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Rechts­po­li­ti­sche Konse­quenzen aus der „NSA-Aus­spähaf­färe“

Grundrechte-Report 2014, Seite 28

Die Enthüllungen des Whistleblowers Edward J. Snowden haben weltweit wichtige Debatten über die Aktivitäten des US-Militärgeheimdienstes NSA und anderer Nachrichtendienste angestoßen. Zu Recht wird nun nach den Rechtsgrundlagen für das Ausspähen und den politischen Verantwortlichkeiten gefragt. Der Bundestag sollte unverzüglich einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen, um eigenständig zur Sachverhaltsklärung beizutragen. Aufgabe der Zivilgesellschaften ist es für Veränderungsdruck sorgen, damit grundsätzliche Konsequenzen gezogen werden. Dazu werden hier sieben Forderungen aufgestellt.

1. Wirksamer Schutz für Whist­leblower – Societal Verifi­ca­tion

Wir brauchen völkerrechtliche und innerstaatliche Regelungen zur Förderung und zum Schutz von Societal Verfication. Notwendige Schutzregelungen müssen u.a. die Aufnahme von Whistleblowern wie Edward Snowden in ein Zeugenschutzprogramm, die Garantie eines gesicherten Aufenthaltsstatus (z.B. nach § 22 AufenthaltsG), den Schutz vor Auslieferung, die Sicherung des Existenzminimums und Hilfen bei der gesellschaftlichen Integration gewährleisten. Das sollte in internationalen Abkommen zur Sicherung der Kommunikationsfreiheiten, zum Datenschutz und ähnlichen völkerrechtlichen Verträgen sowie in den jeweiligen nationalen Ausführungsgesetzen garantiert werden.

2. Alle Geheim­ver­träge gegenüber dem Parlament offenlegen

Die Altlasten des nach der Wiedervereinigung Deutschlands am 15. März1991 aufgehobenen sog. Deutschland-Vertrag vom 24. Oktober1954 (DV), auf dessen Grundlage zahlreiche Regierungs- und Verwaltungsvereinbarungen abgeschlossen worden sind, müssen beseitigt werden. Die „Überwachungs- und Geheimdienstvorbehalte“, zu denen nicht veröffentlichte völkerrechtlich verbindliche diplomatische Noten ausgetauscht wurden, betreffen u.a. den nicht näher definierten „Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte“. Dazu wurde nicht nur der sog. „Notstandsfall“ (Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 DV.), sondern u.a. die „Kontrolle von Postsendungen und Überwachung von Fernmeldeverbindungen“ (Artikel 5 Absatz 2 Satz 3 DV; Artikel 4 Absatz 1 und 2 TV) sowie eine „Geheimdienst-Regelung“, z. B. im Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut verankert.

Der Bundestag sollte gegenüber der Bundesregierung darauf dringen, dass alle Vereinbarungen offen gelegt werden, die Deutschland mit den Truppen-Stationierungsländern USA, Frankreich und dem Vereinigten Königreich auf der Grundlage des Deutschland-Vertrages abgeschlossen hat und die die in Artikel II des NATO-Truppenstatuts normierte Pflicht der Entsendestaaten einschränken, deutsches Recht „zu achten“. Die Notwendigkeit der Fortexistenz dieser Vereinbarungen muss konkret überprüft werden.

3. NATO-­Trup­pen­statut und Zusatz­ab­kommen revidieren

Das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut bedarf einer grundlegenden Revision. (Dies gilt vor allem für seine folgenden Vorschriften: Artikel 3, 17, 18, 18a, 20, 20, 28, 29, 45, 46, 48, 49, 53, 53a, 57, 60 und 63). Dabei muss insbesondere gewährleistet sein, dass die in Deutschland befindlichen ausländischen Truppen und ihr ziviles Gefolge ausnahmslos das deutsche Recht beachten und dass die zuständigen deutschen Stellen rechtlich und faktisch uneingeschränkt in der Lage sind, in den überlassenen Liegenschaften sowie im gesamten Bundesgebiet die Einhaltung dieser Verpflichtungen wirksam zu überprüfen.

4. Aufent­halts­ver­trag neu verhandeln

In Artikel 1 des Aufenthaltsvertrags (AV) von 1954 (BGBl 1955 II, S. 253) wird das in Artikel 4 Absatz 2 Satz 2 DV zum Ausdruck gebrachte Einverständnis der Bundesrepublik mit der weiteren alliierten Stationierung von Truppen „der gleichen Nationalität und Effektivstärke“ bekräftigt; lediglich Erhöhungen der – nicht näher definierten – Effektivstärke werden von der Zustimmung der Bundesregierung abhängig gemacht. Das macht es schwierig zu kontrollieren, welche Verbände der US-Streitkräfte hier bereits stationiert sind oder ggf. neu verlegt werden, welche Aufgabenstellung sie haben und ob diese im Rahmen der NATO-Strukturen oder außerhalb derselben agieren. Immer wenn sie sich also darauf berufen können, die bisherige „Effektivstärke“ werde nicht geändert, bestehen für die Gaststreitkräfte weite Handlungsräume, ohne dass die Zustimmung Deutschlands eingeholt wird.

Durch Notenwechsel vom 25. September 1990 (BGBl. 1990 II 1390) hat die Bundesregierung gegenüber den drei Westmächten erklärt, dass der Aufenthaltsvertrag „nach der Herstellung der Einheit Deutschlands“ in Kraft bleibt. Dieser Notenwechsel ist dem deutschen Gesetzgeber nicht zur Zustimmung vorgelegt worden, obwohl Artikel 3 Absatz 1 AV i.d.F. vom 23. Oktober 1954 ausdrücklich regelt, dass der Aufenthaltsvertrag insgesamt „außer Kraft“ tritt „mit dem Abschluss einer friedensvertraglichen Regelung mit Deutschland“; diese stellt der 2+4-Vertrag und die damit in Zusammenhang stehenden völkerrechtlichen Vereinbarungen dar.

Die Regelung in Artikel 3 Absatz 1 AV wird daher durch den Notenwechsel vom 25. September 1990 und die seitherige Staatspraxis fortlaufend missachtet. Auch muss sichergestellt werden, dass deutsche Stellen an Völkerrechtsbrüchen weder mitwirken noch diese ermöglichen.

5. Artikel 10 GG (Fassung von 1949) wieder­her­stellen und G-10-Gesetz reformieren

Seit der Änderung des Artikel 10 GG und des Artikel 19 Absatz 4 Satz 2 GG durch die sog. Notstandsgesetzgebung 1968 hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, den gerichtlichen Rechtsschutz gegen Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses auszuschließen. So bestimmt § 13 G10-Gesetz, dass „gegen die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen nach den §§ 3 und 5 Absatz 1 Satz 3 Nr. 1 G10-Gesetz und ihren Vollzug […] der Rechtsweg vor der Mitteilung an den Betroffenen nicht zulässig“ ist.

Diese Regelung sollte ersatzlos gestrichen werden, damit jeder Betroffene uneingeschränkt das rechtsstaatliche Fundamentalrecht des Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 GG jederzeit nutzen kann.

Auch die im G10-Gesetz vorgesehene parlamentarische Kontrolle durch das PKG und die G10-Kommission stellen keinen wirksamen Ersatz für eine gerichtliche Kontrolle dar, schon weil diese Gremien gemäß dem Stärkeverhältnis der Fraktionen besetzt, d.h. von der parlamentarischen Regierungsmehrheit dominiert werden und die Betroffenen hier nur eingeschränkte Verfahrensrechte haben. Ein ausreichender Schutz von geheimhaltungsbedürftigen Informationen kann durch prozessrechtliche Vorschriften über den Ausschluss der Öffentlichkeit und über die Einschränkung der Pflicht zur Vorlage der Akten (§ 99 VwGO) gewährleistet werden.

6. Stärkung der parla­men­ta­ri­schen Kontroll­rechte

Nach § 4 PKGrG entscheidet die Bundesregierung selbst, über welche „allgemeine Tätigkeit“ bzw. welche „Vorgänge besonderer Bedeutung“ sie das PKG informiert. Die Abgeordneten können angesichts der Vielzahl an Geheimdienstaktivitäten jedoch kaum einschätzen, ob dies tatsächlich passiert. Deshalb muss der Inhalt der Unterrichtungspflicht durch Regelbeispiele konkretisiert werden.

Jedem Mitglied der Kontrollgremien sollten zudem zumindest je fünf fachlich ausgewiesene Mitarbeiter seiner Wahl zur Verfügung gestellt werden, die auch an den Sitzungen teilnehmen dürfen.

Es sollte ferner gesetzlich gewährleistet sein, dass sich Mitarbeiter der Nachrichtendienste ohne vorherige Beteiligung ihrer Vorgesetzten an die parlamentarischen Kontrollgremien wenden dürfen und ihnen daraus keine Nachteile entstehen.

Die strafrechtlich bewehrte Geheimhaltungspflicht hindert die Mitglieder der Kontrollgremien, die Regierung öffentlich fundiert zu kritisieren. Diese Beschränkungen (vgl. § 10 Absatz 2 und 3 PKGrG) müssen deshalb modifiziert werden, insbesondere dahingehend, dass schon ein Minderheitenquorum zu öffentlichen Stellungnahmen berechtigt. Die Mitglieder der Kontrollgremien sollten zudem von ihrer Schweigepflicht im Falle von ihnen bekannt gewordenen Rechtsverstößen ausdrücklich entbunden werden.

7. EU-Da­ten­schutz

Die EU sollte mit den USA ein Abkommen über den Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts („Datenschutzabkommen“) aushandeln, das den Anforderungen des Artikel 8 EMRK entspricht. Darin sollten ferner allen Bürgern der EU und der USA wechselseitige Klagerechte sowohl vor US- als auch vor europäischen Gerichten einräumt werden.

Die 2013 im Entwurf der EU-Datenschutzverordnung gestrichene Anti-FISA-Klausel (Artikel 42), wonach Unternehmen sensible Daten von EU-Bürgern nur dann an ausländische Sicherheitsbehörden übermitteln dürfen, wenn dies durch ein Rechtshilfeabkommen gedeckt ist, ist unverzichtbar und sollte wieder aufgenommen werden.

Unternehmen, die in der EU geschäftlich tätig sind und rechtswidrig Informationen an Nachrichtendienste weitergeben, müssen mit empfindlichen Strafen belegt werden, die sich zu Abschreckungseffekten an der Höhe des Konzernumsatzes orientieren. Ferner sollte für Streitigkeiten über die Auslegung dieses Abkommens die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs nach Artikel 36 des IGH-Statuts anerkannt werden.

Literatur

Bigo, Didier u.a.: National Programmes for Mass Surveillance of Personal Data in EU-Member States and their Compatibility with EU Law. Study requested by the European

Parliament’s Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs. Brussels. 2013 (in: http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/etudes/join/2013/493032/IPOL-LIBE_ET%282013%29493032_EN.pdf

Deiseroth, Dieter: Societal Verification. 3. Aufl., BoD-Verlag. Nordenham. 2010

Deiseroth, Dieter/Falter, Annegret (Hrsg.): Whistleblowing im Militär und in den Geheimdiensten. Whistleblower-Preis 2011 an Bradley (Chelsea) Manning und Whistleblower-Preis 2013 an Edward J. Snowden. Berliner Wissenschaftsverlag. 2014 (i.E.)

Foschepoth, Josef: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012; 3. Auflage 2013, ISBN 978-3-525-30041-1, auch als Bd. 1415 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2013.

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