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Rezension: Dirk Moses: Nach dem Genozid. Grundlage für eine neue Erinne­rungs­kultur

Übersetzt von David Frühauf, Matthes &Seitz Berlin 2023 (Fröhliche Wissenschaft, Bd. 224). 159 Seiten, 15 €. ISBN: 978-3-7518-0565-0

Mitteilungen25001/2024Seite 20-22

Die Ereignisse und Folgen des Terroranschlags vom 7. Oktober2023 bestimmen die Politik, die Nachrichten, die Handlungen und Empfindungen vieler nachhaltig und eindrücklich.

Durch das Erscheinen des Buches vor dem 7. Oktober erhält diese Auseinandersetzung mit den Begriffen Genozid, Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine von den aktuellen Ereignissen nicht belastete Aktualität. Nach dem Genozid basiert auf dem Buch The Problem of Genocide von Dirk Moses, erschienen 2021. Moses hat mit seinen Schriften Aufmerksamkeit erzeugt. Etwa hat sich eine Diskussion um sein Essay über Erinnerungskultur Der Katechismus der Deutschen (Moses 2021) und die Kritik daran von Meron Mendel in seinem Buch Über Israel Reden ergeben (Mendel 2023).

Moses betrachtet einen Genozid als Verbrechen aller Verbrechen und versucht, dessen Bedeutung für Völkermord sowie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion zu definieren und nachzuvollziehen. Er stellt die Behauptung, massenhaftes Töten von Zivilistinnen und Zivilisten erscheint als akzeptabel, solange es durch hehre Zwecke motiviert ist, in Frage.

Folgen wir seinem Buch, so werden wir auf die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes und die damit verbundene Beschreibung, „eine Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ hingewiesen. Gilt der Genozid als Verbrechen aller Verbrechen als höchster normativer Maßstab? Demnach darf die betroffene Gruppe nicht der Feind im Krieg und oder in einer Rebellion sein. Ist sie es doch, so handelt es sich nicht um Völkermord. Wenn im Laufe eines Krieges Millionen von Menschen aus der Zivilbevölkerung umgebracht werden, kann dies demnach nicht als Völkermord benannt werden (S. 10).

In Referenz zum Haager Abkommen von 1907 wurden die Handlungen an den Armenierinnen und Armeniern zuerst auch nur als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Moses gibt eine tiefen Einblick in die Geschichte der Gewalt bis zurück in die Sklaverei, die Kolonialisierung und den Umgang mit indigenen Völkern. Die neue europäische Kontroverse im Bemühen darum, angemessen über koloniale Vergangenheit zu reden, könnte hierauf Bezug nehmen.

Mit Blick auf die Zeit nach 1948 zeigt Moses die verheerende Anzahl der zivilen Opfer in den kriegerischen Auseinandersetzungen auf. Aus der Definition des Völkermordes, des Genozids, werden die hohen Zahlen der getöteten Bevölkerung im Vietnamkrieg, im Krieg gegen Afghanistan, im Jemen, im Sudan, vielleicht insgesamt die Opfer der Vereinigten Staaten im globalen Kampf gegen den Terror davon ausgenommen. Ja, gerade als zynisch empfindet Moses die Hinnahme dieser Opfer als Kollateralschaden. Auch zivile Zerrüttung wäre nicht genozidal. Die gegebene Hierarchisierung führt zu einer ungleichen und nicht gerechtfertigten Bewertung der Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen.

Wohin führt diese Unterscheidung? Dirk Moses führt hierfür den Begriff der dauerhaften Sicherung ein (S. 65). Interessant differenziert er nach liberaler Sicherung und antiliberaler Sicherung. Liberale Sicherung bezieht sich auf das Territorium der Welt, im dem im Namen der Menschheit und Humanität höhere Ziele erstrebt werden. Ein erstes Beispiel wäre die Begründung, die imperiale Herrschaft Großbritanniens diente dem Ende des Sklavenhandelns. Generell lege hier ein Anspruch auf Sicherung universaler Werte vor, der vermeintliche Nutzen von Zivilisation, Christentum und Handel benötige und erlaube den Imperialismus. Die Folgen dieser Strategie für die vorhandene Bevölkerung werden ausführlich beschrieben. Die erforderliche dauerhafte Sicherung führe auch zu dem Begriff des Rasenmähens, wie die langfristige Zermürbungsstrategie von Israels Sicherheitsanalysten von Moses genannt wurde (S. 10).

Entgegen der liberalen Sicherung definiert Moses eine antiliberale Sicherung als Sicherung innerhalb des eigenen gegebenen oder antizipierten Territoriums gegen eine Bedrohung der eigenen Nationalität. Hier kommt die Praxis zum Tragen, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse fremde Gruppe als Feind zu sehen, als dauerhafte Bedrohung. Damit kann auf Grund der Staatsräson diese Gruppe insgesamt dauerhaft interniert, vertrieben oder ausgelöscht werden. Hier kann die Triebkraft exzessiver Gewalt gefunden werden.

Der nationalsozialistische „Erlösungsimperalismus“ wäre der Höhepunkt der antiliberalen Sicherung (S. 97). Eindrücklich werden die Einzigartigkeit und Besonderheit dessen analysiert und beschrieben. Die umfangreiche Darstellung mit Bezug auf historische Quellen erlaubt die Zugeschreibung der besonderen Singularität des Holocaust.

Lesenden bleibt es überlassen zu entscheiden, ob die Definition der dauerhaften Sicherheit und die Unterscheidung zwischen liberaler und antiliberaler Form hilfreich ist. Insbesondere die jeweils angesprochenen Territorien ergeben keine dauerhafte Differenzierung. Und ist die dauerhafte Sicherung nicht zu illusionär, um als Orientierung für politisches Handeln zu gelten (Siemens: 2021)?

Zum Abschluss wendet sich Moses der Erinnerungskultur zu. Er wirft die Frage auf, ob diese in Deutschland fremdbestimmt wäre. Führt die Betrachtung des Holocaust im Zusammenhang mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit älterer und jüngerer Vergangenheit zu einer Relativierung der Judenverfolgung? Hier setzt die deutliche Kritik von Mendel an. Dieser wehrt sich nicht gegen einen Vergleich sofern es die Betrachtung von Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschieden betrifft, sofern gemeinsame Kriterien angewendet werden können. Mendel (2023: 162) wehrt sich gegen die Einordnung, die Gründung des Staates Israel als koloniale Landnahme zu betrachten. Er sieht in dem Ansatz von Moses eine Intention, zum falschen Zeitpunkt eine Diskussion anzuregen, die die israelische Staatlichkeit in Frage stellt. Dies würde auch die Zustimmung aus dem rechtsextremen und nationalistischen Spektrum belegen. Der Begriff dauerhafte Sicherheit weist dagegen auf die Gefahren einer möglichen, sich daraus ergebenen Gewalteskalation hin. Nach Ansicht des Rezensenten kann nur eine glaubwürdige lebenswerte Perspektive für Palästina die Sicherheit Israels gewähren. Ob die Kritik Moses zwingend korrekt ist, muss die kritische Leserschaft entscheiden. Das Buch ermöglicht es, die Bedeutung des Holocaust im Verlauf der Geschichte zu verfolgen.

Zusätzliche verwendete Literatur

Mendel, Meron 2023: Über Israel Reden, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 4. Auflage.

Moses, Dirk 2021: Der Katechismus der Deutschen in: Geschichten der Gegenwart vom 23.5.2021.

Siemens, Daniel 2021: Illiberale Sicherheit, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.4.2021.

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