Publikationen / vorgänge / vorgänge 100

Die franzö­si­sche Revolution - zweihundert Jahre danach

Aus: vorgänge Nr. 100, (Heft 4/1989), S. 48 ff

Die Revolution ist tot. Es lebe die Revolution! Auf diese paradoxe Formel könnte man den Tenor der Feierlichkeiten und Gedenkreden bringen, die in diesem Jahre das Thema des Beginns der Revolution und ihrer Bedeutung aufnehmen. Denn die revolutionären Ereignisse von 1789 spielen im heutigen Frankreich keine Rolle als Vorbild für politische Rituale. Während François Mitterand 1981 seinen Wahlsieg dadurch gefeiert hatte, daß er zum Panthèon, dem in der Revolution eingerichteten Tempel der berühmten Franzosen, zog und dabei eine Inszenierung vorherrschte, die deutlich revolutionären Traditionen entlehnt war, übernahm er sieben Jahre später sachlich-kühl das Amt des Präsidenten. Auch die sozialistische Partei, die noch 1981 zumindest vage von qualitativen Veränderungen geträumt hatte, versuchte sich 1988 als staatstragende Kraft fern jener Veränderungseuphorie darzustellen. Bewahren und Sichern ging ihr dabei deutlich über Wandeln und Erneuern.
Dieser Bedeutungsverlust der Revolution von 1789 im politischen Leben der Gegenwart ist nicht zufällig. Denn sie hat schon lange ihre Rolle als politische Trennungslinie und als wissenschaftlicher Konfliktbereich ausgespielt. Im 19. Jahrhundert spaltete sich das Lager der durch Besitz und Bildung ausgewiesenen Notabeln noch in der unterschiedlichen Haltung zu den revolutionären Ereignissen. Zwischen den Legitimisten und Orleanisten, aber auch zwischen den Liberalen und Republikanern zog die jeweilige Einschätzung der Revolution einen tiefen Graben. Die einen lehnten die Revolution als Einbruch in eine tradierte und göttliche Ordnung überhaupt ab, die anderen bezogen sich lediglich auf das Werk der verfassungsgebenden Versammlung, während die Republikaner jedoch die Revolution insgesamt akzeptierten. Erst in der 3. Republik, d.h. nach 1875 trat die differenzierte Sicht der einzelnen Revolutionsphasen gegenüber einer prinzipiellen Bejahung zurück, die Clemenceau in die Formel gebracht hat: Die Revolution ist ein Block. Diese Einebnung von Unterschieden und der Rückgriff auf das gesamte revolutionäre Erbe diente freilich vor allem dem Ziel, gegen die weiterhin drohenden konservativ-reaktionären Kräfte in Heer, Kirche und Verwaltung alle Republikaner zu mobilisieren. Aber die Wahl des 14. Juli als Staatsfeiertag ab 1880 zeigte bereits, daß mit der Erwähnung der Revolution keineswegs das Erbe des Umsturzes beschworen werden sollte. Denn die Mehrheit in der Nationalversammlung besann sich an diesem Tag nicht etwa auf den Sturm auf die Bastille, sondern auf das Fest
der Föderierten, auf dem 1790 die verschiedenen Gegenden Frankreichs und die unterschiedlichen sozialen Gruppen ein Fest der Verständigung und der nationalen Einheit feierten. Ziel der Feiern war Konsensbildung, nicht jedoch die Dynamik der Veränderung zu begünstigen.
Wenn sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Konservativen auch mit der republikanischen Staatsform anfreundeten und die Monarchisten lediglich in der Action française fortexistierten, so war der politische Kampf um die Revolution keineswegs beendet. Denn innerhalb der katholischen Kirche, in der Antirepublikanismus sich mit einer Ablehnung der modernen Gesellschaft verband, gehörte die Verteufelung der französischen Revolution weiterhin zum Standardrepertoire. Da in Frankreich die konfessionellen Schulen auch nach der Trennung von Staat und Kirche weiterhin sehr einflußreich blieben, drangen die revolutionsfeindlichen Interpretationen in breite Bevölkerungsteile vor. Erst in den fünfziger Jahren verschwand die negative Sicht von 1789 aus katholischen Schulbüchern und machte einer ausgewogenen Darstellung Platz. Auch auf der Seite der sozialistischen und kommunistischen Parteien war den revolutionären Ereignissen kein neues Leben eingeflößt worden. Freilich bezog sich die 1906 gegründete sozialistische Partei positiv auf die Veränderungen in der Revolution und fand sich immer auch zu einem Bündnis mit den Republikanern bereit, wenn die Staatsform, Grundrechte und öffentliche Freiheiten zu verteidigen waren. Aber sie wollte die Revolution durch soziale und ökonomische Reformen vollenden. Doch für die Kommunisten blieb die französische Revolution unvollkommen, da sie weder die Tiefe noch die Breitenwirkung der Oktoberrevolution erreicht hatte. Für beide Linksparteien wurde 1789 im 20. Jahrhundert immer mehr zu einem sehr fernliegenden Ereignis, das kaum Aktualität besaß und zunehmend auch in der politischen Symbolik verdrängt wurde durch die Pariser Commune oder die bolschewistische Revolution.
Vollends nach dem 2. Weltkrieg sind die revolutionären Ereignisse am Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Zitaten-Schatz geworden, den sowohl rechte als auch linke Gruppierungen benutzen. Die in Algier putschenden Generäle etwa nannten ihren Zusammenschluß Wohlfahrtsausschuß, obwohl sie weder die Ziele der revolutionären Regierung der Jahre 1793 und 1794 noch ihre politischen Formen teilten. Die französische Revolution als politische Sprengkräfte entfaltendes Ereignis ist mithin tot.
Auch in der wissenschaftlichen Diskussion hat sie an Brisanz verloren. Darüber können auch die zahlreichen Bücher nicht hinwegtäuschen, die gegenwärtig auf dem Markt erscheinen. Die Zeit der Schulenbildung, für die die Einschätzung der Revolution ausschlaggebend war, ist vorbei. Die heftigen Konflikte, die sich die Anhänger von Danton mit denen von Robespierre lieferten, gehören der Vergangenheit an. Auch die letzte Kontroverse, in der Albert Soboul und Francois Furet in den sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre stellvertretend für zwei Theorieangebote sich bekämpften, findet in der aktuellen Buchproduktion nur ein schwaches Echo. Gegen Soboul, der in der Erklärung der Revolution auf marxistische Thesen zurückgriff und die Revolution als Ursprungsmythos Frankreichs pflegte, hat Furet die Elitentheorie gesetzt und lediglich eine Phase der Revolution als vorbildhaft für die Gegenwart ausgegeben. Für Soboul resultierten die revolutionären Ereignisse aus der Krise des Feudalsystems und wurden maßgeblich von Mitgliedern des Bürgertums getragen. Dagegen hat Furet die Konflikte innerhalb einer aufgeklärten Elitengesellschaft hervorgehoben und auf die Fusion von adeligen und bürgerlichen Mitgliedern in der Elite hingewiesen. Während für Soboul die Jakobiner mit Terreur und revolutionärer Regierung die notwendigen Schritte unternahmen, um die Revolution gegen die innere und äußere Konterrevolution zu retten, gehört für Furet die Jakobinerherrschaft zu den Überreaktionen der Revolutionäre, da sie das eigentliche Ziel. der Revolution, nämlich eine Rechts- und Verfassungsordnung bürgerlich-liberaler Prägung zu schaffen, negiert. Diese Kontroverse, die außerordentlich fruchtbar gewesen ist und zahlreiche empirische Arbeiten angeleitet hat, hatte eine mehr als historiographische Bedeutung. In ihr versuchte der Marxismus traditioneller Prägung sich der Angriffe einer an modernen sozialwissenschaftlichen Kenntnissen orientierten Kritik zu erwehren. Die Breitenwirkung, die dann die Thesen von Francois Furet erreichten, deutet auf den Ernst der Krise des französischen Marxismus in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hin.
Angesichts dieses breiten Bedeutungsverlustes der Revolution können in der Gegenwart nach Art der Historienmalerei Bildchen an Bildchen gesetzt werden. Der im Fernsehen nachgespielte Prozeß von Ludwig XVI. erregt allenfalls wegen der schlechten Qualität der Sendung, aber nicht wegen des nachgestellten Ereignisses Protest. Die Reklame für beliebige Artikel wird nunmehr mit der Trikolore geziert. Aber die Erinnerung an 1789 kann nicht allein aus kommerziellen Erwägungen erklärt werden. In die Feste und Ausstellungen gehen handfeste politische Überlegungen ein. In den letzten zehn Jahren ist eine Sicht der Geschichte Frankreichs, in der die Kollaboration unter der Vichy-Regierung und die Kolonialkriege weitgehend ausgeblendet war, heftiger, auch innerfranzösischer Kritik ausgesetzt worden. Gegen den Mythos der Résistance ist auf den Attentismus zahlreicher Franzosen und auf eine Politik der Vichy-Regierung verwiesen worden, die keineswegs nur das, von den Besatzungstruppen Erzwungene anordnete, sondern in der Verfolgungs- und Rüstungspolitik deutlich darüber hinausging. Ja, Vichy wurde nicht mehr als Ausnahme in der historischen Entwicklung betrachtet, sondern seine historischen Wurzeln wurden bloßgelegt. Der israelische Historiker Z. Sternhell hat diese – unter dem berechtigten Protest seiner französischen Kollegen – sogar im Linkskatholizismus, aber auch im revolutionären Syndikalismus gesucht. Damit rückten nicht nur die „Verräter“ des Jahres 1940 auf die Anklagebank, sondern ganze Teile der politischen Kultur Frankreichs. Diese öffentliche Debatte, die vor allem von den um Aufmerksamkeit buhlenden Pariser Intellektuellen angeheizt wurde, hat jedoch weithin vergessen, daß der Anteil von Widerstand und Kollaboration in der Zwischenkriegszeit bereits lokal und regional differenziert aufgearbeitet war und daß auch eine Interpretation von Vichy in der Folge der gesellschaftlichen Krise der Zwischenkriegszeit keine Neuigkeit ist. Aber in dieser Auseinandersetzung spiegelt sich doch wieder, wie der Konsens über die nationale Geschichte brüchig wird und einzelne Epochen und Ereignisse diskussionswürdig und besetzt sind.
Eine Neubelebung der kolonialen Vergangenheit Frankreichs, vor allem des Algerienkrieges, ist besonders von Seiten derjenigen Kräfte erfolgt, die den deutschen Genozid verharmlosen und die Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nazis in eine Reihe mit dem Völkermord in den Kolonien stellen wollten. Bekanntestes Beispiel für diese Aufrechnung war der Verteidiger von Klaus Barbie, Vergès, der diese Konstruktion seiner Verteidigung zugrundelegte. Dieser Hinweis auf die Greuel des Algerienkrieges hatte in Frankreich um so größere Wirkung, als diese wenig angesprochen werden und als die öffentliche Debatte über die Kriegsjahre deutlich verhalten geführt wird.
Auf dem Hintergrund dieser Infragestellung der nationalen Geschichte kann die französische Revolution von 1789 einen Bezugspunkt dienen, auf den sich die Mehrheit der Franzosen verständigen kann. In der Feier der Geburtsstunde des modernen Frankreich, der Menschen- und Bürgerrechte und der kulturellen Mission Frankreichs, kann die Bedeutung von Vichy und vom Kolonialismus relativiert oder gar verdrängt werden. Die Erfolgsgeschichte kann die der Niederlagen verdrängen, die Einheit die der Spaltungen. In diesem Kontext gewinn die bereits erwähnte Fernsehsendung dann auch ihre Bedeutung. Durch sie kann das heutige Publikum die Enthauptung von Ludwig XVI. rückgängig machen und die nationale Geschichte von all jenen Teilen reinigen, die heute skandalös oder trennend wirken. Aber die Erinnerung kann auch eine Rolle spielen in der Perspektive des europäischen Binnenmarktes. Bekanntlich hat bei dem Wahlkampf zwischen Mitterand und Chirac die Vorbereitung Frankreichs auf dieses Ziel im Mittelpunkt gestanden. Offensichtlich schienen sich beide Kandidaten darin einig zu sein, daß – wenn auch mit anderen Akzentsetzungen – ein Modernisierungsschub Frankreichs notwendig sei, um die Herausforderung des geeinten Europas annehmen zu können. Nationales Pathos und mobilisierende Parolen vermischten sich im Wahlkampf und vermischen sich auch heute in Politikerreden, die versuchen, der französischen Gesellschaft mit Europa ein neues Ziel zu stecken. Diese Perspektive ruft aber auch Angstreaktionen hervor, wirkt offensichtlich besonders dort beunruhigend, wo die Wettbewerbsbedingungen französischen Betrieben ungünstig sind oder die Abschließung nach außen besonders stark ist.
Angesichts dieser Aussicht, die keineswegs durchweg rosig ist, bietet die französische Revolution die Möglichkeit, die „Vitalität der Nation“ in einer Stunde der Bewährung zu exaltieren, vermeintlich „nationale“ Tugenden wie Beharrlichkeit, Unternehmungsgeist aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu verlängern und damit eine positive Grundstimmung zu erzeugen. Daß dies alles und vor allem der unkritische Rekurs auf nationale Werte kaum mehr als Kosmetik sein kann, dürfte aber auch den hellsichtigen unter den Politikern deutlich sein. Eindeutig beflügelnde Wirkung für eine Politik der Demokratisierung kann die Erinnerung an 1789 aber in der Politik gegen die Xenophobie haben, die von dem Front National von Jean-Marie Le Pen vorgetragen und zur Erklärung aller Probleme der französischen Gesellschaft angeboten wird. In dem Rückgriff auf die Rechte der Bürger und Menschen könnte offensiv die Propaganda der Rechten abgewiesen werden. Die Revolutiön erhielte in diesem Kontext zumindest eine positive Aktualität.

nach oben