Grenzen der psychiatrischen Zwangsbehandlung - Maßregelvollzugsrecht teilweise verfassungswidrig
Grundrechte-Report 2012, Seite 61
Aus Anlass der Verfassungsbeschwerde eines in Rheinland-Pfalz Untergebrachten hat das BVerfG erstmals die Grenzen der psychiatrisch-medikamentösen Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug abgesteckt: Der Betroffene befindet sich dort seit nahezu 12 Jahren, weil er im Zustand der Schuldunfähigkeit aufgrund einer wahnhaften Störung versucht hatte, Frau und Tochter zu erschlagen. Die anfängliche neuroleptische Behandlung brach er wegen der Nebenwirkungen nach wenigen Monaten ab. Ärzte und Gutachter sind sich darin einig, dass nur die Fortsetzung der medikamentösen Behandlung den psychischen Zustand des Patienten verbessern und ihm so einen Weg in die Freiheit weisen könne. Im September 2006 kündigte die Klinik an, man wolle von der im Maßregelvollzugsgesetz (MVollzG) des Landes eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen und ihn auch ohne seine Einwilligung medikamentös behandeln. Das nach ärztlicher Auffassung „geeignete Neuroleptikum“ solle wenn nötig gegen seinen Willen intramuskulär gespritzt werden. Hiergegen wandte sich der Patient mit Beschwerden durch alle Instanzen, kam aber erst vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu seinem Recht. Mit einer Grundsatzentscheidung vom 23.03.2011 wurden die Gerichtsbeschlüsse zur Rechtfertigung der Zwangsbehandlung wegen Verletzung seines Grundrechts aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG aufgehoben; die diesen Beschlüssen zugrundeliegende Vorschrift (§ 6 Absatz 1 Satz 2 MVollzG) wurde für nichtig erklärt.
Psychiatrische Zwangsbehandlung: Nicht prinzipiell unzulässig …
Der schwerwiegende Grundrechtseingriff, der in der medizinischen Behandlung eines Untergebrachten gegen dessen natürlichen Willen liege, könne „auch zur Erreichung des Vollzugsziels gerechtfertigt sein“ (Leitsatz 1), wenn er „krankheitsbedingt zur Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit oder zum Handeln gemäß dieser Einsicht nicht fähig“ sei (Leitsatz 2). Ob dies so ist, dürften letztlich aber nicht die Psychiater, die ihn gegen seinen Willen behandeln wollen, selbst entscheiden. Vielmehr sei einerseits eine unabhängige Kontrolle vorzusehen, deren Ausgestaltung den Landesgesetzgebern überlassen sei, und andererseits sei die Zwangsbehandlung anzukündigen, damit der Patient effektiven Rechtsschutz vor Gericht suchen kann. „Die wesentlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung bedürfen klarer und bestimmter gesetzlicher Regelung.“ (Leitsatz 3) Außerdem müssten die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit streng beachtet und verfahrensrechtliche Vorkehrungen getroffen werden, um die Rechte des Patienten zu schützen. „Maßnahmen der Zwangsbehandlung dürfen nur als letztes Mittel und nur dann eingesetzt werden, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel, das ihren Einsatz rechtfertigt, Erfolg versprechen und für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden sind, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen.“ (Leitsatz 2)
… aber ein sehr schwerer Grundrechtseingriff
In Anbetracht zahlreicher in Literatur und Rechtsprechung, vor allem aber in der Praxis zu beobachtender Relativierungen des Eingriffscharakters sieht sich das BVerfG zu folgenden Klarstellungen veranlasst: „Dem Eingriffscharakter einer Zwangsbehandlung steht nicht entgegen, dass sie zum Zweck der Heilung vorgenommen wird.“ Er entfällt auch nicht bereits dann, wenn der Betroffene der abgelehnten Behandlung keinen physischen Widerstand entgegensetzt. Diese Behandlung greife in das Grundrecht allenfalls dann nicht ein, wenn sie von der „frei, auf der Grundlage der gebotenen ärztlichen Aufklärung, erteilten Einwilligung des Untergebrachten gedeckt“ sei, vorausgesetzt, er sei einwilligungsfähig und werde keinem unzulässigen Druck ausgesetzt, etwa „durch das Inaussichtstellen von Nachteilen im Falle der Behandlungsverweigerung.“
Das lässt an Deutlichkeit – im Prinzipiellen – zunächst einmal nichts zu wünschen übrig. Gerade auch fehlende Einsichtsfähigkeit beseitigt keineswegs den Eingriffscharakter. Sie könne im Gegenteil dazu führen, dass der Eingriff „als besonders bedrohlich erlebt wird, und daher das Gewicht des Eingriffs noch erhöhen.“ Selbst die Einwilligung des für einen einsichts- und einwilligungsunfähigen Untergebrachten bestellten Betreuers nehme der Maßnahme daher nicht den Eingriffscharakter, der darin liege, dass sie „gegen den natürlichen Willen“erfolgt. Dabei hat gerade die medikamentöse psychiatrische Zwangsbehandlung als besonders gravierender Grundrechtseingriff zu gelten: „Der Betroffene wird genötigt, eine Maßnahme zu dulden, die den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt und daher normalerweise nur mit der – in strafrechtlicher Hinsicht rechtfertigenden – Einwilligung des Betroffenen zulässig ist.“ Schließlich sei die zwangsweise Gabe von Neuroleptika ein besonders schwerer Grundrechtseingriff auch im Hinblick auf die Wirkungen und insbesondere Nebenwirkungen dieser Medikamente.
Freiheitsinteresse des Patienten als Zwangsbehandlungs-Legitimation?
Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließe auch die „Freiheit zur Krankheit“ und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe „abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind“; das Gewicht, das dem eingeschränkten Grundrecht in der Abwägung mit denjenigen grundrechtlichen Belangen zukommt, die durch den Eingriff in dieses Recht gewahrt werden sollen, könne jedoch – und damit kommt die für das BVerfG entscheidende Wendung – nicht „vollkommen losgelöst von den tatsächlichen Möglichkeiten des Grundrechtsträgers zu freier Willensentschließung“ bestimmt werden. Der Gesetzgeber sei daher berechtigt, unter engen Voraussetzungen Behandlungsmaßnahmen gegen den natürlichen Willen ausnahmsweise zu ermöglichen, wenn er „zur Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen oder zum Handeln gemäß solcher Einsicht krankheitsbedingt nicht fähig“ sei. Er werde vor sich selbst in Schutz genommen, ohne damit – so jedenfalls das BVerfG – eine staatlich-ärztliche sog. ‚Vernunfthoheit‘ zu begründen.
Handlungsbedarf mit Widersprüchen
Sollten die Schwellen der Geeignetheit und Erforderlichkeit überwunden sein, so ist spätestens bei der Frage der konkreten Angemessenheit der Streit vorprogrammiert, mit dessen Schlichtung den Gerichten – wie die Vergangenheit zeigt – eine kaum lösbare Aufgabe zugewiesen ist. In Anbetracht der formulierten Unwägbarkeiten und unter Anerkennung der Prinzipien „ultima ratio“ und „in dubio pro libertate“ dürften verhältnismäßige Zwangsbehandlungen äußerst selten sein.
Die vom BVerfG formulierten erforderlichen verfahrensmäßigen Vorkehrungen gehen über die Ärzteschaft hinaus in Richtung einer „von der Unterbringungseinrichtung unabhängigen Prüfung“, wobei die gesetzliche Betreuung in den Blick gerät: Die Erfahrungen, die Psychiatrie-Patienten mit gesetzlichen Betreuern bisweilen machen müssen, bis hin zu mehr oder weniger ‚heimlichen Allianzen‘ mit den Kliniken, legen es aber nahe, zumindest auch nach anderen Lösungen zu suchen. Es bedarf mithin neuer landesgesetzlicher Regelungen, und dies gilt bei weitem nicht ‚nur‘ in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg (und sicher nicht ‚nur‘ im Maßregelvollzug, vgl. Marschner 2011). Solange bleiben Zwangsbehandlungen im Maßregelvollzug unzulässig. Damit können die Gesellschaft und der Rechtsstaat gut leben – und die Patienten allemal.
Literatur
Kammeier, Heinz, Zur eingeschränkten Zulässigkeit einer medikamentösen Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug, in: Betreuungsrechtliche Praxis 2001, S. 119-121
Marschner, Rolf, Aktuelles zur Zwangsbehandlung – in welchen Grenzen ist sie noch möglich? in: Recht & Psychiatrie 3/2011, S. 160-167
Pollähne, H. (2011) Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug, in: Bauer et al. (Hg.) Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung, Berlin 2011, S. 109-128