleon ihre Erscheinungsweise als Gefahrenabwehr- oder Strafverfolgungsmaßnahme wechselt und dabei die grundrechtlich zwingende, trennscharfe Unterscheidung zwischen Prävention und Repression, die das Polizeirecht und das Strafprozessrecht bislang nachvollzogen haben, nivelliert.

Video­über­wa­chung an Krimi­na­li­täts­schwer­punkten

Die meisten Bundesländer haben inzwischen eigene Regelungen zur Videoüberwachung an Kriminalitätsschwerpunkten. Der allgemeine Begriff der Videoüberwachung beinhaltet sowohl die kameragestützte Beobachtung des öffentlichen Raums durch bloße Bildübertragung als auch die Bildaufzeichnung. Die Beobachtung eines Ortes oder Geschehens kann zur Gefahrenabwehr nutzbar gemacht werden, etwa wenn Polizisten schnell einen Gefahrenherd ausmachen und dadurch Gefahren entgegenwirken. Die Bildaufzeichnung wird dagegen von Rechtswissenschaftlern als „Repression pur“, jedenfalls aber als überwiegend repressiv angesehen, steht hier doch die Aufklärung, Ermittlung und Verfolgung von Straftaten eindeutig im Vordergrund. Die Verfechter der Videoüberwachung aus Polizei und Politik sowie einzelne Gerichte argumentieren demgegenüber, die Nutzung der Videobilder für Strafverfahren stelle nur einen Nebenzweck dar, es handele sich quasi um ein Abfallprodukt der mittels Videoüberwachung erhofften Verhaltenssteuerung.

Aus rechtlicher Perspektive kommt der Frage der Zuordnung entscheidende Bedeutung zu: Eine Regelung von Videoaufzeichnungen in den Landespolizeigesetzen wäre aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nur dann zulässig, wenn es sich tatsächlich eindeutig um Maßnahmen zur Prävention handeln würde. Für den Bereich der Strafverfolgung ist allein der Bundesgesetzgeber zuständig, der in der Strafprozessordnung (§ 100h StPO) eine abschließende Regelung für die Anfertigung von Bildern in Strafverfahren getroffen hat. Die gezielten Eingrenzungen, die die StPO vorsieht, insbesondere das Vorliegen eines Tatverdachts, werden hinfällig, wenn die Länder vergleichbare Maßnahmen zur Videoüberwachung mit dem Ziel der Sicherung einer späteren Strafverfolgung unter geringeren Voraussetzungen erlassen können. Auf eben diese Problematik wies das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 2005 in seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des Niedersächsischen Polizeigesetzes hin.

Einige statistische Daten, die der Hamburger Senat zum Umfang der Videoüberwachung in Hamburg veröffentlich hat, vermitteln Anhaltspunkte für die tatsächliche Nutzung und die Effektivität der Videoüberwachung. Für den Überwachungsraum Hamburg-St. Pauli/Reeperbahn, in dem insgesamt zwölf Kameras angebracht sind, mittels derer rund um die Uhr gefilmt und aufgezeichnet wird, stellte sich zunächst heraus, dass die registrierte Kriminalität nicht abgenommen, sondern sogar zugenommen hat. Dieser Umstand lässt sich kriminologisch aus einer Verschiebung vom sogenannten Dunkelfeld ins Hellfeld erklären. Es wurden mehr Straftaten festgestellt, weil solche vor Einführung der Videoüberwachung unentdeckt geblieben und nicht zur Anzeige gebracht worden waren. Noch bedeutsamer für das Verhältnis Repression/Prävention ist der Umstand, dass nach Angaben des Senats im Zeitraum vom 30. März 2006 bis zum 30. Juni 2008 zwar 483 Einsätze gezählt wurden, die ohne Videoüberwachung nicht oder zumindest deutlich später durchgeführt worden wären, so dass die Aufnahmen hier möglicherweise zur Gefahrenabwehr beigetragen haben. In insgesamt 1.119 Fällen, also fast dreimal so oft, wurden aufgezeichnete Bilder aber darüber hinaus anlässlich von Ermittlungsverfahren gesichtet und in 504 Fällen letztlich auch als Beweismittel genutzt. Insgesamt bestätigen die Angaben des Senats damit die Ergebnisse umfassender kriminologischer Forschungen aus Großbritannien, denen zufolge eine Kriminalitätsreduktion allenfalls im Bereich von Eigentumsdelikten zu verzeichnen und die überwiegende Bedeutung im Bereich der Repression/Strafverfolgung anzusiedeln ist. Die gegenwärtige Praxis, verdachtslose Videoaufzeichnung polizeirechtlich zu normieren, verträgt sich damit nicht.

Video­über­wa­chung aus dem Blumen­kasten

Etliche Anwohner und Gewerbetreibende des Hamburger Schanzenviertels staunten nicht schlecht über ein Ansinnen, das ihnen die Hamburger Polizei im Frühjahr 2009 antrug: Anlässlich zahlreicher Farbbeutelattacken und Sachbeschädigungen von Geschäftsfassaden, vornehmlich im Zusammenhang mit Protesten gegen die Aufwertung und Umstrukturierung des vormals als alternativ geltenden Stadtteils, sollten sie der Installation polizeilicher Videokameras in den Fenstern ihrer Wohnungen oder auf Balkonen zustimmen, damit die Polizei auf diese Weise das Straßenleben beobachten und aufzeichnen könne. Dieser Spähangriff sollte dazu dienen, bei etwaigen zukünftigen Sachbeschädigungen Personen auf frischer Tat zu ertappen oder jedenfalls anhand der aufgezeichneten Bilder Straftaten nachträglich zu ermitteln und Täter zu identifizieren.

Damit wäre die Maßnahme durchaus vergleichbar mit der Videoüberwachung an „Kriminalitätsschwerpunkten“ wie der Reeperbahn, diente sie doch gleichfalls der Strafverfolgungsvorsorge, d.h. der Erlangung von Beweismitteln für zukünftige Strafverfahren. Da im Schanzenviertel die Überwachung jedoch nicht offen, sondern heimlich aus Privatwohnungen erfolgen sollte, kam eine polizeirechtliche Videoüberwachung per se nicht in Betracht, so dass die Ermittler nun auf die Strafprozessordnung zurückgreifen wollten. In der Tat erlaubt § 100h StPO die Anfertigung von Videobildern ohne Wissen des Betroffenen, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise weniger erfolgversprechend oder erschwert wäre. Allerdings bezieht sich diese Vorschrift ausdrücklich nur auf die Aufklärung bereits begangener Straftaten und gerade nicht auf Videoüberwachung zum Zwecke zukünftiger Strafverfolgung.

Nur wenige Woche später förderte eine parlamentarische Anfrage der Bürgerschaftsabgeordneten Christiane Schneider (Die Linke) zu Tage, dass weitere staatliche Stellen in Hamburg in großem Umfang ohne gesetzliche Ermächtigung Videokameras betreiben, mit denen sie den öffentlichen Raum und Behördenräume mit Publikumsverkehr überwachen. Der Hamburger Datenschutzbeauftragte Prof. Johannes Caspar stellte fest, dass die gegenwärtige Praxis der Videoüberwachung durch öffentliche Stellen in Hamburg zu einem erheblichen Teil verfassungswidrig sei.

Stärkung der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stim­mung

In Großbritannien, dem „Mutterland der öffentlichen Videoüberwachung“, haben zahlreiche kriminologische Studien inzwischen erwiesen, dass die vielfach behauptete präventive Wirkung falsch eingeschätzt wurde. Selbst konservative Innenpolitiker kritisieren, die Labour-Regierung habe die Bürgerrechte ohne ersichtlichen Grund unterwandert. Gemessen daran, steckt die bundesdeutsche Diskussion noch in den Kinderschuhen. Gleichwohl haben die kontroversen öffentlichen Diskussionen der vergangenen Monate in Hamburg einen Raum eröffnet, parlamentarisch und außerhalb des Parlaments einer weiteren Schleifung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung entgegenzuwirken.

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