Die Sinnlosigkeit des Strafens
Abkehr vom überkommenen Strafrechtsdenken,
Vorgänge 06/1972, Seite 157-164
I. Einleitung
1. Ich richte diesen Vortrag an ein nichtjuristisches Publikum. Deswegen werde ich einerseits juristische Begriffe und Vorstellungen zu erläutern suchen, die dem Juristen geläufig sein werden; andererseits möchte ich mich juristischer Erörterungen enthalten, wo sie mir nicht zum Beleg einer Aussage notwendig erscheinen.
2. Dabei gehe ich von der Überzeugung aus, daß die Reform unseres Strafrechts nicht den Juristen überlassen werden darf. Denn der Juristenstand ist für seine Traditionsverhaftung ebenso bekannt wie für seine beharrliche Ignorierung benachbarter Wissenschaften. Wo ich hier im folgenden von Strafrecht spreche, meine ich Strafrecht im umfassenden Sinn als das materielle Strafrecht, das ist die Summe der strafbewehrten Verbots- und Gebotsnormen, und als Strafvollzugs-Recht.
3. Über Strafrechtsreform zu Nicht-Juristen zu sprechen, erscheint mir doppelt wichtig, weil kaum ein Gesetzgeber Reformen gerade auf diesem Rechtsgebiet unternehmen wird, wenn er dabei den Willen einer großen Wählermehrheit gegen sich weiß.
4. Das als Gegebenheit anerkennen hindert mich nicht, vom Gesetzgeber zu fordern, weil ich das als seine Aufgabe begreife, das Recht entsprechend dem Wissensstand seiner Zeit zu gestalten, zu reformieren – auch, wenn er damit dem sogenannten Volks-empfinden vorauseilt. Daß diese Forderung nicht utopisch ist, zeigt, beispielsweise, die Entscheidung des englischen Parlaments vom Juli 1965, die Todesstrafe abzuschaffen – nachdem noch ein halbes Jahr vorher eine Umfrage eine Bevölkerungsmehrheit von 70 Prozent für die Beibehaltung der Todesstrafe ergeben hatte. Die dort 1965 für nur fünf Probejahre abgeschaffte Todesstrafe gehört seit 1970 endgültig der englischen Rechtsgeschichte an.
5. Schließlich: Kein Gesetzgeber kann auf Dauer sich leisten, einen in der Volksmeinung breit gewordenen Reformwillen zu mißachten. Wie also, um einer wirklichen Strafrechtsreform den Boden zu bereiten, die Reformimpulse sich auch an die Basis richten müssen, so werden, um die Reform zu betreiben, die Impulse hierzu auch von der Basis kommen müssen.
6. Ich kann in diesem Vortrag weder eine systematisch perfekte Kritik am weiten Feld des geltenden Strafrechts liefern noch ein perfektes System einer wirklichen Reform aufzeichnen. Es wird zeitlich nicht einmal möglich sein, alle Aspekte dieser Thematik anzuleuchten, geschweige denn auszuleuchten.
Bitte, nehmen Sie darum, was ich Ihnen hier an Informationen und Überlegungen anbiete, als Versuch eines Denkanstoßes.
II. Das Schuldstrafrecht
1. Wenn man heute zum Arzt ginge und dieser bediente sich für Diagnose und Therapie eines Handbuchs aus dem Jahr 1871, würde man sich zumindest sehr wundern. Daß sozialbezogenes Handeln heute nach den Vorstellungen von 1871 erfaßt und der Handelnde nach hundertjähriger Rezeptur behandelt wird, erregt relativ wenig Aufmerksamkeit. Denken wir, beispielsweise, an die Aktualität des Abtreibungsstreits, zu der das Wundern und das Widersprechen geradezu alarmierend erscheinen, in ihren Wirkungen jedoch noch immer gering. Vor wenigen Monaten erst hat ein Schöffengericht einen Arzt wegen insgesamt drei Abtreibungen, das Stück für hundert Mark, Hilfeleistungen für verzweifelte Mädchen, zu eineinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung und vierjährigem Berufsverbot verurteilt. Der Arzt hatte sich, laut Richterspruch, „in der Hauptverhandlung völlig uneinsichtig verhalten“ nicht also bereut, sondern gar einen hundertjährigen Paragraphen als ein abscheuliches Unterdrückungsinstrument geschmäht. Zur selben Zeit hat ein anderes Gericht einen anderen Arzt wegen eines Schwangerschaftsabbruchs zu einjähriger Gefängnisstrafe und Berufsverbot verurteilt. Beispiele dafür, wie unverdrossen unabsetzbare Amtsjuristen das hundertjährige Jubiläum der am stärksten umstrittenen Strafrechtsnorm zelebrieren, unangefochten von langer und breiter Reformdiskussion. Unser hundertjähriges Strafgesetzbuch also ist voller Leben und entfaltet seine Schrecken wie eh und je.
2. Dieses Strafrecht lebt, wie die Theologie, von Glaubenssätzen.
Der erste Glaubenssatz heißt: Schuldprinzip.
Die Große Strafrechtsreform-Kommission hat im Auftrag des Bundesjustizministers von 1954 bis 1962 den kurz als E 62 bezeichneten Entwurf eines Strafgesetzbuches produziert, im doppelten Sinn ein Jahrhundertwerk: gemeint als völlige Neukodifizierung, die nunmehr auf unabsehbare Zeit den Kodex von 1871 ersetzen sollte; mit mehr Recht aber wohl als Jahrhundertwerk zu preisen, weil dieser Entwurf dokumentiert, wie seine Verfasser ihr hundertjähriges Traditionsgut verinnerlicht haben. Der Entwurf bekennt sich zum Schuldstrafrecht und meint damit, so wörtlich: „daß die Strafe ein sittliches Unwerturteil über menschliches Verhalten enthält“ und voraussetzt: daß „dem Täter sein Handeln sittlich zum Vorwurf gemacht werden kann …, daß es menschliche Schuld gibt, daß sie festgestellt und gewogen werden kann… Der Begriff der Schuld ist im Volke lebendig. Ohne ihn gibt es kein Leben nach sittlichen Wertvorstellungen. Ohne sittliche Wertvorstellungen ist menschliches Leben aber nicht möglich. Auch die Wissenschaft vermag nicht der Überzeugung die Grundlage zu entziehen, daß es Schuld im Handeln der Menschen gibt. Neuere Forschungen geben dem Raum. Die Schuld kann auch festgestellt und gewogen werden … Es handelt sich dabei…, um einen sittlichen Wertungs-vorgang …, der gerade das eigentümliche Wesen des Richterspruchs ausmacht.“
Soweit aus der Begründung zum Strafgesetzbuch 1962. Dieses Zitat enthüllt zugleich den zweiten Glaubenssatz, der unser Strafrecht stützt: Hinter ihm und seinem Schuld-begriff stehen aus überpositiven Rechtssphären bezogene, gleichsam ewige, eherne „sittliche Wertvorstellungen“, Existenzvoraussetzung für alles „menschliche Leben“, und, wie wir hörten, “ „im Volke lebendig“. – Wie ich es sehe: ein verklausulierter Rückgriff auf göttliche Autorität als Quelle irdischen Rechts; der Gesetzgeber als ihr Prophet; der Richter mit dem „eigentümlichen Wesen“seines Spruches als – unabsetzbarer – Vollstrecker, der des Menschen Schuld erkennt und wiegt. Wie uns jüngste Ereignisse um unsere 218-Reform zeigen, ist auch der pontifex maximus stets zur Stelle, wenn der irdische Gesetzgeber Schwierigkeiten beim Begreifen des göttlichen Rechts zeigt. Mein Zitat aus der Entwurfsbegründung offenbart auch den dritten Glaubenssatz: daß keine Wissenschaft vermag, dem „sittlichen Unwerturteil über menschliches Verhalten die Grundlage zu entziehen“.
Im selben Zitat findet sich die Verkündigung des vierten Glaubenssatzes: daß die sittlichen Wertvorstellungen, die die Große Strafrechtsreform-Kommission in ihr eigenes Jahrhundertwerk aus jenem von 1871 eingebracht hat, im Volke lebten.
Schließlich taucht nicht weit von jenem Passus entfernt der fünfte Glaubenssatz auf: „Sinn der Strafe sei, die Schuld des Täters auszugleichen‘ und damit zugleich auch … die Rechtsordnung zu bewähren.“ Da haben wir wieder den überirdischen Bezug; das eherne Gesetz, das da ist, durch
„das eigentümliche Wesen des Richterspruchs“ unentwegt sich zu bewähren.
III . Sittlichkeit und Kriminalität
Besonders haben sich die „sittlichen Wertvorstellungen“, ohne die, wie wir vernahmen, „menschliches Leben nicht möglich“ ist, stets im sogenannten Sittenstrafrecht bewährt. Erlauben Sie mir dazu wenige kurze Illustrationen aus unserer höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Sie sollen einerseits das Transzendentale dieses Strafrechts gegenständlich machen, zum anderen auf eine erste Gegenposition hinlenken:
1. 1954 hatte der Zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs Wertvorstellungsschwierigkeiten. Darum rief er den Großen Strafsenat des BGH an und begehrte zu wissen: ob der Geschlechtsverkehr zwischen Verlobten stets unzüchtig sei. Das hohe Gremium gab folgenden Bescheid: Fraglich möge erscheinen, ob „das Gebot geschlechtlicher Zucht … ein Gebot der bloßen Sitte, der bloßen Konvention, oder ein solches der Sittlichkeit, des Sittengesetzes“ sei. „Normen des Sittengesetzes gelten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzu-nehmenden Ordnung der Werte …; ihr Inhalt kann sich nicht deshalb ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln.“ Weiter heißt es dort:
„Nun kann es aber nicht zweifelhaft sein, daß die Gebote, die das Zusammenleben der Geschlechter und ihre geschlechtlichen Beziehungen grundlegend ordnen und die dadurch zugleich die gezollte Ordnung der Ehe und Familie (in einem entfernteren Sinne auch die des Volkes) festlegen und verbürgen, Normen des Sittengesetzes sind und nicht bloß dem wechselnden Belieben wechselnder gesellschaftlicher Gruppen ausgelieferte Konventionalregeln. – Die sittliche Ordnung will, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist. Um seinetwillen und der Personen-haften Würde und der Verantwortung der Geschlechts-partner willen ist dem Menschen die Einehe als Lebensform gesetzt. . . Indem das Sittengesetz dem Menschen die Einehe und die Familie als verbindliche Lebensform gesetzt und indem es diese Ordnung auch zur Grundlage des Lebens der Völker und Staaten gemacht hat, spricht es zugleich aus, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich nur in der Einehe vollziehen soll und daß der Verstoß dagegen ein elementares Gebot geschlechtlicher Zucht verletzt. – Dieses Gebot gilt auch, und zwar in besonderem Maße, für die Verlobten . . .“
(Beschl. v. 17. 2. 54, JZ 1954, S08).
Die Folgerung aus diesen Wertvorstellungen war, daß die Mutter der zur Tatzeit schon hochschwangeren Verlobten – die den Mann, der noch sein Verfahren auf Befreiung vom Ehehindernis des Ehebruchs betrieb, bis dahin noch nicht hatte heiraten können – wegen des Verbrechens der schweren Kuppelei an ihrer Tochter zu bestrafen war. Dieser Weisspruch unserer höchsten irdischen Spruchinstanz ist noch heute geltendes Recht.
Der BGH hat ihn 8 Jahre später nicht nur bestätigt, sondern sogar noch intensiviert:
„Der Geschlechtsverkehr Verlobter, die den Willen zur baldigen Eheschließung haben, ist auch dann unzüchtig, wenn der Eheschließung ein Ehehindernis entgegensteht, das von einer rechts-staatlichen Ordnung aus anzuerkennen ist. Das gilt selbst dann, wenn das Hindernis behebbar gewesen und die Ehe bereits geschlossen worden wäre, die rechtzeitige Behebung jedoch aus Unkenntnis unterlassen worden ist.“
(Urt. v. 9. 3. 67, NJW 1962, 1403.)
Einen Auslaß aus diesem seinen Sittengesetz will der BGH nur einem solchen Paar gewähren, dem etwa durch Rassengesetzgebung die Eheschließung verboten ist.
Schon 1902 mokierte sich Karl Kraus über „jene richterliche Naivität, die jedesmal in grenzenloses Staunen gerät, so oft die Fabelkunde in den Gerichtssaal dringt, daß es in der weiten Welt so etwas wie außerehelichen Geschlechtsverkehr gebe“
2. Am Fall des Arztes Dr. Dohrn, der 1958/59 mehrfache Mütter durch Tubenligatur vor weiteren ungewollten Schwangerschaften bewahrt hat, hatte das Oberlandgericht Celle die nicht medizinisch indizierte Sterilisation als sittenwidrig erkannt, weil sie, so wörtlich: „im Falle der Gefälligkeitssterilisation sogar einer ungehemmten Genußsucht Vorschub“ leiste
(Beschl. v. 23. 11. 62, NJW 1963, 406).
3. Noch immer wollen es die hierzulande empfangenen Wertvor-stellungen, daß die Verbreitung von Pornographie bestraft wird. Zwar hat der BGH „Fanny Hill“ ihres Anruchs der „Unzüchtigkeit“ entkleidet, doch findet sich in diesem liberal gepriesenen Urteil vom 22. 7. 69 auch folgender Passus: § 184 StGB hat „den Zweck, die Allgemeinheit vor gewissen Äußerungen der Geschlechtlichkeit zu schützen, in bezug auf Schriften also dem erwachsenen Menschen vor allem die Notwendigkeit der Entscheidung zu ersparen, ob er sie lesen will oder nicht“
(NJW 1969, 1818).
4. Lassen wir schließlich die Reformjuristen von 1962 eine eigene Illustration ihrer lebensnotwendigen sittlichen Wertvorstellungen beitragen: In ihrem Entwurf haben sie den mittlerweile aufgehobenen Straftatbestand des Ehebruchs nicht nur beibehalten. Sie haben sogar die Strafandrohung auf bis zu einem Jahr Gefängnis erhöht, wo noch der Gesetzgeber von 1871 sich mit maximal einem halben Jahr begnügt hatte. Offenbar waren sie von dem im Volk lebendigen Strafbedürfnis für Ehebruch – ein Straftatbestand, der von jeher als Rache- und Erpressungs-instrument berücksichtigt war – so überzeugt, daß sie sich für die Verdoppelung des Strafrahmens mit der knappen Begründung begnügten: „Das Höchstmaß der Gefängnisstrafe ist mit Rücksicht auf die Bedeutung des verletzten Rechtsguts erhöht.“ Und sie erkannten in dieser Strafvorschrift „eine sittenprägende und sittenerhaltende Wirkung“.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal Karl Kraus aus dem Jahr 1902 zitieren:
„Sittlichkeit und Kriminalität: Die große Gelegenheit, ihre Unverträglichkeit zu zeigen, ist der Ehebruchsprozeß… Denn die Heiligkeit der Ehe würde, sobald sie aufhörte, Rechtsgut` zu sein, beträchtlich gemehrt werden. Sie wäre nicht mehr von jener unseligen Heuchelei beleidigt, unter der Menschen fortleben, die längst erkannt haben, daß sie, als sie, in die Ehe traten‘, keinen andern, Fehltritt` mehr begehen konnten . . .“
Damit schon ist eine erste Gegenposition umschrieben: Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, Sitte oder Sittlichkeit strafbewehrt zu kodifizieren. Es darf nicht Aufgabe des Richters sein, seine Moralvorstellungen strafrechtlichen Verurteilungen zugrunde zu legen. Der Staat ist keine Anstalt zur Beförderung der Moralität ( Schopenhauer). Impluralistischen, laizistischen Rechtsstaat kann für den staatlichen Strafeingriff in die Freiheit der Person, in ihre allgemeine Handlungsfreiheit, in ihr Vermögen nur ein solches Maß von sozialschädlichem Handeln in Betracht kommen, das Pönalisierung als unabweisbar erscheinen lässt. Diese Schranke strafrechtlichen Eingriffs jedenfalls dürfen wir der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entnehmen: Der „allgemeine Freiheitsanspruch des Bürgers gegenüber dem Staat“ darf von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist (BVerfGE 19, 342, 349). Denn, so sagt der Hüter der Verfassung an anderer Stelle: Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit fordert, daß der einzelne vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt (BVerfGE 30, 250, 263). Gesetze, die nach diesen Verfassungsmaßstäben Nichtstrafwürdiges noch als strafrechtliches Unrecht vertypen, sind daher wegen Verstoßes gegen Art. 1 GG, gegen die unantastbare Menschenwürde, verfassungswidrig
(vgl. Sax in: Grundrechte III/2, S. 933).
IV. Überpönalisierung
Dieses Verfassungsrecht begründet zugleich eine zweite Gegenposition zum geltenden Strafrecht:
Der Gesetzgeber ist längst der Versuchung erlegen, daß Strafrecht unter Verlust aller Maßstäbe auszuufern. Das Geflecht strafbewehrter Gebots- und Verbotsgesetze wird immer engmaschig, wird erstickend. Auch der Fachjurist vermag diese Inflation von Strafrecht nicht mehr zu über-blicken. Ich erinnere mich, zum Beispiel, wie ich verwundert einmal der Zeitung entnommen habe, daß man sich auch nach der Zündholz-Verordnung strafbar machen kann.
Auch hierzu greife ich zurück auf den E 62: Der Gesetzgeber von 1871 hat sich mit 370 Strafparagraphen begnügt. Die Reformjuristen von 1962 wollten unser Strafgesetzbuch auf 484 Paragraphen „verbessern“.
Die „Überpönalisierung“ zeigt sich in voller Größe im sogenannten Nebenstrafrecht. Der unentwegt produzierende Gesetzgeber versieht jede Neuschöpfung mit neuen Straftatbeständen. Und wo er Altes durch Neues ersetzt, erweitert er den Strafrechtsteil. Als Beispiel: Wo dem Führerstaat in der Ausländerpolizeiverordnung von 1938 noch ein Vergehen statt Bestand und eine Übertretungs-vorschrift zur strafrechtlichen Sonderbehandlung von Ausländern ausreichten, da hat der Gesetzgeber von 1965 gleich 7 Straftatbestände und noch einmal 10 Ordnungswidrigkeiten in sein Ausländergesetz hinein liberalisiert. Für einen Gesetzgeber, der eine Liberalisierung des Rechts nach der verfassungsrechtlichen Devise „Im Zweifel für die Freiheit“ in sein Programm genommen hat, eine wahrlich schizophrene Situation!
Ich denke, daß historische Vorgänge, hier wie in anderen Ländern, lehren, daß mit der Ausrufung des Strafrechts eine allgemeine Abstumpfung der Norm-Adressaten einhergeht und ihre Unempfänglichkeit für neue Befehle bewirkt, welche, gleichsam infektiös, zu Rechtsmißachtung und schließlich zu Rechtsfeindlichkeit führt.
Das gilt sowohl für die Vermehrung als auch für die Verschärfung des Strafrechts. Schon in dieser Weise wirkt quantitative wie qualitative Strafrechtsvermehrung kriminogen. Hinzu kommt ein weiteres Moment: Zunehmende Repression erzeugt zunehmend Verfolgungsängste, in der Folge fortschreitende Affektstauungen mit der Tendenz, in strafbarem Verhalten sich zu entladen. Die psycho-analytische Wissenschaft weiß seit langem, daß verdrängte Angst als Gewaltkriminalität ausbrechen kann; als zwanghafte Reaktion, einen befürchteten Angriff durch eigene Gewalttat gegen einen Dritten abzuwenden: „Ich strafe, um nicht bestraft zu werden.“
V. Resozialisierung
Das Schuld-Vergeltungs-Denken wird heute überwiegend modernistisch verbrämt: Das Etikett heißt „Resozialisierung“. Die Strafe soll die Besserung des Täters bewirken, soll ihn zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft bringen, wobei diese Strafzweck-Theorie stillschweigend davon ausgeht, der Täter hätte sich durch seine Tat oder seine Lebensführung aus der Gesellschaft ausgegliedert. Die Erwägung, die Gesellschaft habe ihr zum Täter gewordenes Mitglied eliminiert, findet hier keinen Platz.
Zum Zwecke seiner Resozialisierung wird der Täter eingesperrt. Einsperrung bedeutet auch 1972 noch: den Häftling einem sogenannten besonderen Gewaltverhältnis zu unterwerfen, das heißt, ihn in einen rechtlosen Zustand zu versetzen. Dafür gibt es keine Gesetzesgrundlage, wes-wegen die Juristen wieder ins juristische Jenseits greifen, woraus sie die Rechtfertigung „Gewohnheitsrecht“ beziehen.
Die Resozialisierung beginnt mit dem Verlust der Anrede „Herr“ und der demütigenden Aufnahmeprozedur, der totalen körperlichen Entblößung, der Inspektion der Körperöffnungen, der Zwangs-einkleidung in die allein auf Häßlichkeit ausgerichtete Anstaltstracht. Die Unterbringung stellt an Leidensfähigkeit sehr gehobene Ansprüche, die Entwürdigung wird permanent: Kübel offen im Raum; Mahlzeit, Stuhlgang, Onanie finden in Gesellschaft statt.
Eine sogenannte Dienst- und Vollzugsordnung, einzige Regelung unseres Strafvollzugs noch heute, gibt u. a. folgende Rezeptur, um den Gestrauchelten auf ein späteres Leben in Selbstverantwortlichkeit und in einer freien, leistungsorientierten Gesellschaft vorzubereiten: Der Gefangene hat sich der Anstaltsgewalt zu fügen, den Anstaltsbediensteten mit Achtung zu begegnen, mit ihnen nur zu sprechen, wenn er dazu aufgefordert wird, die Bediensteten zu grüßen und dabei die Kopfbedeckung abzunehmen, sich zu erheben, wenn ein Bediensteter den Raum betritt, und eine ordentliche Haltung einzunehmen, nicht mit anderen Gefangenen zu verkehren und keine Geschenke zu geben oder zu nehmen.
Besuch darf der Gefangene wenigstens alle 6 Wochen empfangen, für mindestens 15 Minuten; wen, bestimmt der Anstaltsleiter; der Besuch wird überwacht; Übergabe von Gegenständen ist verboten. Mit wem der Gefangene schriftlich verkehren darf, bestimmt der Anstaltsleiter; wenigstens alle 2 Wochen darf er einen Brief oder eine Karte schreiben; alle Post wird überwacht, zensiert, nach Ermessen des Anstaltsleiters zurückgehalten. Durchsuchung des Gefangenen und seiner Sachen ist jederzeit zulässig. Befindet der Anstaltsleiter, der Gefangene habe gegen Pflichten, Sitte oder Anstand verstoßen, so begibt er sich in Richterfunktion und verhängt Hausstrafen, auch wenn wegen der-selben Sache gerichtlich bestraft wird; z. B. Arrest in einer Strafzelle mit Entziehung des Bettlagers, Entzug von Verpflegung, Entzug von Lektüre mit Ausnahme der Bibel, Entzug der Außenweltkontakte, Entzug der Innenweltkontakte, Entzug der Arbeit, Entzug der Einkaufsmöglichkeit, Entzug des Hofgangs.
Auf Begründung seines Strafbescheids kann der Anstaltsleiter verzichten. Rechtsbehelfsbelehrung ist nicht vorgesehen. Ohne Rücksicht auf etwaigen Rechtsbehelf werden Hausstrafen sofort vollstreckt. Die Strafe kommt ins Strafenbuch und wirkt sich alsdann gegen Vergünstigungen und vorzeitige Entlassung aus. Gewaltanwendung der Beamten gegen Gefangene liegt im Ermessen der Beamten nach ihren Ordnungsvorstellungen. Behandlung und Eingriffe durch den Anstaltsarzt können mit Gewalt erzwungen werden.
Der Gefangene ist zu jeder Arbeit, die ihm nach Art und Maß zugewiesen wird, verpflichtet. Denn es heißt: „Arbeit ist die Grundlage eines geordneten und wirksamen Strafvollzugs“ und: „Der Ertrag der Arbeit fließt in die Staatskasse.“ Doch: „Der Gefangene erhält eine Arbeitsbelohnung, wenn er leistet, was von ihm gefordert wird.“ Darauf hat er keinen Rechtsanspruch. Kranken-, Unfall-, Renten- oder Arbeitslosen-Versicherung steht ihm nicht zu.
Zur Arbeit kann die Anstaltsleitung den Gefangenen auch an Privatbetriebe, verdingen. Dazu liegt mir folgendes Zahlenbeispiel vor: Der Gefangene hatte für eine Metallwerkzeugfabrik in deren Schleiferei und Polierbetrieb gearbeitet, im Akkord, hatte von Januar bis Juni jenes Jahres 5540 Werkstücke poliert, wofür die Firma dem Staat einen Nettogrundlohn von 4525,87 Mark zu zahlen hatte, wovon dem Gefangenen jedoch nur 135,55 Mark ausgezahlt, ein gleicher Betrag gut-geschrieben wurde. Danach also hat der Gefangene dem Staat innerhalb von 6 Monaten 4254,77 Mark erarbeitet, monatlich mehr als 700 Mark. Der Gefangene wird außerstande gesetzt, seine Familie zu unterhalten. Seine harte Arbeit verhilft ihm nicht dazu, den mit seiner Tat angerichteten Schaden zu ersetzen. Vor einem Jahr habe ich einen Gefangenen nach 22jähriger Einsperrung von der Anstalt abgeholt. Er hatte in 22 Jahren harter Arbeit DM 600 Rücklage erspart. Nach der Entlassung verfolgen ihn seine Gläubiger. Er ist verpflichtet, die seiner Familie zu deren Lebensunterhalt gewährte Sozialhilfe zurückzuzahlen
(§92 a BSHG)
.
Bestraft wird unter dem Zeichen der Resozialisierung auch die Familie. Die Ehe ist suspendiert. Die Kinder unter 16 Jahren dürfen nicht in die Anstalt. Über die sexuelle Not, über den Persönlichkeits-abbau, über die völlige Entfremdung von einer sich ändernden Außenwelt ist schon viel geschrieben worden; und sehr viel darüber, daß unsere Zuchtanstalten Brutstätten neuer Kriminalität sind. Davon weiß wohl jeder oder kann es vielerorts nachlesen. Darum, denke ich, darf ich darauf verzichten, diese „Resozialisierung“ zu kommentieren.
Ich zitiere noch einmal aus dem Strafgesetzentwurf 1962: „Die Schuld kann auch festgestellt und gewogen werden “ Die Strafe bezweckt, daß auf den Täter eingewirkt wird, um ihn der Gemeinschaft wieder zu gewinnen und ihn gegen neue Versuchungen innerlich widerstandsfähiger zu machen“.
Wenn, wie ich sagte, die aus dem Entwurf 1962 zitierte Begründung des Strafrechts jedem Versuch rationaler Erfassung widersteht, so ist die Beschreibung des Strafzwecks mit „Resozialisierung“ als offenliegende Falschetikettierung mit Händen zu greifen. Richtig dagegen ist, daß unser Strafrechtssystem Kriminalität reproduziert. Es ist negative Kriminalpolitik.
VI. Kriminalpolitik
Kriminalpolitik als systematische Vorkehrung der Gesellschaft, Delinquenz zu verhüten, fehlt auch im Übrigen. Vorbeugungshaft, Vermehrung und Verschärfung von Strafbestimmungen haben nichts mit Kriminalpolitik zu tun. Die englische Kriminalgeschichte hatte ihre höchsten Kriminalitäts-ziffern, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts schließlich 36 verschiedene Taten mit der Todesstrafe bedroht waren, so schon der Diebstahl eines Penny. Nach Einschränkung und schließlich Abschaffung der Todesstrafe ist in England die Mordkriminalität nachweislich zurückgegangen.
Gleichartige Beobachtungen gibt es aus anderen Ländern.
Kriminalpolitik ist vielmehr Sozialpolitik. Diese Einsicht ist nicht neu. Franz von Liszt, zurecht einer der meist gerühmten deutschen Strafrechtsreformdenker, hat das schon am Jahrhundertanfang erkannt. Umso mehr wundert, daß an Konsequenzen aus dieser Einsicht wenig zu greifen ist. Die Vernachlässigung von Sozialpolitik ist umso bemerkenswerter, als die Bundesrepublik in dem Sozial-staatsgebot des Grundgesetzes einen der entscheidenden Sätze ihres Verfassungsrechts hat. Als unmittelbar verbindliche Norm verpflichtet es Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung. Die in unserem Staat inkorpierte Gesellschaft, vertreten durch das Parlament, steht danach unter dem Verfassungsauftrag zu aktiver Sozialpolitik.
Sie, die wirkliche Kriminalpolitik, müßte in den Kinderzimmern, Kinder-gärten, Kinderhorten beginnen; hätte in Kinderheimen, Schulen, Erziehungsheimen wie auch in Obdachlosen-Gettos anzusetzen. Ihr Inhalt wäre: soziale Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich, gleiche Sozialisations-bedingungen für alle Kinder in dieser Gesellschaft herzustellen. In den Versäumnissen an diesen Punkten sehe ich die Wurzeln unserer laut und oft beklagten Kriminalität. Die kriminogene Relevanz dieser Versäumnisse wird durch die Biographien von Gefangenen und Fürsorgezöglingen immer wieder belegt. Sie ist seit langem evident.
Jahr um Jahr werden für die Jugendkriminalität in der Bundesrepublik steigende Zahlen gemeldet. Soweit Kriminalität vor Gericht kommt, ist sie fast zur Hälfte Jugendkriminalität. Ihre rationale Erforschung und Behandlung steht noch in den Anfängen. Von einer an die Wurzeln gehenden Prophylaxe kann keine Rede sein. Sie wäre im Wesentlichen identisch mit der Aufgabe des Gesetzgebers, seinen Verfassungsauftrag zur Sozialstaatlichkeit ernst zu nehmen.
1. Bestandteil unseres Sozialrechts ist z. B. das Mutterschutzgesetz. Dieses gewährt der Mutter eine „Schonfrist“ von acht Wochen nach der Geburt ihres Kindes. Dann zwingt sie der Sozialstaat, ihrer Erwerbstätigkeit wieder nachzugehen, abzustillen und ihr Kind – zumindest tagsüber – wegzugeben. Etwa 10 Prozent der Kinder in der Bundesrepublik sind als Uneheliche von Anfang an ohne Elternhaus. 96 Prozent ihrer Mütter sind auf ihre Erwerbstätigkeit angewiesen.
Rund 17000 Kleinstkinder lebten 1964 Familienlos in den Säuglings-heimen unseres Sozialstaates. Über seine Beobachtungen in Säuglingsheimen berichtete 1967 als gründlicher Kenner der Verhältnisse Hellbrügge:
„Drastisch ausgedrückt. wird heute der Großteil der Säuglinge und Kleinkinder in der Massenpflege von der Allgemeinheit subventioniert und unter aller Augen systematisch und meist irreversibel intellektuell und sozial geschädigt. Viele Kinder werden – durch das System der Massenpflege, nicht durch die beteiligten Personen (!) – regelrecht schwachsinnig gemacht und dann als, geistig behindert jahrzehntelang der öffentlichen Sozialhilfe zugeführt.“
Rund 61 000 Kinder wuchsen 1964 in Kinderheimen heran, weitere rund 50 000 in Erziehungsheimen. Was Kinder da erleiden, beschreiben z. B. Heine Schoof, Erklärung, Frankfurt 1971; Lothar GothelRainer Kippe, Ausschuß, Köln 1970; Peter Brosch, Fürsorgeerziehung – Heimterror und Gegenwehr, Frankfurt 1971; Ulrike Marie Meinhof, Bambule – Fürsorge: Sorge für wen?, Berlin 1971; Jürgen Bartsch in: Paul Moor, Das Selbstporträt des Jürgen Bartsch, Frankfurt 1972.
Seit den großen entwicklungspsychologischen Forschungsarbeiten vor allem von Rene Spitz, Dorothy Burlingham zusammen mit Anna Freud, John Bowlby, Mary Ainsworth, Annemarie Dührssen, Wilhelm Keller zusammen mit Marie Meierhofer sind die Gefahren bekannt, die dem Kind in den ersten Lebensjahren aus der Ablehnung durch die Mutter, der Trennung von der Mutter, dem Fehlen einer ständigen Beziehungsperson, der Heimunterbringung erwachsen; assoziieren Begriffe wie etwa der des „Hospitalismus“ (Spitz) Bilder frühkindlicher Entwicklung zu psychischer und intellektueller Verkümmerung hin, die als Psychopathen, Neurosen, Psychosen (oder einfach als „kriminell“) zwar schon beschrieben, doch ätiologisch und in ihren sozialen Bezügen nicht erfaßt waren. Eine Fülle weiterer empirischer und theoretischer Arbeiten hat jene Forschungsergebnisse bestätigt. Neuere Studien zur Verwahrlosungsforschung und zur Kriminologie belegen. Sie und offenbaren ihre spezifische soziale Relevanz. Die Entbehrungen im sozialen Gefühlsaustausch während des frühen Kindesalters hinterlassen irreparable Verödungen der Kontaktfähigkeit und psychische und intellektuelle Verkümmerungen. Nach dem Ende des ersten Lebensjahres bereits erscheint eine Prägung auf eine stabile Mutterfigur nicht mehr möglich: „Hat das Kind in dieser Zeit nicht zu lieben gelernt, so wird es niemals lieben können“ (Schmalohr). Neben irreversiblen Intelligenzdefekten stehen psychische Störungen, die in der Psychopathologie als „gemütlose Psychopathie“ beschrieben werden. Spätere Verwahrlosung wird heute, ganz überwiegend monistisch, mit Störungen dieser frühen Lebensphase erklärt. Verwahrlosung wiederum ist regelmäßig Übergangsstadium zur Kriminalität; Kriminalität „frequentes Merkmal der Verwahrlosung“ (Hartmann).
Besonders eindrucksvoll zeigt Rene Spitz die sozialen Bezüge der defizitären Frühsozialisation auf: „Von der Gesellschaft aus gesehen, haben gestörte Objektbeziehungen im ersten Lebensjahr, seien sie abweichend von der Norm, ungeeignet oder unzureichend, Folgen, die das Fundament der Gesellschaft selbst gefährden. Es fehlt den Opfern gestörter Objektbeziehungen später selbst die Fähigkeit, Beziehungen herzustellen. Sie können sich nicht an die Gesellschaft anpassen. Sie sind emotionelle Krüppel; vor mehr als hundert Jahren hat die Jurisprudenz für solche Individuen den heute in Vergessenheit geratenen Begriff, moralinsanity (moralischer Schwachsinn) geprägt. Ihre Fähigkeit zu normalen menschlichen und sozialen Beziehungen ist gestört. Das Elend dieser Kinder wird in die Trost-losigkeit der sozialen Beziehungen des Heranwachsenden umgesetzt. Da ihnen die affektive Nahrung vorenthalten wurde, auf die sie Anspruch hatten, ist ihr einziges Hilfsmittel die Gewalt. Der einzige Weg, der ihnen noch offensteht, ist die Zerstörung einer Gesellschaftsordnung, deren Opfer sie sind. Das Kind wurde um die Liebe betrogen, dem Erwachsenen bleibt nur Hass.“
1. Die Biographien der in Verwahrlosung und in öffentliche Fürsorge geratenen Jugendlichen, wie sie der vorstehend zitierten Literatur entnommen werden können, belegen exakt diesen Text. Ich meine, daß dieser hier skizzierte Stand der Wissenschaft gebietet, Mütter zumindest im ersten Lebensjahr ihrer Kinder auf Kosten der Allgemeinheit bei Erhaltung ihres Einkommens und ihres Arbeitsverhältnisses von Erwerbstätigkeit frei zu stellen. Eine solche Änderung des Mutterschutzgesetzes wäre gerade von großer Kriminalpolitischer Bedeutung.
2. Aus dem Bericht von Hans Peter Bleuel, Kinder in Deutschland, München 1971, entnehme ich die folgenden Angaben: In der Bundesrepublik leben ca. 14 Millionen Kinder im Alter bis zu 14 Jahren. Eine Million von ihnen besitzt kein eigenes Bett. 1968 fehlten in der Bundesrepublik nach einer Erklärung des damaligen Familien-ministers Heck 25 000 Kinderspielplätze. Ende 1969 fehlten in der Bundesrepublik 30 000 Kindergärten. Nur jedes dritte Kind hatte die Aussicht auf einen Kindergartenplatz. In ähnlichen Verhältnissen haben wir Defizite an Hort- und Heimplätzen. Vorschulerziehung, als Notwendigkeit für die intellektuelle und soziale Entwicklung des Kindes heute von niemandem mehr in Abrede gestellt, ist bloßes Programm. Und weiter fehlen Kinder-gerechte Wohnungen, Kinder-gerechte Kliniken, Ganztagsschulen, Sonderschulen für die vielen verhaltensgestörten Kinder, die in den normalen Schulen Außenseiter werden müssen und dort in dieser Rolle fixiert werden.
Man sagt, die Gesellschaft in der Bundesrepublik zeichne sich durch ihre Kinderfeindlichkeit aus. Diese Zahlen und Vergleichszahlen vergleichbarer Länder belegen das.
Ich denke, nach dem Exkurs auf das Gebiet der Entwicklungspsychologie sprechen diese Daten unmittelbar selbst die unerfüllten Aufgaben einer sozialstaatlichen Kriminalpolitik aus: menschenwürdige und kinderfreundliche Sozialisations-Bedingungen zu schaffen, und zwar von der Geburt des Kindes an.
3. Dazu gehörte schließlich auch, die Kinder und Jugendlichen aus dem Minderheitenstatus zu emanzipieren, den sie heute noch, nach alter deutscher Sitte, erleiden. „Kinder in unserer Gesellschaft“ – so habe ich die treffende Bemerkung eines Pädagogen in Erinnerung – „sie sind das Proletariat auf kleinen Füßen.“ Sie genießen wenig Rechte in unserer Gesellschaft. Und wer schützt sie schon vor ihren Eltern und Lehrern? Als Objekte für die Abfuhr eigenen Aggressions-trieb sind sie außerordentlich bequem. Und gar zu bequem sind die althergebrachten Rationalisierungen in unserer noch immer autoritär strukturierten Gesellschaft, wie wir sie aus den Sprüchen kennen: „er braucht wieder einmal eine Abreibung“ – oder ganz schlicht und dabei einen allgemeinen Bewußtseinsstand offenlegend: „Strafe muß sein.“ Und dann schlägt die vom Vater unterdrückte Mutter oder der draußen unterdrückte Vater drauf. Und diese Sprüche wie diese Verhaltensmuster pflanzen sich fort. Und kein Betrachter braucht sich eigentlich mehr zu fragen, wie-so Eltern und Lehrer Kinder prügeln, Polizisten Passanten, Anstaltsbedienstete Anstaltsinsassen und eine ganze sich aufgeklärt wähnende Gesellschaft stereotyp die Barberei reproduziert: „Strafe muß sein!“
Das geprügelte Kind, wenn seine Zeit gekommen ist, wird die Gewalt austeilen, die es empfangen hat.
VII. Ergebnis
1. Betrachte ich, abschließend, dieses unser Strafrecht, dann kann ich es kaum noch anders würdigen als eine Fortsetzung der Hexenprozesse – im äußeren Instrumentarium verschieden, im Prinzip identisch: Die Frommen prügeln den Besessenen den Teufel aus den Leibern. Strafrecht und Strafen als Mittel zu erlaubter Abfuhr von Aggressionstrieben. Was ich an überkommenem Bestand hier aufzuzeigen suchte, das ist: die Flucht in die Irrationalität, um das Strafrecht zu begründen; handgreifliche Falschetikettierung, um eine Barbarei zu rationalisieren, um den Status einer vollständigen Entrechtung zu rechtfertigen, unter gewalttätiger Mißachtung so gut wie aller verfassungsrechtlich verbürgten Menschenrechte; die wissenschaftliche Reproduzierung von Kriminalität, weil Strafe sein und diese Rechtsordnung sich bewähren müsse;
und zu schlechterletzt vom obersten Rechtsprechungsgremium die Bergpredigt vom Sittengesetz; zu einem Fall, der keinen Strafrichter etwas anging; aus der Sprachlosigkeit, ob man über solche Matratzen-Schnüffelei der obersten Strafrichter weinen oder lachen soll, hilft die heitere Einsicht, daß kein Satiriker ihren unvergeßlichen Text schöner hätte erfinden können.
2. So folgt für mich:
a) Dieses Strafrecht ist unter keinem rationalen Gesichtspunkt zu rechtfertigen.
b) Kriminalität ist das Spiegelbild der gesellschaftlichen Zu-stände.
c) Der notwendige Gesellschaftsschutz erfordert
1. prophylaktische Kriminalpolitik,
2. Therapie für die Sozial-Schädlichen,
3. Wiedergutmachung des Schadens.
d) Demzufolge wäre unser Strafrecht abzulösen durch
1. Fürsorgerecht,
2. Wiedergutmachungsrecht.
e) Für Freiheitsentziehung ist nur ausnahmsweise Raum:
1. wenn Therapie das notwendig macht;
2. wenn durch freie Erwerbstätigkeit des Schädigers die gebotene Schadenswiedergutmachung nicht zu erreichen ist.
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