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Kein Besuch zwecks Sprach­er­werbs - Verhin­de­rung des Ehegat­ten­nach­zugs verfestigt

Grundrechte-Report 2010, Seite 97

Im Jahr 2007 hat der Gesetzgeber den Ehegattennachzug unter anderem mit der zusätzlichen Voraussetzung erschwert, der aus dem Ausland nachziehende Ehegatte müsse sich „zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen“ können, § 30 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2  Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Die Gesetzesänderung war von Anfang an umstritten. Kritikerinnen und Kritiker rügen, das gesetzgeberische Ziel der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen könne per Integrationskurspflicht auf weniger einschneidende Weise erreicht werden. Die Vorschrift verletze das Grundrecht auf Ehe und Familie sowie europarechtliche Vorgaben und diskriminiere Personen aus einfachen Verhältnissen, für die Deutschkurse oft nicht erreichbar oder nicht erschwinglich seien (siehe dazu Habbe, Grundrechte-Report 2008, S. 89 ff.). Jetzt haben deutsche Behörden und Gerichte einen weiteren Schritt in Richtung einer Realisierung dieser Befürchtungen getan.

Nach Ehegat­ten­nachzug auch Besuchs­visum versagt

Frau B., eine 39-jährige Bosnierin, hat einen seit 17 Jahren in Deutschland lebenden Landsmann geheiratet. Er hat einen unbefristeten Aufenthaltstitel und ist berufstätig, sie hat bisher eine kleine Landwirtschaft in einem bosnischen Dorf betrieben. Jetzt möchte sie zu ihrem Mann ziehen. Der Ehegattennachzug scheitert nur an den fehlenden Deutschkenntnissen. Sprachkurse gibt es in der Gegend nicht. Herrn B., der sich erkundigt, ob es denn wahr sein könne, dass er in Deutschland nicht mit seiner Frau zusammenleben darf, wird geraten, Frau B. solle ein Besuchsvisum beantragen und bei Gelegenheit des Besuchs die Sprachkenntnisse in Deutschland erwerben, unterstützt durch am Wohnort des Herrn B. zugängliche Kurse und laufende Sprachpraxis. Danach könne man einen aussichtsreicheren Nachzugsantrag stellen. Aber die deutsche Botschaft in Sarajevo lehnt auch den Besuchsvisums-Antrag ab. Der beabsichtigte Aufenthalt gefährde die Interessen der Bundesrepublik Deutschland, § 5 Absatz 1 Nr. 3 AufenthG. Frau B. wolle bekanntlich in Deutschland leben, deshalb sei zu befürchten, dass sie das Besuchsvisum für eine illegale Einwanderung missbrauchen werde. Frau B., die eigentlich nicht in Deutschland untertauchen, sondern ihren Mann sehen, Deutsch lernen und einen legalen Weg hin zu einer rechtmäßigen Ehegattenzusammenführung beschreiten wollte, geht gegen die Entscheidung der Botschaft vor. Das Verwaltungsgericht Berlin entscheidet im Prozesskostenhilfeverfahren zu Lasten von Frau B.. Die zum Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegte Beschwerde hat ebenfalls keinen Erfolg. Die behördliche Prognose einer illegalen Einwanderung sei nicht zu beanstanden. Auch das Grundrecht auf Ehe gebiete keine andere Entscheidung. Die Eheleute könnten im Ausland sowie per Post und Telefon verkehren. Das können die Eheleute B. nicht nachvollziehen. Zu Recht.

Die Prognose einer illegalen Einwanderung bei erkennbarem Daueraufenthaltswunsch ist in der Visavergabepraxis üblich. Bisher betraf das aber Fälle, in denen eine legale Möglichkeit, den Daueraufenthalt zu realisieren, nicht nur nicht bestand, sondern auch nicht in Aussicht stand. Es sind dann der Grenzübertritt mit Hilfe eines Besuchsvisums und der spätere Gang in die Illegalität die einzige Möglichkeit, einen (prekären) Daueraufenthalt dennoch zu etablieren. Anders verhält es sich bei Frau B.: Sie hat eine legale Zuwanderungsmöglichkeit in Aussicht. Die  allein noch fehlenden Deutschkenntnisse können mit besuchsweisen Aufenthalten und Kursen in Deutschland in absehbarer Zeit erworben werden. Mit dem beantragten Besuchsvisum soll dieser legale Weg erkennbar und erklärtermaßen beschritten werden. Der in der Prognoseentscheidung als plausibel zugrunde gelegte Gang in die Illegalität hingegen würde allenfalls zu einem sehr prekären Aufenthalt führen oder, im Fall einer Abschiebung, die Zuwanderung wegen des dann eingreifenden gesetzlichen Wiedereinreiseverbots sogar gründlich vereiteln, § 11 Absatz 1 AufenthG. Die behördliche Prognose legt also ein irrationales, selbstschädigendes Verhalten als plausibel zugrunde. Sie verkennt den zentralen Wunsch der Beschwerdeführerin nach Realisierung eines stabilen ehelichen Zusammenlebens mit ihrem in Deutschland etablierten Mann und erschwert die legale Verwirklichung dieses legitimen Wunsches ohne hinreichenden Grund.

Schutz der Ehe verletzt

Eine derart unvertretbare Prognose verkennt die Wirkung des Artikels 6 Absatz 1 GG auf Entscheidungen über Visaanträge. Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil zum Familiennachzug (BVerfGE 76, 1) entschieden hat, entspricht der Pflicht des Staates, Ehe und Familie zu schützen, ein Anspruch des Grundrechtsträgers darauf, dass bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden ehelichen Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen in einer Weise berücksichtigt werden, die der großen Bedeutung entspricht, welche das Grundgesetz dem Schutz der Ehe erkennbar beimisst. Daraus resultiert ein Verbot, Einreisewilligen einen aussichtsreichen, legalen Weg hin zur Ehegattenzusammenführung mit unvertretbaren Prognosen zu versperren, statt die Ehegatten in ihrem durch Artikel 6 Absatz 1 GG geschützten Interesse im Rahmen des Möglichen zu schützen und zu fördern. Gewiss besteht kein Anspruch, Nachzugswilligen in jedem Fall den effizientesten Weg zum Erlernen der für den Nachzug nötigen Sprachkenntnisse begehbar zu machen. Es darf aber ein solcher Weg nicht mit fern liegenden, die eheliche Interessenlage verkennenden Vermutungen einer illegalen Einwanderungsabsicht staatlicherseits aktiv verschlossen werden. Würde diese Praxis Schule machen, wären die in der Diskussion um die Konformität der neuen Nachzugsvoraussetzung mit Verfassung, Europäischer Menschenrechtskonvention und Europarecht geäußerten Befürchtungen bezüglich des Schutzes von Ehe und Familie und bezüglich der Diskriminierung von aus einfachen Verhältnissen stammenden Personen realisiert – nun auch für solche Betroffenen, denen der Ausweg des Spracherwerbs über einen besuchsweisen Aufenthalt beim Ehegatten nicht aus finanziellen Gründen ohnehin verschlossen ist.

Literatur

Göbel-Zimmermann, Ralf, Verfassungswidrige Hürden für den Ehegattennachzug nach dem Richtlinienumsetzungsgesetz, Zeitschrift für Ausländerrecht 2008, S. 169 ff.

Habbe, Heiko, Zwangstrennung ohne Perspektive. Wie der Staat den Ehegattennachzug aus dem Ausland verhindert, Grundrechte-Report 2008, S. 89 ff.

Lübbe, Anna, Zur Migrationsrisikoprognose bei Antrag nachzugswilliger Ehegatten auf Besuchsvisum zum Zweck des Spracherwerbs, Zeitschrift für Ausländerrecht 2009, S. 215 ff.

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