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Völkerrecht auf den Kopf gestellt - Das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt billigt Studien­ge­bühren

Grundrechte-Report 2010, Seite 202

Von der politischen Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, vollzieht sich seit einigen Jahren eine Revolution des deutschen Hochschulwesens. Das auf Wilhelm von Humboldt zurückgehende und auch in Artikel 5 Absatz 3 GG verankerte Modell freier Forschung und Lehre wird Schritt für Schritt zu Grabe getragen. An seine Stelle tritt die „unternehmerische Hochschule“, zugerichtet nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben, wie sie mit durchschlagendem Erfolg von der Bertelsmann-Stiftung und dem von ihr maßgeblich mitfinanzierten „Centrum für Hochschulentwicklung“ in Gütersloh propagiert werden. Das bedeutet zweierlei: Die Hochschulen sollen bei Forschung und Lehre vermehrt den Bedürfnissen der Wirtschaft Rechnung tragen. Zugleich wird ihre bisher demokratisch bestimmte Selbstverwaltungsstruktur nach dem zweifelhaften Vorbild privater Unternehmen mit ihrem straff organisierten Management umgebaut. Der Hochschulpräsident soll wie der Vorstandsvorsitzende einer Aktiengesellschaft „durchregieren“ können, assistiert vom Hochschulrat, in dem Unternehmervertreter ihren Interessenstandpunkt zur Geltung bringen. Die für ihre Arbeit notwendigen finanziellen Mittel sollen die Hochschulen soweit wie möglich selbst erwirtschaften. Das Einwerben eines großen Anteils an „Drittmitteln“, also die Indienststellung von  Forschung für die Bedürfnisse finanzkräftiger Wirtschaftsunternehmen, gilt als Ausweis für die besondere „Exzellenz“ einer Hochschule.

Studierende als „Kunden“

Folgerichtig werden denn auch die Studierenden zu „Kunden“ ihrer Hochschule erklärt, die füglich zumindest einen Teil der Kosten für ihr Studium beizutragen haben. An die Stelle der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für eine hochqualifizierte und zugleich breite Bildung junger Menschen tritt die individuelle quasi-vertragliche Beziehung zwischen dem eine Dienstleistung nachfragenden „Kunden“ und der jeweiligen Hochschule. Dieser Wandel des Studienangebots zum „Produkt“ auf einem hart umkämpften Bildungsmarkt hat nicht nur  Auswirkungen auf Charakter und Bedingungen der Lehre. Er führt auch zu einer sozialen Selektion der Studierenden: Vielfach wurde inzwischen die abschreckende Wirkung von Studiengebühren auf Abiturientinnen und Abiturienten aus finanzschwachen Schichten nachgewiesen. Daran ändern auch die gesetzlichen Möglichkeiten zur Inanspruchnahme von Darlehen nichts.

Schon im Grundrechte-Report 2007 (Ataner Öztürk, S. 170 ff.) wurde festgestellt, dass die Einführung von Studiengebühren gegen Artikel 13 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (UNO-Sozialpakt) verstößt. Selbst wenn man diesen Pakt nicht zu den „allgemeinen Regeln“ des Völkerrechts im Sinne des Artikel 25 GG rechnet, kommt ihm gleichwohl auf Grund des deutschen Zustimmungsgesetzes vom 23. November 1973 innerstaatliche Geltung als (einfaches) Bundesrecht zu. In Artikel 13 Absatz II c dieses Paktes erkennen die Vertragsstaaten an, dass im Hinblick auf die volle Verwirklichung des Rechts auf Bildung „der Hochschulunterricht auf jede geeignete Weise, insbesondere durch allmähliche Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss“. Angesichts dieser eindeutigen Formulierung war es nur allzu berechtigt, Klagen von studentischer Seite gegen die Studiengebühren auch auf die Verletzung dieser völkerrechtlichen Norm zu stützen. Die damit befassten Verwaltungsgerichte vermochten gleichwohl keine Verletzung von Artikel 13 des UNO-Sozialpaktes zu erkennen. Mit seinem in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Urteil vom 29. April 2009 (Az. BVerwG 6 C 16.08) hat nunmehr auch das Bundesverwaltungsgericht Studiengebühren für vereinbar mit dem genannten Artikel 13 sowie mit anderen bundesrechtlichen Normen befunden. Die Begründung hierfür ist juristisch geradezu abenteuerlich: Nach der gesamten Anlage des Artikel 13 sei „nicht erkennbar, dass die Unentgeltlichkeit der Hochschulbildung dem Kernbereich des Rechts auf Bildung zuzuordnen sein könnte“. Im Hinblick auf Ziel und Zweck des Artikel 13 werde „klar, dass der entscheidende Regelungsgehalt der Vorschrift in der Gewährleistung der chancengleichen, an den persönlichen Fähigkeiten orientierten Zugänglichkeit des Hochschulunterrichts und nicht der Unentgeltlichkeit der universitären Ausbildung besteht, letztere vielmehr nur ein austauschbares Mittel zum Zweck ist“ (Absätze 51 u. 52 des Urteils). Dieser Zweck, so das Gericht unbeeindruckt von der realen Situation, könne schließlich auch durch die Darlehensregelungen erreicht werden.

Unent­gelt­lich­keit des Studiums – ein „austausch­bares Mittel“?

Die ausdrücklich im Normtext des Artikel 13 enthaltene Forderung nach Unentgeltlichkeit wird zu einem „austauschbaren Mittel“ degradiert, dessen man sich unbesorgt entledigen könne, wenn man nur verspricht, Ziel und Zweck der Norm auf andere Weise zu erreichen. Die bewusste Entscheidung der Urheber des UNO-Sozialpaktes für das Postulat der Unentgeltlichkeit des Studiums, hervorgehoben durch ein „insbesondere“ (im englischen Originaltext: „in particular“), lässt sich kaum gründlicher missachten als in der Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts. Unter Berufung auf  „Ziel und Zweck“ wird der Regelungsinhalt des Artikel 13 schlicht und einfach auf den Kopf gestellt.

Man übertrage diese Artikel der „Auslegung“ von Rechtnormen nur einmal auf eine originär nationalstaatliche Bestimmung: Nach § 3 Absatz 3 der Straßenverkehrsordnung beträgt die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch unter günstigsten Umständen innerhalb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 km/h. Wir stellen uns nun vor, ein Autofahrer durchquert eine geschlossene Ortschaft mit 100 km/h und wird anschließend vom Gericht mit der Begründung freigesprochen, es sei nicht auf den Wortlaut der Norm abzustellen, sondern auf deren Ziel, Unfälle zu verhüten. Da es sich um einen erfahrenen Autofahrer handele, der sein hochwertiges Fahrzeug auch bei höheren Geschwindigkeiten sicher zu lenken imstande sei, läge kein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung vor. Ein solches Urteil würden nicht nur Fachkundige mit Recht als willkürlich betrachten, als eindeutige Missachtung des ausdrücklichen Normtextes. Aber mit dem – selbst in Juristenkreisen wenig bekannten – Völkerrecht lässt sich offenbar nach Belieben umspringen, wie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zeigt. Die schon 2001 anlässlich der Prüfung des Staatenberichts Deutschlands vom zuständigen UNO-Ausschuss geäußerte Besorgnis, „dass Richter keine ausreichende Ausbildung im Bereich der Menschenrechte erhalten“, ist denn auch heute noch nur zu berechtigt.

Literatur

Thorsten Deppner/Daniel Heck, Studiengebühren vor dem Hintergrund der Umsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen im Bundesstaat und die Vorgaben materiellen Verfassungsrechts, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2008, S. 45 ff.

Wolfgang Lieb, Humboldts Begräbnis. Zehn Jahre Bologna-Prozess, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2009, S. 89 ff.

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