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Appell der HU an den Bundestag zum Telefonab­hör-­Ge­setz­ent­wurf

vorgänge 1/1968, S. 16-17

(vg) Der Bundesvorstand der Humanistischen Union hat an alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages einen Offenen Brief gerichtet, in dem die HU ihre Ablehnung des Regierungsentwurfs eines Telefonabhör- und Briefkontrollgesetzes (im Rahmen der Notstandsgesetzgebung) begründet. Dem Brief an die Abgeordneten ist ein verfassungsrechtliches Gutachten beigefügt, das nach Abstimmung unter den Experten der HU von Dieter Stenzel (s. Dazu Kommentar dieses Heftes) erarbeitet wurde. Der Offenen Brief an die Abgeordneten, der die Kernfragen zusammenfaßt, hat folgenden Wortlaut:

Sehr verehrte Frau Abgeordnete,
Sehr geehrter Herr Abgeordneter,

Verfassungsexperten der Humanistischen Union haben in den letzten Monaten den Ihnen vorliegenden Entwurf eines „Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses“ eingehender Prüfung unterzogen. Das zusammengefaßte Ergebnis erlauben wir uns anbei als Rechtsgutachten Ihrer Aufmerksamkeit zu unterbreiten. Die daraus ersichtliche Ablehnung des Gesetzentwurfs hat folgende Gründe:

  1. Der Zweck des Gesetzes soll laut amtlicher Begründung sein, die Kontrollvollmachten der Alliierten durch „eine gleich geeignete Überwachung von Seiten deutscher Behörden abzulösen“. Es ist schon höchst zweifelhaft und in keiner Weise belegt, ob die alliierten Schutzmächte zur vollständigen Aufgabe ihrer Kontrollbefugnisse bereit sind. Deren Kontrollrechte gelten überdies ausschließlich für die militärische Sicherheit, nicht aber für innenpolitische und zivile Staatsschutzbedürfnisse. Die Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte erscheint auch deshalb als ein Vorwand, um die Geheimdienste der Bundesrepublik zur selbständigen Überwachung des privaten Nachrichtenverkehrs zu ermächtigen.

  2. Der Gesetzentwurf will den Staatsschutzämtern und Geheimdiensten ohne richterliche Kontrolle die praktisch unbegrenzte politische Überwachung Verdächtiger ermöglichen. Nach den Erfahrungen der letzten 15 Jahre erweist sich aber der größte Teil der von Geheimdienstinformationen ausgelöste Gerichtsverfahren als ergebnislos. Das neue Gesetzt würde also jedes Jahr zehntausende unschuldiger Bürger einer umfassenden geheimpolizeilichen Bespitzelung ihres Privatlebens wehrlos aussetzen.

  3. Auch völlig unbeteiligte Dritte erlaubt § 2 des Entwurfs in die jeweiligen Kontrollmaßnahmen mit einzubeziehen. So kann nach dieser Bestimmung z.B. ein Telefonanschluß, den neben anderen Personen auch der Verdächtige mitbenutzt, dem Verfassungsschutzamt zugeschaltet werden. Damit könnte die politische Polizei die Telefonverbindungen ganzer Betriebe und politischer Organisationen, in denen ein Verdächtiger beschäftigt ist, überwachen.

  4. Nach der Regierungsvorlage sollen die Betroffenen auch dann nichts erfahren, wenn sich der Verdacht als unbegründet erwies oder der Untersuchungszweck erreicht ist. Die Grundlage des Rechtsstaates: der lückenlose Rechtsschutz des Bürgers gegenüber der öffentlichen Gewalt wäre damit hinsichtlich der Vertraulichkeit des privat gesprochenen oder geschriebenen Worts beseitigt. Die Verfassungsexperten der Humanistischen Union sprechen unter Hinweis auf Menschenrechtskonvention und Grundgesetz dem Bundestag die Berechtigung ab, eine solche Bestimmung überhaupt zu beschließen. Sollte sie Gesetz werden, hätte die Bundesrepublik vor dem europäischen Gerichtshof zu verantworten.

  5. Den ordentlichen Rechtsweg will der Regierungsentwurf durch die Kontrolle einer dreiköpfigen Prüfungskommision ersetzen, die von fünf Bundestagsabgeordneten „nach Ablösung der Bundesregierung“ berufen und abgesetzt wird. Dieser Kontrollausschuß müßte aus Gründen der Staatssicherheit geheim arbeiten und würde richterlicher Unabhängigkeit entbehren. Ein mit rechtsstaatlichen Normen vereinbarter Rechtsschutz für den von Überwachungsmaßnahmen betroffenen Bürger, wäre damit in keiner Weise erreicht.

Für den Fall, daß die Parlamentsmehrheit nicht ganz auf die fragwürdige Einschränkung des Brief- und Fernmeldegeheimnisses verzichten will, schlägt die Humanistische Union vor, die Regierungsvorlage im Interesse rechtsstaatlicher Mindestgarantien durch folgende Bestimmungen zu ergänzen:

  1. Ein dafür bestimmter Senat des zuständigen Oberlandesgerichts hat in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Beschränkung des Post,- und Telefongeheimnisses vorliegen.

  2. Nach Abschluß der Überwachungsmaßnahmen ist den Betroffenen davon Kenntnis zu geben.

  3. Hat die Überwachung den Verdacht nicht bestätigt, ist die Vernichtung des angefallenen Untersuchungsmaterials dem Verdächtigten amtlich nachzuweisen.

Wir bitten Sie, den vorstehenden Diskussionsbeitrag und das anliegende Rechtsgutachten in Ihre Überlegung mit einzubeziehen. Über eine Stellungnahme von Ihrer Seite würden wir uns freuen.

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