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Wehrpflicht-Willkür bleibt unange­tastet - Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt verweigert die Überprüfung

Grundrechte-Report 2010, Seite 137

Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion um die Wehrpflicht steht die sogenannte Wehrungerechtigkeit. Gemeint ist damit, ob die Kriegsdienstpflicht „allgemein“ oder „willkürlich“ umgesetzt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung 1978 festgestellt, dass die Wehrpflicht „Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens“ ist und „unter der Herrschaft des Artikels 3 Absatz 1 Grundgesetz [steht]“. Die Fakten sind eindeutig: „Allgemein“ ist die Wehrpflicht nur in Bezug auf Erfassung und militärärztliche Durchmusterung, nicht aber in Bezug auf die tatsächliche Dienstleistung. Von 436.000 Männern des jüngsten Geburtsjahrgangs 1985, über den es abschließend Zahlen gibt, standen lediglich rund 110.000 für eine Einberufung ins Militär zur Verfügung; angetreten – in Form des Grundwehrdienstes oder des freiwillig längeren Wehrdienstes – haben ihn 67.227. Deutlich mehr, über 82.000, haben als Kriegsdienstverweigerer einen Ersatzdienst geleistet. Die größte Gruppe sind allerdings die untauglich Gemusterten: 140.000 oder 38 Prozent. Ungemustert blieben über 60.000. Die Anzahl der Un- und Ausgemusterten (200.000) ist somit höher als die der Wehr- oder Ersatzdienstleistenden zusammen (150.000).

Gegenwärtig wird nahezu jeder Zweite ausgemustert. Insgesamt bleiben etwa 60 Prozent eines männlichen Jahrgangs vom Zwangsdienen verschont. Lediglich 16 Prozent leisten den Kriegsdienst an der Waffe (darunter etwa ein Drittel als Freiwillige), aber 20 Prozent absolvieren als Kriegsdienstverweigerer Ersatzdienste. Weitere fünf Prozent umgehen durch freiwillige Verpflichtung im Katastrophenschutz, durch Polizei – und Militärkarriere die Heranziehung zu einem Zwangsdienst.

Richter­vor­lage an das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt

Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklung hat das Verwaltungsgericht Köln im Dezember 2008 die Einberufung eines Wehrpflichtigen ausgesetzt und beschlossen, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage einzuholen, ob die Wehrpflicht grundgesetzkonform ist. Die 8. Kammer vertritt nicht die Auffassung, dass einzelne Vorschriften des Wehrpflichtgesetzes verfassungswidrig seien. Vielmehr ergebe sich die Verfassungswidrigkeit daraus, dass nur noch eine Minderheit Dienst leistet und die Mehrheit gesetzlich von der Dienstleistung befreit ist.

Das Bundesverfassungsgericht brauchte lediglich ein halbes Jahr, um am 22. Juli 2009 die Richtervorlage als unzulässig abzuweisen. Der Vorlagenbeschluss genüge den Anforderungen nicht, da er „lediglich pauschal und unzureichend“ begründet sei, so die 1. Kammer des 2. Senats. Das Verwaltungsgericht habe sich nicht umfassend mit der Rechtslage, der Rechtsprechung und der juristischen Fachdiskussion auseinandergesetzt.

Die Richtervorlage hätte trotz vermeintlicher Mängel zur Prüfung angenommen werden können. Das Bundesverfassungsgericht zweifelte die dargelegten Zahlen und Fakten gar nicht an. Die Weigerung, die Heranziehungswillkür höchstrichterlich auf ihre Grundgesetzwidrigkeit zu prüfen, ist nicht juristisch, sondern politisch motiviert. Auch frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes räumen der Wehrpflicht eine verfassungsrechtliche Sonderstellung ein. Zuletzt in einem Beschluss im Februar 2002 hat es betont, dass die Wehrpflicht „verfassungsrechtlich verankert“ sei und eine „eigenständige verfassungsrechtliche Pflicht“ darstelle. Sie könne auch nicht gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese juristische Interpretation nutzend, wehrte das Verfassungsgericht auch Vorstöße ab, nach denen die Wehrpflicht, da sie ausschließlich für Männer gelte, gegen das in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes verankerte Gleichberechtigungsgebot von Frauen und Männern verstoße.

Bezogen auf die Wehrpflicht-Lotterie heißt das: Wenn aufgrund rechtlicher Normen von vornherein 80 Prozent eines Jahrgangs vom Dienen freigestellt und diese Ausnahmen sachlich begründet würden, dann wäre auch das in Ordnung. So ließe sich aus Gründen der Optimierung des militärischen Fahrzeugparks und somit der Steigerung der Überlebenschancen der Krieg führenden Bundeswehrsoldaten doch nachvollziehbar herleiten, dass Wehrpflichtige mit Körpergrößen unter 170 und über 180 cm auszumustern sind.

Es geht um Grund­recht­s­einschrän­kungen

März 2009: Das Verwaltungsgericht Mainz sieht für einen zum Zivildienst Einberufenen 24-Jährigen keinen Zurückstellungsgrund, wenn er durch den Zivildienst aus seiner befristeten Anstellung gerissen und um die Chance gebracht wird, in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen zu werden.

Juli 2009: Wegen Zivildienstflucht wird ein 21-Jähriger zu einer dreimonatigen Haftstrafe auf Bewährung durch das Amtsgericht Berlin verurteilt. Er verweigert total, weil der Zivildienst als zweites Standbein der Wehrpflicht Kriegsdienst sei.

August 2009: Das Amtsgericht Pforzheim verurteilt einen 23-jährigen Kriegsdienstverweigerer zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen. Er ist der Einberufung zum Zivildienst aus beruflichen Gründen nicht nachgekommen. Er sprang als Fahrer und Geschäftsführer in einer Nachfolgefirma seiner Spedition ein, die in Not geraten war. Zuvor wurde sein Zurückstellungsbegehren durch das zuständige Verwaltungsgericht abgelehnt, da er diese „berufliche(n) Fakten selbst geschaffen“ habe.

Diese drei Fälle illustrieren die augenfälligsten Grundrechtseinschränkungen, die mit der Wehrpflicht verbunden sind: Berufsfreiheit, Freiheit der Person und Gewissensfreiheit. In das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird bereits ab dem 17. Geburtstag eingegriffen. Meldebehörden leiten die Personendaten männlicher deutscher Staatsbürger an das Militär. Die „Erfassten“ müssen gegenüber der Bundeswehr persönliche Auskünfte über Schule, Ausbildung, Gesundheitszustand und Berufswünsche machen. Darüber hinaus gilt ab dem 17. Geburtstag das Grundrecht auf Freizügigkeit nur noch eingeschränkt. Wer die Bundesrepublik länger als drei Monate verlassen möchte, braucht die Zustimmung des Militärs. In der Diskussion um die Wehrpflicht spielen diese Grundrechtseinschränkungen nur eine untergeordnete Rolle. Dies ist Folge gesellschaftlicher Normalität von fast 200 Jahren Kriegsdienstpflicht in Deutschland.

Wehrpflicht juristisch für sakrosankt erklärt

Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Wehrpflicht wurde erst 1954 geschaffen. Artikel 71 Nr. 1 GG erhielt folgenden Wortlaut: „Der Bund hat die ausschließliche Gesetzgebung über… die Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht …“ Seit der Verabschiedung der Notstandsverfassung 1968 heißt es in Artikel 12a Absatz 1 GG bis heute unverändert: „Männer können … zum Dienst in den Streitkräften … verpflichtet werden.“ Dass daraus eine eigenständige Verfassungsnorm abgeleitet wird, ist nicht dazu angetan, den Hütern der Verfassung besonderes Vertrauen entgegenzubringen. Aber mit diesem Griff in die juristische Zauberkiste wurde die nachträglich ins Grundgesetz geschriebene Wehrpflicht-Kann-Bestimmung zur rechtlich unangreifbaren Verfassungsnorm gekürt. Juristisch ist die Wehrpflicht nicht zu kippen. Solange die Politik an der Wehrpflicht festhält, wird das Bundesverfassungsgericht der Politik Rückendeckung geben.

Literatur

Dokumentationen der genannten Beschlüsse unter: www.asfrab.de/rechtsprechung.html

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