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Illegale Gewalt durch Polizei­be­amte

Aus: vorgänge Nr. 100 (4 Juli 1989), S. 7ff

Wenn ein Bürgerrechtler bei einem Symposium über „Polizei und Gewalt“ spricht, muß er damit rechnen, daß ihm unterstellt wird, es ginge ihm darum, die Polizei für die Zunahme von Gewalttätigkeiten in der gegenwärtigen Gesellschaft verantwortlich zu machen. Solche Versuche der einen Seite, dem anderen den „schwarzen Peter“ zuzuschieben, hat es gegeben; doch eine ernsthafte Analyse, zumal eines Wissenschaftlers, muß sich freimachen, vor jeglicher Form einer Verschwörungstheorie.
Deshalb werde ich nicht über illegale Gewalt „verdeckter Ermittler“ reden oder über das, was Lockspitzel anrichten können. Ich werde auch nicht das individuelle Fehlverhalten von Polizeibeamten zum Thema meiner Ausführungen machen, d.h. den Fall, in dem Polizeibeamte selbst Straftäter geworden sind. Straftaten gibt es in jeder Berufsgruppe. Sie dürfen – das ist meine Auffassung – dieser nie in ihrer Gesamtheit (also auch nicht der Polizei) zur Last gelegt werden. Allerdings gibt es das Problem der Ahndung solcher Straftaten und die Schwierigkeit der Aufklärung durch die Polizei angesichts eines Korpsgeistes, der in dieser Form heute allenfalls noch bei den Ärzten zu finden ist. Doch auch um diese Frage geht es mir nicht.
Ich greife im Rahmen dieses Statements und der begrenzten Zeit, die mir eingeräumt wurde, nur einen Fragenkomplex heraus. Den rechts-technisch unscharfen Begriff „illegale Gewalt durch Polizeibeamte“ beziehe ich auf Grenzüberschreitungen durch die Polizei.

Ich frage: In welchem Umfang trägt fehlerhaft oder rechtsmissbräuchlich angewandte hoheitliche Gewalt der Polizei dazu bei, Bürgerinnen und Bürger dazu zubringen, durch Anwendung physischer Gewalt strafbar zu werden?
An den Anfang meiner Erörterungen stelle ich die Feststellung, die Ministerialrat Lenhard aus dem Bayerischen Staatsministerium des Innern am 26. Juni 1986 auf einer Arbeitstagung auf der Polizei-Führungsakademie in Münster gemacht hat: „Besonders bedrückend ist, daß wir in Wackersdorf die Situation haben, daß zwischenzeitlich auch die anfangs „stillen Demonstranten“ mitagieren, indem sie Chaoten Wurfgeschosse zureichen. Wenn das Wurfgeschoß sein Ziel verfehlt, wird dies von allen bedauert, wenn es trifft, wird laut Beifall bekundet. Das hatten wir vor ein paar Monaten noch nicht“ (Protokoll, S. 24). Hier wird zumindest ein Problem dargelegt, das man zur Kenntnis nehmen muß, auch wenn man die Verallgemeinerung („alle“ stillen Demonstranten bedauern) nicht akzeptiert. Als bedrückend habe ich bei der Lektüre dieses Protokolls empfunden, daß weder der Redner noch die anwesenden Polizeiexperten sich die Frage nach der Ursache für diese Veränderung gestellt haben, für die das Stichwort Tschernobyl (da ist Ministerialrat Lenhard zuzustimmen) nicht ausreicht.
Angesichts dieser Problemskizzierung formuliere ich meine erste These: Die Polizei trägt durch fehlerhaft oder sogar rechtsmissbräuchlich ausgeübte hoheitliche Gewalt gegenüber sogenannten „friedlichen“ oder „stillen Demonstranten“ (das sind nach der exakten Terminologie des Polizeirechts „Nichtstörer“) dazu bei, daß es nicht nur zu Solidarisierungen mit denjenigen kommt, die gewalttätig werden, sondern daß aus gewaltfreien Demonstranten Leute werden, die Gewaltanwendung für legitim halten.
Ich verkenne nicht das Problem, das für die Polizei dadurch entsteht, daß „Störer“ aus der Menge von friedfertigen Demonstranten heraus gewalttätige Aktionen vorbereiten und durchführen. Es ist auch nicht zu bestreiten, daß ein großer Teil der Polizei sich bemüht, das Differenzierungsgebot ernst nimmt, d.h. die rechtliche Verpflichtung der Polizei zwischen „Störern“ und „Nichtstörern“ zu unterscheiden. Doch es kommt nach wie vor zu Ausübung hoheitlicher Gewalt durch die Polizei gegen „Störer“ wie „Nichtstörer“. Ich erinnere nur an den Abwurf von Tränengasbomben auf fliehende „friedliche“ Demonstranten und an die „Kessel“ (in Hamburg und Mainz). Unbestreitbar wird von Leuten innerhalb der Polizei nach Konzeptionen gesucht, nicht nur Störer und diejenigen zu verunsichern, die durch die Anwendung von Gewalt strafbar geworden sind, sondern auch die bloßen „Teilnehmer“ an Demonstrationen, die für Störer Schutz und „Kulisse“ bieten. So forderte der Leitende Polizeidirektor Frenzl, München, auf der bereits erwähnten Tagung vor zwei Jahren: „Für künftige Einsätze sollen ständig wechselnde Konzeptionen praktiziert werden, um Teilnehmer (!!!), Störer und Gewalttäter zu verunsichern“ (a.a.O., S. 43).
Solche Ausführungen, die unwidersprochen blieben, veranlassen mich zu einem Exkurs, den ich in der Form einer zweiten These vortrage: Jeder, der die rechtlich gebotene Unterscheidung zwischen Anwendung physischer Gewalt und gewaltlosem Protest in der Form des zivilen Ungehorsams dadurch verwischt, daß er die gewaltfreie Aktion zu einer Anwendung von Gewalt stempelt, trägt dazu bei, daß gewalttätige Aktionen zunehmen oder unterstützt werden.

Es gibt bei der Polizei Leute, die sehr genau wissen, daß der aus moralischen Gründen ausgeübte, öffentlich erklärte Ungehorsam des Bürgers gegenüber einem konkreten Rechtsgebot (civil disobedience), auf der Anerkennung des Rechtes beruht; aber es gibt auch viele Äußerungen innerhalb der Öffentlichkeit, die auch innerhalb der Polizei wiederholt werden oder Gehör gefunden haben, daß die Teilnahme an Aktionen des zivilen Ungehorsams als Vorstufe oder Brücke zur Gewalttätigkeit anzusehen sei. Jeder weiß (oder könnte wissen), daß die gewaltfreie Aktion mehr Mut, mehr Disziplin und mehr Selbstüberwindung kostet als ein Sich abreagieren in Gewalttätigkeit. Deshalb vermindert eine Polizeitaktik, die die Teilnahme an gewaltfreien Aktionen des zivilen Ungehorsams ebenso behandelt wie denjeniger, der durch die Anwendung physischer Gewalt strafbar geworden ist, nicht Gewalttätigkeit, sondern vermehrt die Anwendung physischer Gewalt; denn die Beschränkung auf die gewaltfreie Aktion zahlt sich nicht aus.
Daraus folgt meine dritte These: Die Polizei wendet die ihr zustehende hoheitliche Gewalt nicht nur fehlerhaft, sondern rechtsmissbräuchlich an, sofern sie sich nicht auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Strafverfolgung derjenigen beschränkt, die Straftäter geworden sind, sondern ihre Befugnis ausweitet, zum Anspruch darauf alle diejenigen zu „bekämpfen“ die ihrem abstrakten Feindbild entsprechen.
Wer Berichte über Polizeieinsätze untersucht, stößt immer wieder auf abstrakte Feindbilder. Da ist nicht die Rede von konkreten Straftätern oder solchen, die hinreichend verdächtigt sind, strafbar geworden zu sein, sondern von „Chaoten“ oder „Autonomen“, ja von „harten“ bzw. „richtigen“ Chaoten, von einem „Umfeld der Gewaltbereiten“. Dazu gehört der Satz, der vor zwei Jahren auf der bereits zitierten Arbeitstagung gefallen ist und unwidersprochen blieb: „Man wird alle greifen müssen, die hier in das Chaotenbild passen“ (a.a.O., S. 29). Das heißt doch nichts anderes, als daß entgegen der verfassungsrechtlich verbürgten Unschuldsvermutung jemand als Täter gilt, ohne sich strafbar gemacht zu haben – sofern er nur in ein bestimmtes Täterbild paßt.
Solche abstrakten Feindbilder führen dazu, daß Bürgerinnen und Bürger unter ein spezifisches Täterbild subsumiert und behandelt werden nach dem makabren Satz: „Den Täter haben wir, die Tat wird sich schon finden: „Solche Grenzüberschreitungen der Polizei bewirken, daß Hemmschwellen gelockert oder beseitigt werden und Bürger Sanktionen hoheitlicher Gewalt hinnehmen müssen, weil sie – obwohl sie nicht straffällig geworden sind – allein auf Grund ihrer Kleidung oder ihres Haarschnitts als verdächtig gelten.“
Ich leugne nicht, daß es in dieser Gesellschaft auch Menschen gibt, die zum Beispiel im Umkreis von Fußballspielen oder Demonstrationen Krawalle, Rabbatz und gewalttätige Auseinandersetzungen suchen. Es ist jedoch ein Unterschied, ob die Polizei durch einen massiven Einsatz die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrecht erhält und – soweit möglich – Straftäter dingfest macht, oder ob die Polizei zur Bekämpfung übergeht, den Grabenkampf annimmt und alle meint festnehmen zu müsen, die in ein bestimmtes Feindbild passen.
Daraus folgt meine vierte These: Eine Polizei, die durch „offensive“ Kontrolle „Verdächtiger“ von der Gefahrenabwehr und der Verfolgung strafbar gewordener Täter übergeht zur Bekämpfung vermeintlicher Störer, vermindert nicht, sondern vermehrt das unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen vorhandene Gewaltpotential. Einschüchterung in der Form der „offensiven“ Kontrolle erzeugt Gewalttätigkeit; denn solche Einschüchterung und Gewalttätigkeit sind Zwillingsbrüder.
Das Gerede von vorbeugender Verbrechensbekämpfung hat dazu geführt, daß Polizeiexperten und einzelne Polizeibeamte die Aufgabe der
Polizei nicht mehr primär in der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie in der Verfolgung von Straftätern sehen. Das hat Losungen produziert, die die Grenzen verletzen, die der Polizei gesetzt sind: „Alle greifen, die in das Chaotenbild passen“ oder „Die Kontrolle Verdächtiger ist offensiv, konsequent und unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten durchzuführen“ (Einsatzbefehl für den Einsatz für Brokdorf am 7. 6. 1986, a.a.O. , S. 70). Darf man sich wundern, wenn Polizeibeamte sich auf Grund solcher Einsatzbefehle verpflichtet sehen, zur unmittelbaren Bekämpfung oder zur illegalen Einkesselung von vermeintlich Verdächtigen überzugehen? Die herkömmliche Kategorie des hinreichenden Tatverdachtes ist etwas grundsätzlich anderes als der abstrakte Begriff des „Verdächtigen“. Im übrigen ist die Bekämpfung des „Verdächtigen“ auch problematisch. Erstens, weil sich die Polizei damit auf den unmittelbaren Kampf mit denjenigen einläßt, die an einem solchen Kampf nicht nur interessiert sind, sondern alles tun, daß es gerade dazu kommt. Und zweitens, weil die Polizei bei solcher Bekämpfung unvermeidlich auch Bürgerinnen und Bürger in den Kampf mit einbezieht, die vielleicht auf Grund des Augenscheins verdächtig, tatsächlich aber unbescholten sind und auch keine Straftaten begehen wollen.
Polizeibeamte, die so vorgehen, überschreiten nicht nur die ihnen durch Gesetz übertragene Aufgabe. Eine Polizei, die in dieser Form die ihr gestellte Aufgabe ausweitet, trägt auch dazu bei, daß die einen den Kitzel und die Lust finden, die sie suchen, und daß andere empört sind über die ihnen widerfahrene Ungerechtigkeit und über die hoheitliche Gewalt, die sie von Polizeibeamten erfahren haben. Nicht wenige solidarisieren sich auf Grund solch spezifischer Erfahrungen zunächst nur gegen „die Polizei“ einige sogar mit Gewalttätigkeiten gegenüber der Polizei.

An dieser Stelle halte ich es für geboten, danach zu fragen, warum Menschen an einem unmittelbaren Kampf mit der Polizei interessiert sind oder Lust daran finden. Niemand – das ist eine Binsenweisheit – wird als jemand geboren, der Lust an einem Kampf mit der Polizei hat, und einen solchen Kampf sucht oder sogar provoziert.
Für mich gibt es vor allem zwei Antworten: – Bei den einen ist Gewalttätigkeit ein Ausdruck des Hasses gegen die Polizei. Ich bin der Auffassung: Dieser Haß gegen Uniformträger – auch wenn er für etwas anderes steht – ist erzeugt worden, er ist eine Reaktion auf das, was diesen Menschen zuvor angetan ist. Daß es einen solchen Haß gibt, bezeugt beispielsweise der Inspekteur der niedersächsischen Schutzpolizei Hinz, wenn er sagt, „mit haßerfülltem Gesicht“ habe man unsere Beamten angestarrt (a.a.O., S. 20). Auch von Demonstranten, selbst von Bewohnern der Hafenstraße wird dies bestätigt, wenn Vermummte als „Haßkappen“ bezeichnet werden.
Bei den anderen handelt es sich um eine m.E. primär unpolitische Romantik, mit der junge Menschen aus der Langeweile oder aus dem Rahmen der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung auszubrechen versuchen (und dabei zuweilen auch rechten oder linken Ideologien verfallen). Doch entscheidend ist: Man braucht den Stachel, das Außergewöhnliche; man sucht den Kampf und zugleich eine Gemeinschaft (selbst auf die Gefahr hin, daß es sich bloß um den Schein von Gemeinschaft handelt). Wir begegnen hier einem Phänomen, das Ernst Jünger in der Weimarer Zeit durch das Wort zusammengefaßt hat: „Der Kampf als inneres Erlebnis“. Mehr als die abstrakten Feindbilder zeigen dies etwa folgende Sätze: „Ich schmeiße die Steine nicht wegen der Bullen, sondern wegen mir.“ „Es ist vor allem der Nervenkitzel. Der Moment kurz bevor es losgeht. … Entweder bist du der Geilere oder die anderen“
Daraus folgt meine fünfte These: Weder diejenigen, die den Kampf um des „inneren Erlebnis“ willen suchen, noch diejenigen, die im Kampf ihren Haß abreagieren, sind durch unmittelbare Bekämpfung oder durch schärfere Gesetze abzuschrecken. Im Gegenteil: Je schwieriger der Kampf wird, je größer die potentielle Gefahr (sprich: die Strafverfolgung) ist, desto größer ist der Nervenkitzel oder die Befriedigung von Haß.
Es gibt unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen insbesondere bei Jugendlichen ein spezifisches Aggressionspotential. Frühere Gesellschaften haben versucht, solche latente Gewalt durch Institutionalisierung aufzufangen. Ich nenne nur die Wanderschaft der Handwerksgesellen, bestimmte Formen des Sports, die Flucht in die Ferne, auf die See oder – auch das dürfen wir nicht verdrängen – in das soldatische Kriegserlebnis. Heute will man das latente psychische Aggressionspotential nicht wahrhaben, meint, daß Jugendliche innerhalb der Bahnen groß werden müssen, die man ihnen vorschreibt, oder stempelt aggressives Verhalten zum individuellen Versagen. Es gibt nicht wenige, die ausgerechnet von polizeilichen Uniformträgern erwarten, daß diese solchen Jugendlichen Mores lehren könnten.
Wenn es richtig ist, daß Gewalttätigkeiten auf gesellschaftlichen Ursachen und spezifischen individuellen Erfahrungen beruht, dann folgt daraus, daß die Polizei überfordert ist, wenn Polizeiexperten oder Polizeibeamte ihr die gesellschaftssanitäre Aufgabe der Verbrechensverhütung oder der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung übertragen wollen. Der Grund für diese Überforderung der Polizei ist eine spezifisch politisch-ideologische Verschwörungsideologie. Man meint, Gewalttaten verhindern zu können, wenn man spezifische Gewalttäter wie Bakterien ausmerzt. Demgegenüber meine ich: Erst wenn die Polizei den utopischen Anspruch aufgibt, Verbrechen verhüten und Kriminalität vorbeugend bekämpfen, d.h. wie eine Krankheit ausmerzen zu können, wird sie nicht mehr wie gegenwärtig Fixpunkt von Aggressionen sein und durch ihre Praxis zur Vermehrung des gesellschaftlichen Gewaltpotentials beitragen.
Damit komme ich zu meiner sechsten und letzten These: Die Beschränkung von Polizeifunktion auf ihre rechtsstaatlichen, bald 200 Jahre bewährten Aufgaben der Abwehr unmittelbar drohender Gefahren und der Verfolgung strafbar gewordener Täter bietet dem Bürger mehr Sicherheit als die gegenwärtig betriebene Grenzüberschreitung, als der Wahn, die Polizei sei in der Lage, Verbrechen vorbeugend zu verhindern.
Wir würden jeden Arzt für größenwahnsinnig erklären, der beansprucht, jede Krankheit ausmerzen zu können; aber wir haben es hingenommen, daß der Polizei die Aufgabe der Verbrechensverhütung zugedacht wurde. Nur eine Polizei, die wieder gelernt hat, mit Gewalt zu leben (wie wir mit Krankheit und Tod), wird – das ist meine Überzeugung – erfolgreich Gewalt zurückdrängen und kanalisieren können. Die Gefahr illegaler Gewalt durch Polizeibeamte wird erst dann gemindert, wenn sich die Polizei wieder auf die ihr gesetzten Grenzen besinnt.

Text einer Stellungnahme anläßlich des Symposions der Bundeskriminalamtes „Polizei und Gewalt“

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