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Gefahr im Verzuge / Literatur zur geplanten Notstands­ge­setz­ge­bung (2. Teil)

Aus: vorgänge Heft 10/ 1963, S. 325- 327

Wer es, wie der Berichterstatter, für dringend notwendig hält, sich mit der bevorstehenden Notstandsgesetzgebung als wichtigster politischer und verfassungsrechtlicher Entscheidung seit der Ergänzung des Grundgesetzes durch die Wehrverfassung auseinanderzusetzen, der sollte sich auch das Buch des Kreuz-Verlages „Notstandsrecht und Demokratie — Notwendigkeit oder Gefahr?” beschaffen.

Dieses Buch stellt die Niederschrift eines Streitgesprächs dar, das am 14. Februar dieses Jahres zwischen Abgeordneten der drei im Bundestag vertretenen Parteien in Bonn stattfand. Es sind dies Dr. Adolf Bieringer (CDU), Ulrich Lohmar (SPD) und Wolfram Dorn (FDP). Außerdem nahmen an dem Gespräch der Herausgeber Manfred Nemitz, sowie als Staatsrechtler Prof. Dr. Helmut Ridder und als Verantwortlicher für die Dokumentation Dr. Helmut Simon teil. Die Gesprächsleitung hatte Horst Dahlhaus.

Die Diskussion, in der die Frage nach der Notwendigkeit einer Notstandsgesetzgebung als erstes angeschnitten wird, und die dann den jetzigen Regierungsentwurf behandelt, läßt die Stellungnahme der einzelnen Parteien, wenn auch nicht immer sehr deutlich, erkennen. Sie!wird in ganz vorzüglicher Weise durch eine ausführliche Dokumentation ergänzt, auf die am Schluß dieser Betrachtung noch eingegangen wird.

Bei der Frage nach der Notwendigkeit einer ergänzenden Notstandsverfassung bleiben die Diskussionsbeiträge aller Parteivertreter sehr an der Oberfläche. Bieringer (CDU) führt als erstes den Art. 5/2 des Deutschlandvertrages an, ohne aber näher darauf einzugehen. Obgleich er in Zusammenhang der Ablösung der Alliierten Vorbehaltsklausel auch einen Grund für die Schaffung von Regelungen gegen den inneren Notstand anführt, behauptet er, daß sich alle Fraktionen in dieser Frage einig seien, was Lohmar (SPD) nur indirekt bestreitet, wenn er formuliert „… nicht so sehr dagegen für den inneren Notstand”. Bieringer malt ferner als Begründung zur Notstandsverfassung wieder den „Buhmann” der subversiven Tätigkeit der Kommunisten an die Wand, von deren Gefahr Lohmar (SPD) bei den bereits bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten nicht sehr überzeugt ist. Der Abgeordnete Dorn (FDP) hält sich in der Diskussion zunächst sehr zurück und verbirgt seine Meinung hinter der Undurchsichtigkeit der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern. Er spricht sich aber dann für die Verabschiedung der Grundgesetzänderung vor der Behandlung der Einzelgesetze des Notstandspaketes aus, mit der Begründung, daß einzelne Punkte der Einzelgesetze sonst in ihrer Übereinstimmung mit dem GG problematisch wären. Dorn erinnert schließlich an den Artikel 48 der Weimarer Verfassung und betont, daß man die Notstandsverfassung nicht unter dem Aspekt der jetzigen politischen Kräfte sehen sollte. Die Gefahr eines Mißbrauchs von Bevollmächtigungen sei immerhin groß.

Die Herren Prof. Ridder und Dr. Simon führen die schon bestehenden Notstandsregelungen an und bezweifeln praktisch in ihren Ausführungen die Vordringlichkeit der Behandlung des Notverfassungsgesetzes. Besonders Ridder macht auf die Einzelgesetze aufmerksam und kommt zu dem Schluß, daß z. B. in den Sicherstellungsgesetzen fast nichts verfassungsmäßig ist. Er warnt vor der Bezahlung eines immer höheren Preises für die Abwehr von möglichen Gefahren bei fallendem politischen Interesse der Staatsbürger, was Dr. Simon auf die Formel bringt: „Je umfangreicher und wirksamer ein Staatsschutz, desto größer ist also die Gefahr, daß die Bildung innerer Abwehrkräfte erstickt wird.”

Zu Beginn der zweiten Gesprächsrunde bittet Dahlhaus die Teilnehmer um ihre Stellungnahme zum Regierungsentwurf. Dabei behauptet Dr. Bieringer (CDU), der Entwurf unterscheide sich von allen Notstandsbefugnissen anderer demokratischer Staaten dadurch, daß er weit von Globalvollmachten entfernt sei und bis ins Detail gehende Regelungen enthalte.

Dorn (FDP) widerspricht sich wohl selbst, wenn er zunächst den parlamentarischen Einfluß in Notzeiten als gesichert ansieht, dann aber kritisiert, daß die Ermächtigungsbestimmungen und der Vorschlag zum Erlaß von Notverordnungen auf dem Gesetzeswege entschieden zu weit gingen. Die Beseitigung der Grundrechte sei durch die Einschränkungen im Entwurf praktisch gegeben.

Der SPD-Abgeordnete Lohmar trägt das 7-Punkte-Programm seiner Partei vor (vgl. Materialien), das auch die Forderung nach Freiheit der Presse enthält.

Hierzu meint Prof. Ridder, was es denn helfe, wenn alle Grundrechte, also auch die der Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse, noch so sehr dem Buchstaben nach gesichert seien, wenn aufgrund des Sicherstellungsgesetzes für die Leistungen der gewerblichen Wirtschaft ermöglicht würde, daß die Druckereien nicht genügend Papier oder Maschinen bekämen, um Zeitungen herzustellen.

In der folgenden Diskussion über die Frage, wer über den Notstandsfall entscheiden solle, fällt wohl die wichtigste Äußerung des FDP-Dorn, daß nämlich das Notparlament die letzte Entscheidung haben müsse. Er fährt fort: „Wenn aber auch dieses Notparlament nicht mehr zusammentreten kann, dann ist nach unserer Auffassung eine derartige Krisenlage in der Bundesrepublik eingetreten, daß der Bundeskanzler und der Bundespräsident nicht mehr solche Vollmachten benötigen, die man ihnen hier zugestehen will. Dann nämlich ist aus dem Notstand die Katastrophe geworden.” Und etwas später heißt es bei Dorn: „Wir jedenfalls stellen uns vor, daß der Art. 115 a/3 (Vollmacht für Bundespräsident und Kanzler) restlos gestrichen wird.” Diese Formulierung sei schon deshalb gefährlich, weil man damit alles und nichts machen könne. Während diese Stellungnahme der FDP, von der man nur wünschen kann, daß sie davon nicht bei dem weiteren Verlauf der Gesetzgebung abgeht, verhältnismäßig klar ist, weicht der SPD-Abgeordnete Lohmar auf die direkte Frage von Horst Dahlhaus, ob er sich dem Vorschlag von Herrn Dorn, den Art. 115a/3 zu streichen, anschließen würde, aus, wenn er nur anführt, daß alle Notverordnungsmaßnahmen der Bundesregierung automatisch innerhalb einer festzusetzenden Frist vom Notparlament gebilligt werden müßten.

Im weiteren Verlauf des „Streitgesprächs” wird die Zusammensetzung und zeitliche Konstitution des Notstandsparlaments erörtert, wobei die Meinungen der einzelnen Gesprächsteilnehmer keine Rückschlüsse auf den weiteren Weg dieser Frage zulassen.

Beim Thema Pressefreiheit, speziell beim inneren Notstandsfall, kann Dr. Bieringer auf mehrmaliges eindringliches Befragen von M. Nemitz keine Beispiele oder Fälle angeben oder konstruieren, in denen sich die CDU Maßnahmen gegen die Pressefreiheit vorstellen kann.

Nach Behandlung des Streikrechts kommen die Gesprächsteilnehmer zu ihren Schlußbemerkungen, in denen die Vertreter der Parteien ihren Willen zur gemeinsamen Arbeit bekennen und ihren Bemühungen die besten Absichten unterstellen.

Betrachtet man rückwirkend diese Diskussion und die Argumente ihrer einzelnen Teilnehmer, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die in Aussicht genommenen Regelungen im Entwurf der Bundesregierung zumindest sehr gummiartig sind, insbesondere, wenn man die Ausdrücke „Bei Gefahr im Verzuge”, „Stehen der Beschlußfassung des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegen”, „Erfordert die Lage ein sofortiges Handeln”, „Erfordert die Lage unabweisbar ein sofortiges selbständiges Handeln” und „Einer Zustimmung bedarf es nicht, wenn die Lage unabweisbar einen sofortigen Einsatz dieser Art erfordert” betrachtet.

Ferner ist die von einigen Abgeordneten angestrebte Sicherung der Verantwortung des Parlaments doch sehr zweifelhaft, wenn, wie hier in der Diskussion der Eindruck entsteht, klare Stellungnahmen von den Vertretern der Parteien durch Allgemeinumschreibungen vermieden werden.

Wenn dieses Buch hier dennoch wärmstens empfohlen wird, so geschieht das in der Hauptsache wegen der mit einem Begleittext von Herrn Dr. Simon besorgten Dokumentation, deren Umfang im Buch auch wesentlich größer ausfällt, als das eigentliche Streitgespräch.

Simon stellt an die Spitze die Normen des Grundgesetzes als Schutzobjekt der Verfassung und bringt deren wichtigste Artikel als Auszüge aus dem GG. Anschließend führt er einige wesentliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts an. Im zweiten Teil der Zusammenstellung sind die zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung in der Normalsituation wichtigen Gesetzestexte belegt. Dr. Simon beschränkt sich nicht nur auf die Artikel des GG, sondern geht auch auf Gesetzestexte des früheren Deutschen Reiches ein, um dem Leser Vergleichsmöglichkeiten zu bieten. Die wichtigsten Bestimmungen aus dem Strafgesetzbuch im Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Schutz gegen Verfassungsfeinde können dieser Dokumentation ebenso entnommen werden, wie die wichtigen Bestimmungen über die Befugnisse der Polizei in den Ländern Preußen und Bayern.

Dem Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes vom 27. September 1950 in seinem vollen Wortlaut läßt Dr. Simon eine ausführliche Betrachtung über den strafrechtlichen Schutz des Staates folgen (Politische Strafjustiz). So erwähnt er in diesem Rahmen, daß Rechtsanwalt Dieter Posser (Politische Strafjustiz aus der Sicht des Verteidigers, Verlag C. F. Müller, Karlsruhe) die Gesamtzahl der seit 1951 eingeleiteten Ermittlungsverfahren (im politischen Strafbereich) auf 100 000 schätzt. Allein aus der Kriminalstatistik für 1953—1956 ließen sich insgesamt 30 000 Fälle entnehmen, bei denen es aber nur zu einem Bruchteil zur Bestrafung gekommen sei. Kritiker beanstandeten vor allem, daß ausgerechnet für derartige schwere Delikte nur eine Instanz vorgesehen sei und daß im Interesse der Verfassungsschutzämter auch „Zeugen vom Hörensagen” zugelassen würden. Dr. Simon möchte mit dem ausführlichen Eingehen auf diesen Bereich deutlich machen, in welchem Umfange bereits im Vorraum des Staatsschutzes für die Abwendung eines inneren Notstandes gesorgt ist.

Der dritte Teil der Dokumentation befaßt sich mit der Vorbereitung auf die außerordentliche Situation. Hier ist die Wehrverfassung ebenso abgedruckt, wie das Bundesleistungsgesetz in der Fassung vom 27. September 1961. Hier steht auch der in Seiferts Anhang vermißte Entwurf zum Zivildienstgesetz (im Auszug).

In dem abschließenden Kapitel über den Staatsschutz bei Eintritt der Ausnahmesituation sind nicht nur die beiden Entwürfe von 1960 und 1962 abgedruckt, vielmehr gibt Dr. Simon auch einen geschichtlichen Überblick über das Notstandsrecht, wobei er wiederum zum Vergleich frühere gesetzliche Regelungen, so auch Art. 48 der Weimarer Verfassung, zum Abdruck bringt. Als Unterlage für die weitere Diskussion in der Notstandsgesetzgebung ist ferner der Art. 111 des Herrenchiemseer Grundgesetz-Entwurfs vom 24. August 1948 zu finden. Unter Ziff. 65 ist ein Auszug aus dem Protokoll der Bundestagssitzung vom 24. Januar 1963 (1. Lesung Entwurf 1962) aufgeführt und unter Ziff. 66 die Entschließung des DGB-Kongresses gegen jede Notstandsgesetzgebung vom Oktober 1962.

Nach der Resolution des Deutschen Presserates zur Notstandsgesetzgebung vom 11. Dezember 1962 bildet das Memorandum zur geplanten Notstandsgesetzgebung der theologischen Sozietät in Baden vom Februar 1963 den Abschluß der Dokumentation. Dieses Memorandum ist mit Änderungsvorschlägen zur Notstandsverfassung verbunden, die tatsächlich eine Diskussionsgrundlage für die geplante Ergänzung des GG bilden könnten. Es würde aber den Rahmen dieser Besprechung sprengen, wenn an dieser Stelle hierauf im einzelnen eingegangen würde.

Es verbleibt dem Berichterstatter die Feststellung, daß diese Dokumentation von Dr. Simon in die Hand eines jeden Bundestagsabgeordneten gehört, wenn er, sein Gewissen prüfend, den Auftrag seiner Wähler wahrnehmen will, in diesem schwerwiegenden Fall einer Ergänzung des Grundgesetzes seine Stimme in der rechten Form zu gebrauchen. Er sollte sich dabei von dem Wahlspruch leiten lassen, den Dr. Arndt in seinem Beitrag aufstellt: „Nie und nirgends ist ein Primat der Politik vor dem Recht zulässig.”

Jürgen Büscher

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