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Legali­sierte Telefon­über­wa­chung?

Die Pläne der Bundesregierung zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Aus: vorgänge Heft 1/ 1968, S. 2- 4

Gegen die von der Bundesregierung geplante Änderung des Art. 10 GG (BT-Drucksache V/1879) sowie gegen den Entwurf eines Gesetzes zu Art. 10 (BT-Drucksache V/1880) müssen schwerwiegende verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht werden:

I. Die Ergänzung des Art. 10 GG soll nach der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs die „vollständige Ablösung” der auf diesem Gebiet bestehenden Sicherheitsvorbehalte der Alliierten durch „eine gleich geeignete Überwachung durch deutsche Behörden” ermöglichen. Es erscheint in hohem Maße zweifelhaft, ob die Alliierten, wie die Bundesregierung behauptet, zur „vollständigen” Ablösung ihrer aus der Besatzungszeit überkommenen Kontrollbefugnisse bereit sind. Jedenfalls hat die Bundesregierung außer allgemein gehaltenen Formulierungen hierzu bislang keine verbindlichen Erklärungen abgeben wollen. In der amtlichen Begründung zum Notstandsverfassungsentwurf wird im Gegenteil sogar eingeräumt, daß „bezüglich der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs in der Bundesrepublik Deutschland … die drei Mächte der Bundesregierung ihre Wünsche mitgeteilt” haben.

II. Der Entwurf eines Gesetzes zu Art. 10 GG läßt im übrigen erkennen, daß es der Bundesregierung in erster Linie nicht auf die behauptete Ablösung der alliierten Kontrollbefugnisse ankommt, diese vielmehr als Vorwand dient, den Geheimdiensten der Bundesrepublik umfassende eigene Überwachungsbefugnisse im Bereich des privaten Nachrichtenverkehrs zu verschaffen. Der auf Art. 5 Abs. 2 Deutschlandvertrag gestützte alliierte Vorbehalt hat nämlich nach einhelliger Auffassung ausschließlich militärischen Charakter und darf auf politische, insbesondere Staatsschutzbedürfnisse nicht erstreckt werden. Die durch die Telefonabhöraffäre bekannt gewordene Praxis deutscher Organe, durch Einschaltung der Alliierten zu Staatsschutzzwecken Telefonkontrollen auszuüben, ist durch die alliierten Vorbehaltsrechte nicht gedeckt und wegen Verstoßes gegen Art. 10 GG eindeutig verfassungswidrig.

Der Gesetzgeber ist in jedem Fall gehalten, eine unseren Verfassungsprinzipien entsprechende Regelung zu schaffen, unabhängig davon, wie weit die Tragweite der alliierten Vorbehalte reicht und ob die Alliierten zur Ablösung bereit sind. Der Entwurf des Gesetzes zu Art. 10 GG soll offenkundig dazu dienen, die großzügige Praxis westdeutscher Verfassungsschutz- und Staatssicherheitsorgane zu legalisieren oder zu erweitern und eine Brief- und Fernmeldeüberwachung unabhängig von den Alliierten zu ermöglichen.

1. Bei dem Gesetz zu Art. 10 GG stehen im Vordergrund Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses im vorprozessualen Bereich zur Erleichterung der Arbeit der Verfassungsschutzämter und Nachrichtendienste im Interesse des Staatsschutzes. Der Katalog der Straftaten, deren Verdacht nach Art. 1 § 2 Überwachungsmaßnahmen auslösen kann, umfaßt u. a. hochverräterische Handlungen (§§ 80, 81, 83 StGB), landesverräterische Handlungen (§§ 100—100 b, 100 d Abs. 1 und § 100 e StGB) sowie Straftaten gegen die Landesverteidigung (§§ 109 e bis 109 g StGB), sämtlich also Straftatbestände, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz — unabhängig von ihrer politischen Zweckmäßigkeit — nicht nur im Rahmen einer Reform des politischen Strafrechts dringend überprüfungsbedürftig ist. Vergegenwärtigt man sich, daß allein 1965 fast 50 Prozent der zumeist durch Informationen des Verfassungsschutzes ausgelösten Ermittlungsverfahren in politischen Strafsachen eingestellt werden mußten, wird die politische Tragweite der gesetzlichen Ermächtigung in vollem Umfang deutlich.

2. Bedenken gegen § 2 des Gesetzentwurfs ergeben sich insbesondere aus verfassungsrechtlichen Gründen. Diese Bestimmung ermächtigt nämlich nicht nur zu Überwachungsmaßnahmen gegen den Verdächtigen, sondern bietet zugleich die Rechtsgrundlage zu Eingriffen in den Brief-, Post- und Fernmeldeverkehr unbeteiligter Dritter, sei es, daß z. B. durch Überwachung des Telefonanschlusses eines Verdächtigen alle ankommenden oder abgehenden Gespräche abgehört werden oder daß der Anschluß eines Dritten, den der Verdächtige mitbenutzt, dem Verfassungsschutz zugeschaltet wird. Es liegt auf der Hand, daß damit auch die Befugnis begründet werden kann, Anschlüsse von Betrieben oder sogar von politischen Organisationen, in denen ein Verdächtiger beschäftigt ist, zu kontrollieren. Maßnahmen dieser Art bedeuten einen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Intimsphäre. Hierzu gehört, wie der Bundesgerichtshof in einer Grundsatzentscheidung zur Frage der Rechtmäßigkeit heimlicher Tonbandaufnahmen festgestellt hat (Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bd. 27, S. 284 ff, 286 f) „auch die Befugnis des Menschen, selbst darüber zu bestimmen, ob seine Worte einzig seinem Gesprächspartner, einem bestimmten Kreis oder der Öffentlichkeit zugänglich sein sollen, und erst recht, ob seine Stimme mittels eines Tonträgers festgehalten werden darf”. Der Bundesgerichtshof trifft auch in seiner weiteren Begründung den Kern der Problematik, wenn er ausführt: „Eine entscheidende Verkümmerung des Menschen in der Entfaltung seiner Persönlichkeit würde es aber bedeuten, wenn der Teilnehmer eines Gesprächs befürchten müßte, ohne sein Wissen auf jede Wendung eines Gesprächs, ja auf den Klang seiner Stimme mit allen Besonderheiten und Unvollkommenheiten festgelegt zu werden. Mit dieser Befürchtung wäre untrennbar das Gefühl ständigen Argwohns und Mißtrauens verbunden. Damit wäre der Raum für zur menschlichen Natur gehörende vertrauensvolle Auseinandersetzung mit dem Mitmenschen verbaut.” Vermag auch der Bundesgerichtshof im Falle einer (freilich rechtlich klar umrissenen) Notwehrsituation die volle Konsequenz aus diesen Sätzen nicht zu ziehen, so gilt gegenüber der staatlichen Gewalt der Schutz der Menschenwürde jedoch unbedingt.

IÜberwachungsmaßnahmen diesen Umfangs verstoßen auch gegen das rechtsstaatlich garantierte Übermaßverbot, weil der Eingriff in das Grundrecht des Art. 10 GG weiter ausgedehnt wird, als dies für die Untersuchung gegen den Verdächtigten erforderlich ist (vgl. Badura, Bonner Kommentar Art. 10 Rdnr. 57; Oehler, Postgeheimnis, Grundrechte II S. 604 ff, 617). Die amtliche Begründung hält diese praktisch unbegrenzten und unbegrenzbaren Befugnisse zu Eingriffen in den privaten Nachrichtenverkehr unbeteiligter Dritter „zur Verfolgung des mit der vorgesehenen Maßnahme erstrebten Zwecks” für unvermeidbar. Die von der Bundesregierung vorgeschobene Mittel-Zweck-Relation geht von einer für das Selbstverständnis einer rechtsstaatlichen Staatsordnung folgenschweren Fehlinterpretation der Bedeutung der Grundrechte im Verfassungsgefüge aus. Unter der Geltung des Grundgesetzes kann gerade nicht davon die Rede sein, daß die Grundrechte im Interesse einer abstrakten Staatsräson beliebig einschränkbar sein sollen, im Gegenteil, die Verfassungsentscheidung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung mit ihrer unbedingten Grundrechtsgarantie ergibt die verbindlichen Maßstäbe und setzt dem Staat seine Grenzen.

3. Untragbar ist Art. 1 § 3 des Entwurfs, wonach Beschränkungen „in bestimmten Bereichen des Post- und Fernmeldeverkehrs” angeordnet werden dürfen, „wenn dies geboten ist, um die Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland rechtzeitig zu erkennen und einer solchen Gefahr zu begegnen”. In der Regierungsbegründung heißt es zu dieser gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßenden Generalklausel in schöner Offenheit: „Diese Ermächtigung füllt eine im Entwurf 1964 noch offen gebliebene Lücke. . . . Diese Bereiche (in denen dem Bundesnachrichtendienst Sondervollmachten zur Überwachung zustehen) können aus Gründen der Staatssicherheit im Gesetz nicht näher konkretisiert werden”. Derart weitgehende Ermächtigungen sind verfassungswidrig. Es gehört zum gesicherten Bestand der rechtsstaatlichen Demokratie, daß das Parlament Herr des Gesetzgebungsverfahrens bleibt. Diesem Zweck dient Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach in jedem Gesetz, das die Bundesregierung zur Rechtssetzung ermächtigt, „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung” bestimmt sein müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat zur Bedeutung dieser Verfassungsgarantie festgestellt: „Das Parlament soll sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch entschlagen können, daß es einen Teil der Gesetzgebungsmacht der Regierung überträgt, ohne genau die Grenzen dieser übertragenen Kompetenzen bedacht und bestimmt zu haben. Die Regierung andererseits soll nicht, gestützt auf unbestimmte Ermächtigungen zum Erlaß von Verordnungen, an die Stelle des Parlaments treten” (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 1, S. 14 ff, 60). Gerade diese Grundsätze werden durch Art. 1 § 3 des Gesetzes in verfassungswidriger Weise eindeutig verletzt.

4. Schwere verfassungsrechtliche Bedenken müssen schließlich dagegen geltend gemacht werden, daß gegen Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis durch Staatsschutzorgane im vorprozessualen Bereich der Rechtsweg verschlossen sein soll. Damit wird der durch Art. 19 Abs. 4 GG grundrechtlich gesicherte umfassende und lückenlose Rechtsschutz gegenüber Verletzungen der öffentlichen Gewalt ausgeschlossen. Formell soll dieses Verfahren durch die Ergänzung des Art. 10 GG gerechtfertigt werden. Der Entwurf der Bundesregierung verkennt jedoch, daß dem Art. 19 Abs. 4, der einmal zu Recht „die Krönung des Rechtsstaats” genannt wurde, verfassungsstrukturelle Bedeutung zukommt: Er darf deshalb durch eine Verfassungsänderung, die — wie dargelegt — durch eine falsch verstandene Staatsräson motiviert ist, nicht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Es verstößt gegen diese verfassungsstrukturelle Bedeutung, daß dem Betroffenen nicht einmal nachträglich die gegen ihn durchgeführten Überwachungsmaßnahmen mitgeteilt werden sollen, um so die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnung im Rechtswege zu ermöglichen, während dies selbst bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, das in sich bereits durch stärkere rechtsstaatliche Sicherungen bestimmt wird, nach Art. 2 Ziff. 3 des Gesetzes zu Art. 10 GG (= Änderung des § 101 StfO) in jedem Fall zu geschehen hat.

Die Bundesregierung glaubt, trotz der Justizverweigerung bei derart schwerwiegenden Eingriffen in die Intimsphäre des Einzelnen eine ausreichende Sicherung rechtsstaatlicher Prinzipien dadurch zu garantieren, daß der zuständige Bundesminister monatlich von den Überwachungen eine aus drei Personen bestehende Kommission unterrichtet, die ihrerseits von einem aus fünf Bundestagsabgeordneten bestehenden Gremium berufen wird, sich aber nicht aus Bundestagsabgeordneten zusammensetzen muß. Es ist offenkundig, daß bei einem aus Gründen der Staatssicherheit geheim arbeitenden Überwachungsgremium, dessen Mitglieder im Unterschied zur „Richterlösung” keine Garantie für die erforderliche Unabhängigkeit bieten und zudem „nach Anhörung der Bundesregierung” bestellt und abberufen werden, von dem erforderlichen Rechtsschutz des Einzelnen schlechterdings nicht die Rede sein kann.

Mit der Verweigerung des gerichtlichen Rechtsschutzes verstößt die Bundesrepublik obendrein gegen die in der Menschenrechtskonvention völkerrechtlich übernommene Verpflichtung, derzufolge der Einzelne gegen hoheitliche Maßnahmen eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz einlegen kann (Art. 13 Menschenrechtskonvention). Der Entwurf läßt außer acht, daß mit dem Inkrafttreten der Menschenrechtskonvention die Regelung des Art. 19 Abs. 4 derart verstärkt ist, daß der Ausschluß des Rechtswegs eine Verletzung des Art.

13 Menschenrechtskonvention (und des Völkerrechts zugleich) darstellt, die vor den europäischen Instanzen geltend gemacht werden kann (vgl. Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, Grund-rechte I, S. 234 $, 274).

Die von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwürfe müssen daher aus den genannten Gründen insbesondere wegen Verletzung elementarer Verfassungsgrundsätze abgelehnt werden.

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