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Marx' jakobi­ni­sche Muttermale

Zur theoretischen Ambivalenz der Marxschen Revolutionstheorie

In: vorgänge 100 (4/1989) S.63ff

„Dass die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen lässt: ` So wusste schon Goethe in seinen Materialien zur Farbenlehre die Standortbedingtheit jeder geschichtlichen Betrachtung zu formulieren. Und in der Tat: Historikerdebatte allerorten in Ost und West mit und ohne neuen Quellen. Wer die schonungslos Abrechnung mit der stalinistischen Vergangenheit in letzter Zeit in der Sowjetunion und in einigen anderen Ostblockländern verfolgt, der reibt sich nicht nur die Augen über den Mut und die Fähigkeit eines jahrzehntelang unterdrückten Volkes, sich eine eigene geschichtliche Identität zurückzuholen. Er ist zugleich von Scham ergriffen, dass hierzulande die gefälschten Tagebücher Hitlers zum Anlass genommen werden sollten, die Geschichte des Dritten Reiches völlig umzuschreiben. Vermutlich wird man auch noch eine Zeit lang auf die kritische Bearbeitung der dunklen Vergangenheit der Siegermächte im großen Völkermorden 1939 und danach warten müssen. Bolschewismus, Faschismus und bürgerliche Demokratie stehen heute – 200 Jahre nach Beginn der Französischen Revolution – weltweit im Prozess einer neuen geschichtlichen Standortbestimmung, die in Ausmaß, Zielrichtung und Dynamik durchaus einer historischen Zeitenwende gleichkommen könnte. Der Umgang mit dem eigenen geschichtlichen Erbe wird in der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Gesamtlage zum Kraftfeld historische Perspektivbildung ohne schon erkennbarem Ausgang. Nur soviel scheint deutlich: Die bisherigen, jeweils festgefügten Standorte der Geschichtsbetrachtung sind in Auflösung begriffen. Zunehmend rückt die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass Geschichte seit 1789 zum Reflexionsbegriff geworden ist, der Vergangenheit in perspektivischer Durchdringung der Gegenwart mit Zukunft verbindet. Die Revolution selbst fundiert eine geschichtsphilosophisch geprägte Zukunftserwartung, wird gar zum Orientierungsbegriff, in dem sich alle politischen Ereignisse der Vergangenheit zu einem geschichtsmächtigen Trend in die Zukunft verfremden lassen.

Wir leben im Zeitalter der Revolutionen. Nachdem wir George Orwells „1984“ realexistierend eingeholt haben, wendet sich unser Blick fragend auf „2440“, jenes vom französischen Revolutionär Louis Sebastien Mercier 1772 als Fiktion beschriebene Jahr. Dort heißt es lapidar: „Tout est revolution dans ce monde: “ -„Die Revolution ist zu Ende“ so provoziert seit einigen Jahren der Historiker F. Furet seine insbesondere sozialistischen und kommunistischen Fachkollegen von der Abteilung Revolutionsgeschichtsschreibung und kritisiert die seit Ende des vorigen Jahrhunderts gängige Vision einer linearen Geschichte der Befreiung des Menschen, deren erste Etappe das Reifwerden und die Verbreitung der Werte von 1789 gewesen seien, deren zweite, die Erfüllung der Versprechen von 1789, die neue, sozialistische Revolution sein soll. Erst 1917, mit der Großen Oktoberrevolution in Russland, höre die Französische Revolution auf, Modell für eine mögliche, wünschenswerte, erhoffte, aber noch inhaltslose Zukunft zu sein. Der sich wandelnde historische Standort habe sich mit dem Subjektwechsel in der Geschichte zu verbunden, ohne das Erbe leugnen zu müssen. Bolschewismus und Jakobinismus haben die gleichen radikalen Wurzeln und lagen in ein und derselben geschichtlichen Logik. Doch die massenwirksame Identifikation mit dieser Linie ist geschwunden. Immer lauter wird das offizielle Eingeständnis des Bankrotts des kommunistischen Systems, nachdem die früheren kommunistischen Parteien im Westen sich unter dem Titel „Eurokommunismus“ in sozialdemokratische zurückverwandelt haben und nunmehr, wie der italienische Parteichef, mit dem traditionsgeladenen Begriff nur noch eine hohle Phrase verbinden. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, wie rasch sich die Nachholbewegungen der Werte von 1789 sich in den Ländern des geschichtlichen Experiments des Sozialismus/Kommunismus auf ihrem Übergang vom „sozialistisch“ legitimierten Staatskapitalismus zu einem real existierenden Kapitalismus vollziehen werden. Auch das Massaker von Peking wird hier nur grausam aufschiebende Wirkung zeitigen können. Die militärische Vernichtung der von den Studenten errichteten Freiheitsstatue von Peking verweist mehr als nur symbolisch auf das Versprechen von 1789 und die aktuelle geschichtliche Ausdehnung auch auf den asiatischen Kontinent.

Der Sozialismus von Marx wurde zurecht als der Versuch einer Synthese aus der ökonomischen Revolution in England, der politischen Revolution in Frankreich und der philosophischen Revolution des deutschen Idealismus verstanden. Seine geschichtliche Bindekraft, wie sie im 19. und der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts bestanden hat als theoretischer Ausdruck der europäischen und internationalen Arbeiterbewegung, ist heute im Schwinden begriffen und neigt sich dem Ende zu. Ist der so oft prophezeite Tod des Marxismus tatsächlich eingetreten? Oder zeichnen sich eine Neureflexion und Weiterentwicklung marxistischer Grundpositionen ab, die der neuen Realität angemessen sind? Oder kehrt die ehemals revolutionäre Arbeiterbewegung heute als klassenübergreifende „neue soziale Bewegung“ in die Anfangsgründe der bürgerlichen Revolution zurück? Ist der Niedergang des Marxismus in ihm selbst angelegt? Ist seine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und Ideologie von Prämissen ausgegangen, die heute als falsch erkannt und endgültig überholt angesehen werden müssen? Ich will im folgenden einen entscheidenden theoretischen Argumentationsgang der Marxschen Begründung der revolutionären Aktion rekonstruieren aus seiner Kritik an Hegel und im problematischen Kontext seiner politischen Option für die Revolution diskutieren, d.h. im Kontext der Großen Französischen Revolution. Vielleicht lässt sich daraus besser verstehen, worin die historische Inkonsistenz des wissenschaftlichen Sozialismus besteht.

Es ist kaum verwunderlich, dass der Rheinländer Marx schon seit seiner Jugend nolens volens unter dem Einfluss der Französischen Revolution stand und sich früh mit ihr auseinander zusetzen begann. Im Kreis der Junghegelianer gehörte er bald dem radikalen Flügel an. Arnold Ruge schreibt schon 1841 mit Sorge, er habe es jetzt „schlimm“, da Bauer, Marx, Christiansen und Feuerbach „die Montagne proklamieren werden oder schon haben“. Wichtig für die Beurteilung des Politisierungsprozesses von Marx ist nicht allein der lebensgeschichtliche Nachweis der Kontinuität und Konsequenz seiner Radikalisierung anhand der Erfahrung des reaktionären Preußen, ebenso entscheidend ist, dass Marx die Erarbeitung seiner Position als grundsätzliche Klärung der Methode der Möglichkeit von Gesellschaftskritik anhand der höchsten philosophischen Verarbeitung der Französischen Revolution vornimmt: am dialektischen Denken Hegels.

Die Auflösung der Erkenntniskritik in die geschichtliche Dialektik der Rekonstruktion des Wissens als Methode der Klärung der Kernfrage der idealistischen Philosophie, was das Ich sei, „gelingt“ Hegel in seiner „Phänomenologie“ nur um den Preis einer merkwürdigen Ineinssetzung von Voraussetzung und Resultat. Das Ich soll sich auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung des Bewusstseins rekonstruieren, um zu seiner ldentität zu gelangen und die Frage zu beantworten, was das Ich sei. Dabei aber bleibt die Frage ungeklärt, wann die Identität erstellt ist, am Ende des ganzen Prozesses, auf jeder Stufe, die als Widerspruch erfahren und in der Reflexion aufgelöst wird, oder eigentlich als immer schon vorausgesetzt. Das Ich muss ja auf jeder Stufe sich mit seiner Äußerung identifizieren können, wenn behauptet werden soll, dass die Erfahrung, die reflektiert wird, eine Erfahrung des Ich sei. Andererseits ist die Identität des Ich erst erreicht, sind alle Stufen der Entwicklung des Bewusstseins durchlaufen.

Genau an diesem Punkt setzt Marx seine Kritik an: Hegel rekonstruiere die Entwicklung des nicht in dem jeweiligen Medium und lasse damit die inhaltliche Seite des Ich außer acht, betrachte sie nur formal. Aller Inhalt steht bei Hegel immer schon unter der Prämisse eines mit sich selbst identischen Ich. Damit werden aber die materialen Inhalte nur zum Scheine rekonstruiert, sind in Wahrheit nur abstrakt. Der empirische Inhalt ist bei Hegel im Begreifen immer schon Moment geworden des sich selbst begreifenden Ich: Jeder Inhalt als empirischer ist bei Hegel aufgelöst als Inhalt des Selbstbewusstseins.

Marx stellt sich die Frage, ob denn die von der Hegelschen Philosophie beschriebene Auflösung der Inhalte zu Inhalten des Selbstbewusstseins in der konkreten Wirklichkeit tatsächlich gegeben ist, ob z.B. die Religion durch die Philosophie oder die Entfremdung in der Vernunft tatsächlich aufgehoben ist. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Der Hegelsche Begriff der Aufhebung, so kritisiert Marx, verbleibt abstrakt, er ist nur formuliert auf das sich selbst begreifende Bewusstsein. Für die Realität ändert sich damit noch gar nichts. Der Begriff der Aufhebung enthält insofern noch keine Kritik. Und wenn man Hegels Philosophie an ihrem eigenen Anspruch misst, sie sei nichts anderes als die Zeit in Gedanken gefasst, dann lässt sich an seinem abstrakten Begriff der Aufhebung zeigen, dass offenbar die Zeit ihrem Begriff widerspricht. Der Zustand nämlich, in dem sich die Geschichte befindet, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Politik, das Recht usw. entsprechen nicht dem, was die Philosophie als deren Begriff ausgibt. Man muss, so Marx, die mystifizierende Kritik nach ihren materialen Implikaten noch einmal hinterfragen. Diese Kritik ist aber nur möglich, wenn sie einen anderen Begriff der Empirie zugrunde legt. Der Gegenstand ist für Marx nämlich jetzt nicht mehr aufgelöst als Gegenstand des Bewusstseins, Selbstbewusstseins usw. zu betrachten, sondern Gegenständlichkeit bildet sich für ihn jetzt in Anlehnung an Feuerbach durch die Auseinandersetzung mit der Natur, die immer schon vermittelt ist durch die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, und zwar eine Auseinandersetzung des Menschen mit dem Menschen.

Dieser Schritt macht zweierlei deutlich: Das Hegelsche Programm der Rekonstruktion des Ich, das mit sich selbst identisch sein soll, enthält nunmehr materiale Implikate, die eingebettet sind in die empirische Rekonstruktion der Geschichte und nicht mehr in die Geschichte, wie sie im Bewusstsein erschienen ist. Damit verändert sich auch der Handlungsbegriff: Die empirische Rekonstruktion der wirklichen Geschichte verändert den Begriff der Kritik.
Handlung ist für Marx zunächst zu verstehen als empirische Handlung, und noch nicht, wie bei Hegel, in der Dimension des Begreifens. Im Gegenteil: Will man wissen, was Handlung ist, so Marx, dann muss man die Geschichte empirisch erforschen, um zu sehen, wie die Menschen wirklich gehandelt haben und noch handeln. Es geht nicht mehr um die Geschichte der Formen des Bewusstseins, sondern um die wirkliche Geschichte. Geschichte ist für Marx zunächst einmal die Totalität, wie und unter welchen Bedingungen mit welchen Resultaten Menschen gehandelt haben und handeln. Marx interessiert sich für die Geschichte weniger unter der Fragestellung, und nicht in erster Linie, wie die Menschen ihr Handeln begriffen unter dem Aspekt der Rekonstruktion eines identischen Ich. Denn diese Rekonstruktion kann ja Bewusstseinsformen, d.h. Legitimationen für Handlungen enthalten, die de facto mit der Wirklichkeit gar nicht übereinstimmen. Vielmehr zeigt die empirische Wirklichkeitsforschung, dass der Anspruch des Bewusstseins mit der Realität auseinander fällt, also zu bloßer Ideologie verkommt. Damit wird die Hegelsche Kritik der Bewusstseinsformen materialistisch weiterentwickelt zur Kritik der Ideologie. Nimmt man z.B. die Darstellungen der klassischen Nationalökonomie, so muss man sie unter dem Aspekt der empirischen Wirklichkeitsforschung zunächst als eine Beschreibung dessen verstehen, was tatsächlich ist. Zugleich jedoch enthalten sie ideologische Legitimationen, die Nationalökonomie selbst nicht mehr reflektiert.

Unter diesem veränderten Aspekt des Bewusstsein usw., steht die Frage nach der ldentität des Ich selbst in einem anderen kritischen Kontext: Es wird nämlich jetzt nicht mehr gefragt nach den Begriffen, die sich die Menschen von der Geschichte machen, sondern nach den empirisch-historischen Grundlagen der Produktion des Ich. Diese Fragestellung ist bei Hegel zwar schon angelegt, aber wegen der bereits erwähnten Prämisse nicht durchgeführt. Was bedeutet dies für den Begriff der Kritik?

Wenn man nun aber wie Marx Hegel kritisiert und einwendet, die Rekonstruktion der Geschichte habe nicht nach den Begriffen, sondern empirisch zu erfolgen, dann sind zwar die verschiedenen Bedingungen, Institutionen, Produktionsweisen usw. in der Geschichte empirisch feststellbar. Noch nicht geklärt ist allerdings, was an einer derartigen Rekonstruktion noch kritisch sein soll. Denn eine empirische Aussage allein ist ja noch nicht Kritik – vielmehr kommt es jetzt auf die Klärung der Frage an, unter welchen Voraussetzungen sich empirische Fakten kritisieren lassen. Hier liegt das schwierige Problem, das Marx im ersten Band des „Kapitals“ mit der Trennung von Forschung und Darstellung umrissen hat. Soll empirische Forschung zugleich Kritik sein, dann kommt es offensichtlich auf das Bezugssystem an, innerhalb dessen die Fakten interpretiert werden.

Wie aber lässt sich feststellen, ob ein Bezugssystem richtig oder falsch ist? Nach welchen Kriterien soll die Geschichte empirisch rekonstruiert und beurteilt werden? So lässt sich beispielsweise die Behauptung aufstellen, nach einem bestimmten humanistischen Bezugssystem ist die empirisch rekonstruierte Gattungsgeschichte eine Geschichte der Unterdrückung. Ebenso aber lässt sich, vom Bezugssystem der bürgerlichen Geschichtsauffassung, behaupten, die bisherige Geschichte sei eine Abfolge von autonomen Aktionen der Subjekte, der Individuen in der Auseinandersetzung mit den unabwendbaren Zwängen der Natur und die Behauptung, das partikulare Individuum sei unterdrückt worden, falsch.
Oder man kann – mit Kant – ein abstraktes System der Vernunft errichten und zeigen, dass die Menschen bisher unvernünftig gehandelt haben. Aber danach wäre nicht mehr ein-sehbar, weshalb die Geschichte noch empirisch rekonstruiert werden soll, um sie kritisieren zu können. Man könnte sich logischerweise unmittelbar an die Kriterien halten und sagen, handle so und so und du handelst vernünftig.
Das Entscheidende, was Marx in seiner Kritik an Hegel von Hegel in dieser Frage des Bezugssystems übernimmt, ist folgendes: Das Bezugssystem der Interpretation der empirischen Fakten lässt sich, so Marx, gar nicht als ein positives System angeben und aufstellen. Man kann nicht einfach Begriffe nennen und diese für sich positiv ausweisen. Begriffe, die man zur Interpretation der Fakten heranzieht, sind selbst geschichtlich vermittelt und negativ; sie lassen sich nicht nach den Kriterien wahr oder falsch beurteilen, sondern sind Momente der geschichtlichen Entwicklung selbst. Damit verliert der Begriff der Handlung in der Geschichte seinen festen, quasi erkenntniskritisch fixierten Bezug. Nimmt man etwa den Hegelschen Begriff der Entfremdung, an dem sich aufzeigen lassen soll, dass die bisherige Geschichte, kritisch betrachtet, eine Geschichte der Unterdrückung sei, so lässt sich an ihm nicht mehr zeigen, warum es in der Welt Unterdrückung gibt. Ich kann am Begriff der Entfremdung nur zeigen, dass, wähle ich ihn als theoretisches Bezugssystem der Interpretation der bisherigen Geschichte, die bisherige Geschichte eine Geschichte der Unterdrückung war. Ob die kritische Darstellung der Geschichte, oder ganz allgemein die theoretische Kritik wahr oder falsch ist, lässt sich nach diesem Verfahren mit theoretischen Mitteln nicht mehr zeigen.

Der entscheidende Punkt aber, an dem Marx über Hegel hinausgeht, ist die Dimension der Praxis. Denn: Kann das Subjekt das Bezugssystem der Entfremdung mit theoretischen Mitteln nicht mehr bestimmen, so muss sich in der praktischen geschichtlichen Kritik zeigen lassen, ob das Bezugssystem der Entfremdung als Beurteilungsmaßstab für die empirischen Fakten sich als wahr oder falsch erweist. Die Frage, ob die Kritik wahr ist oder falsch, lässt sich nur klären, wenn praktisch gezeigt werden kann, ob die entfremdeten Bestimmungen in der Geschichte auflösbar sind oder nicht. Und dies kann nur geschehen als befreiende Tat, als revolutionäre Aktion. Die Kritik der Moral, des Rechts, der Ökonomie, der Gesellschaft, des Staates usw., ist theoretisch immanent nicht mehr zu leisten, sondern das idealistische Systemdenken selbst muss aufgesprengt werden durch die revolutionäre Praxis.

Marx erreicht mit dieser Argumentation einen entscheidenden Durchbruch: Der abstrakt erkenntnistheoretische Ansatz nach der theoretischen Wahrheit des Bezugssystems ist aufgelöst, die Frage der Wahrheit der Hegelschen Kategorien ist nicht mehr abhängig gemacht von der abstrakten Rekonstruktion der ldentität des Ich, des Selbstbewusstseins, sondern von einer zukünftigen revolutionären Praxis. Die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft hat ihren Wahrheitsanspruch erst erfüllt in toto mit der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft selbst, d.h. mit dem Eintritt in den Sozialismus.

Damit tritt aber das gravierende Problem auf, dass das Kriterium für die subjektive Orientierung revolutionärer Praxis theoretisch nicht mehr diskutierbar wird und nur in den objektiv rekonstruierbaren Strom der geschichtlichen Notwendigkeit verwiesen wird. Die Maximen revolutionärer Praxis verlieren entweder ihren Sinn oder bewegen sich in den Bereich des Unbestimmbaren – und, für die unmittelbar politische Praxis genommen, sogar in den Bereich der Willkür.

Hier liegt, so denke ich, ein entscheidender Grund für die Ambivalenz der Marxschen Revolutionstheorie: Da Marx den Wahrheitsbeweis der Kritik allgemein auf die Praxis der zukünftigen revolutionären Aktion verlegt, ohne die konkreten Bestimmungsgründe theoretisch zu benennen, bleibt auch die Form der revolutionären Aktion ungeklärt, allenfalls im Blickfeld einer historischen Plausibilität. Kann die Französische Revolution, insbesondere die Phase des Konvent, die Eroberung der politischen Macht beibehalten werden, um den sozialen Inhalt, die Aufhebung der Entfremdung, zu erreichen oder erheischt der soziale Inhalt nicht ebenso eine neue geschichtliche Form der Aktion, die soziale Revolution?

Marx hat dieses Problem nicht gelöst, es klafft ein tiefer Widerspruch in seiner Gesamtposition: Einerseits lässt sich bei ihm durchgängig zeigen, dass er in seinen praktischen Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Fraktionen der bürgerlichen und proletarischen Bewegungen immer am Modell der Französischen Revolution, d.h. an der politischen Revolution festgehalten hat. Andererseits jedoch bezieht sich sein theoretischer Begründungszusammenhang eindeutig auf die Position der sozialen Revolution. Dies wird insbesondere deutlich, wenn man die für den Handlungsbegriff bei Marx zusätzlich eingeführte, von Feuerbach übernommene, anthropologische Kategorie, d.h. von der Geschichte unabhängige Komponente in seiner Hegel-Kritik heranzieht. Denn man kann, so Marx, durch empirische Forschung das, was Hegel mit der ldentität des Ich und ihrer dialektischen Bewegung meinte, als einen widersprüchlichen und ideologischen Prozess in der Geschichte nachweisen und zugleich zeigen, dass neben diesen historisch spezifischen Formen des gesellschaftlichen Handelns auch noch bestimmte Konstanten wirksam sind, nämlich, dass der Mensch ein leidendes und tätiges Wesen ist. Der Mensch ist ein leidendes Wesen so gewiss er Bedürfnisse hat, z.B. Hunger, oder, anders ausgedrückt, seine Natur außer sich hat. Er stellt seine, durch den Mangel gebrochene Identität, die sich im Begriff der Bedürfnisse ausdrückt, erst wieder her, wenn er auf andere Gegenstände der Natur sich bezieht. Gleichzeitig aber ist dieser Rückgriff auf die Natur bezogen und vermittelt als gesellschaftliche Tätigkeit. Diese Tätigkeit – kontrastiert dem Leiden – ist empirische Tätigkeit. Es wird nicht mehr gefragt, was kann ich von dem Gegenstand wissen, oder ist der Gegenstand wahr oder falsch. Der erste Bezugspunkt dieses neuen Gegenstandsbegriffes ist, dass der Gegenstand ein gesellschaftlich vermittelter Gebrauchsgegenstand ist. Die Fragestellungen nach Objektivität, Wahrheit, Geltung usw. sind in dieser Hinsicht für Marx nur Derivate der praktischen Kritik. Der Gegenstand ist nicht ein isoliert produzierter, etwa nur Werkzeug oder einfacher Bezug auf die Natur, wie z.B. beim Tier, sondern er ist gesellschaftlich produziert und enthält damit ebenso wie der Praxisbegriff das Moment der Allgemeinheit, der Gesellschaft. Die Konstitution des Gegenstandes, des Objektes, ist für Marx nicht die Konstitution eines leblosen Dinges, sondern die Konstitution eines bestimmten sozialen Zusammenhanges. Die Aneignung der Natur durch den Menschen ist Produktion und Reproduktion des Menschen und zugleich auch eine Aneignung des Menschen durch den Menschen. Hier liegt das Bezugssystem begründet, an dem empirische Rekonstruktion als kritische Praxis interpretiert werden muss, nämlich die Gleichung von Humanismus und Naturalismus, wie es in den „Pariser Manuskripten“ heißt, auf die revolutionäre Praxis als Ziel angelegt ist. Die Relation Subjekt-Objekt ist damit dialektisch bezogen auf die Relation Subjekt-Subjekt.

Hier wird deutlich, weshalb eine Kritik der Politischen Ökonomie als Fundament einer Theorie der sozialen Revolution eigentlich erst möglich wird. Hatte die klassische Nationalökonomie die Gesetze der Wirtschaft als Naturgesetze aufgefasst, so kann Marx jetzt im Gegensatz dazu argumentieren, dass die Kategorie der Entfremdung keineswegs ein Naturgesetz sei, sondern aus einer ganz bestimmten, historisch lokalisierbaren Form der geschichtlichen Praxis empirisch rekonstruiert werden kann, d.h. die Vorstellung der Nationalökonomie von der Entwicklung der Gesellschaft als einem An sich, selbst noch geschichtlich bedingt ist und z.B. nach den Interessen und Bewusstseinsformen als praktische Ideologiekritik hinterfragt werden muss. Diese Praxis hat sich vermittelt durch die Kritik der politischen Ökonomie auf die verschwiegenen Voraussetzungen der Produktion zu richten. Die Veränderung dieser Voraussetzungen und nicht die der Politik ist die Basis, auf der sich das Verhältnis der Subjekte zueinander überhaupt verändern lässt. Die Subjekte werden erst dann sich als freie gegenübertreten können, wenn sie sich die gesellschaftliche Produktion selbst angeeignet haben. Der emphatische Sinn von Revolution bezieht sich bei Marx seit seiner Hegel-Kritik auf den sozialen Prozess der Aneignung der Natur, der Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse als der Beherrschung auch des technologischen Prozesses.

Mit der Fundierung der materialistischen Methode der empirischen Geschichtsforschung als Kritik der Gesellschaft hat Marx ohne Zweifel einen entscheidenden Beitrag zur wissenschaftlichen Begründung der sozialen Revolution geleistet. Und es ist ganz folgerichtig, dass in der Entstehungszeit dieser Theorie, Marx die soziale Revolution nicht nur gegen den bürgerlichen Staat, sondern gegen das „Wesen“ des Staates überhaupt abgrenzt. So schreibt er 1844 gegen A. Ruge: „Wo es politische Parteien gibt, findet jede den Grund eines jeden Übels darin, dass statt ihrer ihr Widerpart sich am Staatsruder befindet. Selbst die radikalen und revolutionären Politiker suchen den Grund des Übels nicht im Wesen des Staats, sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen: ` Aber die Existenz des Staates und die Existenz des Sklaverei sei unzertrennlich. So sei der politische Verstand unfähig zur Erfassung der sozialen Gebrechen. „Weit entfernt, im Prinzip des Staats die Quelle der sozialen Mängel zu erblicken, erblicken die Heroen der französischen Revolution vielmehr in den sozialen Mängeln die Quelle politischer Übelstände. So sieht Robespierre in der großen Armut und dem großen Reichtume nur ein Hindernis der reinen Demokratie. Er wünscht daher eine allgemeine spartanische Frugalität zu etablieren. Das Prinzip der Politik ist der ,Wille`. Aber der Wille allein sei unfähig, seine natürlichen und geistigen Schranken zur Bewältigung der sozialen Gebrechen zu übersteigen:

Man kann also nicht, wie in der politischen Revolution, die Fundamente des Staates verändern wollen, wenn die sozialen Beziehungen verändert werden sollen, weil der Staat immer nur der tätige Ausdruck der Gesellschaft sein kann. Es ist daher für Marx gar keine Frage, ob man über den Jakobinismus hinausgehen müsse oder nicht. Er ist, bei aller Hochschätzung und Bewunderung für die demokratisch-egalitäre Intention, rein theoretisch zunächst kein Modell für die soziale Revolution.

Dass Marx und nach ihm noch viel stärker die Marxisten dennoch sich als konsequente Fortsetzer der Jakobiner verstehen konnten und verstanden haben, liegt zum einen sicher an dem oben ausgeführten theoretischen Schwächen für die subjektive Verankerung der revolutionären Praxis, die das Einfallstor bis hin zum Terrorismus nicht mehr diskutabel macht. Zum anderen aber liegt es auch an der Begrenzung der sozialen Emanzipation der Gattung auf die Proletarier als weltgeschichtliches Subjekt unter Beibehaltung des Hegelschen Geschichtsobjektivismus. Und es scheint kein Zufall zu sein, dass die Zerreißprobe der ersten internationalen Arbeiterorganisation just an der Frage des Staats und des Verhältnisses der Arbeiter zur politischen Organisation erfolgte und die IAA ihr nicht stand hielt. Denn begrenzt man den Widerspruch der bürgerlichen Revolution wesentlich auf den Widerspruch zwischen Ökonomie und Politik (d.h. die bürgerliche Revolution müsse ökonomisch zurücknehmen, was sie politisch zugesteht) dann kann aus der Sicht von Marx die proletarische Revolution nur eine Erweiterung und Ergänzung zur Jakobinischen Diktatur sein, nicht aber ihr unversöhnlicher Gegensatz. Der föderalistische Anarchist Proudhon hat diesen Widerspruch sehr viel klarer gesehen als Widerspruch von aktuell revolutionärer Bewegung und dem Ergebnis dieser revolutionär-bürgerlichen Bewegung: dem neuen Staat.

200 Jahre nach der Französischen Revolution ist es eine geschichtliche Tatsache, dass in dieser Frage der anarchistische Flügel der ersten Internationale insofern gegen Marx Recht behalten hat, dass der Inhalt dessen, was Marx und die Seinen mit der sozialen Revolution intentiert haben, durch eine bloße proletarische Fortentwicklung der Jakobinischen Diktatur in der Zweckbestimmung, Funktion und sozialen Trägerschaft, nicht zu erreichen ist.

Der bürgerlich-liberal-demokratische (also politische moderate) Flügel der Arbeiterbewegung hat, auch aus immanent ökonomischen Gründen, am Ertrag der kapitalistischen Entfaltung der Produktivkräfte und z.T. sogar an den liberal-demokratischen Freiheiten teilhaben können. Kriege aber hat er ebenso wenig wie sein revolutionär-diktatorischer Widerpart verhindern können. Allerdings steht zu hoffen, dass 70 Jahre nach dem ersten großen geschichtlichen Experiment durch eine „Revolution. von oben“ die bürokratischen Hemmnisse zurückgedrängt werden könnten.

Es wäre purer Unsinn, wollte man Marx und seine Theorie für diese Entwicklung insgesamt verantwortlich machen. Sozialgeschichtliche Forschung zeigen, dass die Masse des europäischen Proletariats fast unberührt von den jeweiligen geschichtlichen Traditionslinien am Ende doch den politischen Weg für die erhoffte Lösung der sozialen Frage gewählt haben. Die Arbeiterbewegung hätte also auch ohne Marx und den Marxismus die Legitimation für die Etatistische Variante sich verschaffen können. Die Erfahrung der belgischen Arbeiterbewegung im 19.Jahrhundert zeigt dies sehr deutlich: C. de Paepe gehörte während der Periode der IAA zur Anarchistisch-Antietatischen Fraktion, war aber nicht Marx feindlich. Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre reichte seine Autorität nicht mehr aus, dem stürmischen Drang der Wahlrechtsbewegung in sozialdemokratische Richtung stand zuhalten. Es blieb ihm nur der Weg der Anpassung an die Wünsche der Arbeiter. Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte und Lehre zugleich, wenn Marx eben jenem de Paepe am 14. 9. 1870, also kurz nach dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, schreibt, das Unglück der Franzosen, auch der Arbeiter, bestünde in den großen Erinnerungen der Französischen Revolution und es wäre notwendig, dass die Ereignisses des Krieges diesem reaktionären Kult ein Ende machte. Zwei Monate zuvor hatte er Engels seine Vorstellungen über die Art der Beendigung mitgeteilt: Die Franzosen brauchen Prügel. Der Sieg der Preußen bedeute Zentralisation der Staatsmacht und damit auch eine Verlagerung des Schwergewichts der Arbeiterbewegung nach Deutschland. „Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons“

Heute wird man das Marxsche Zitat umwandeln und auf die Geschichte des Marxismus selbst anwenden müssen: Das Unglück der marxistischen Arbeiterbewegung sind die Jakobinischen Muttermale. Vielleicht sind die Ereignisse in der Sowjetunion und in China ein Anfang, dem Etatistischen Kult im Marxismus ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.

le jour de gloire est arrive

Die Französische Resolution in Deutschland. Zeitgenössische Texte deutscher Autoren, Augenzeugen, Pamphletisten, Publizisten, Dichter und Philosophen.

Hrsg. von Friedrich Ebene und Theo Stammen. 8537161. ISBN 3-15-008537-3

Die Französische Revolution: ein welthistorisches, ein europäisches, aber auch – ein deutsches Ereignis. Wie die Geschehnisse seit dem Sturm auf die Bastille auf deutsche Geister wirkten, zu welchen Einschätzungen, Stellungnahmen und Beurteilungen sie kamen, davon geben diese Berichte zahlreicher Augen- und Zeitzeugen Aufschluss: Berichte von Reisenden, Pamphletisten, Publizisten, Dichtern und Philosophen.

Reclam

Die Französische Revolution. Ein Lesebuch mit zeitgenössischen Berichten und Dokumenten. Ausgew., übers, und komm. von Chris E. Paschold und Albert Gier. 22 Abb. und 3 Karten. 6535151. ISBN 3-15-008535-7 Die Ausgabe enthält insgesamt rund 80 Tex[e: offizielle Verlautbarungen. Reden, Erklärungen und Erlasse, aber auch private Aufzeichnungen und Berichte bekannter und unbekannter, in und ausländischer Zeitgenossen, die als Beteiligte oder als Zuschauer, als Freund oder als Gegner des Umsturzes die revolutionären Ereignisse schildern, kommentieren und werten.

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