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Notizen zu einem „Aufruf zur Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung”

Aus: vorgänge Nr. 100 S.1ff

Am 22. März dieses Jahres traten die Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstverweigerer und die Abteilung Jugend der Industriegewerkschaft Metall mit einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit: „Kriegsdienstverweigerung als Zukunftssicherung“.  „Unäbhängig von der Motivation eines jeden einzelnen stellen Kriegsdienstverweigerer mit ihrer Entscheidung Militär und militärisches Sicherheitsdenken in Frage.“ Kurze Zeit später solidarisierte sich die gerade frisch aus der Taufe gehobene IG Medien mit diesem Aufruf. In der Resolution heißt es: „Massenhafte, hunderttausendfache Kriegsdienstverweigerung kann zu einem unübersehbaren Druckfaktor auf die Regierenden werden, Abrüstung voranzutreiben.“
Während die IG Metall auf Distanz zur Distanz des geschäftsführenden Mitglieds Karin Benz-Overhage ging („Im Vorstand vorher nicht abgesprochen“, hieß es nach einigen Tagen), nahm der Vorsitzende der IG Bergbau, Meyer, demonstrativ an einem öffentlichen Gelöbnis der Bundeswehr auf der Schachtanlage Monopol in Bergkamen teil, ebenso wie Bergleute in traditioneller Knappenuniform mit ihren Fahnen. Das Musikkorps der Bundeswehr spielte „Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt“. Fast zehn Jahre zuvor hatte nach den „Bremer Krawallen“ um die öffentlichen Gelöbnisse der Bundeswehr der sozialdemokratische Verteidigungsminister Apel die militaristische Öffentlichkeitsarbeit als Indikator demokratischer Kultur auszugeben versucht. Die Bonner Rechtskoalition versuchte, die Erklärung vom 22. März in eine antidemokratische Ecke zu drängen, die die demokratische Grundordnung in Frage stelle. Der IG Bergbau-Chef wandte sich gegen den Aufruf, weil die Gewissensentscheidungen der Wehrdienstverweigerer immer ganz persönliche Entscheidungen seien. Der Bundesbeauftragte für den Zivildienst, Hintze, forderte die IG Medien auf, zu dem im Grundgesetz verankerten Gewissensbegriff zurückzufinden.
Die Initiative der Gewerkschafter impliziert dem Ansatz nach eine Zäsur im politischen Verständnis des Antimilitarismus der sozialdemokratisierten Arbeiterbewegung. Im Kaiserreich war die Parole der SPD-Reichstagsfraktion „diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ nie als Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung gemeint, sondern Abstimmungsanweisung für die Fraktionsmitglieder, den anstehenden Militär-Etat in der von der Regierung vorgeschlagenen Höhe abzulehnen. Selbst ein so couragierter Gegner des wilhelminischen Militarismus wie Karl Liebknecht sprach sich in seiner berühmten Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ von 1907 (für die er zu 1 1/2 Jahren Festungshaft verurteilt wurde) dagegen aus, die vorhandenen Heere um jeden Preis aktionsunfähig zu machen. Die Verweigerung des Militärdienstes wurde in Zweifel gezogen, weil der Antipatriotismus verkenne, daß bis zur Aufhebung des Klassencharakters der Gesellschaft für die Arbeiterbewegung Kriegsmöglichkeiten bestünden, denen sie sich nicht verschließen dürfe.
Das Maß des Erfolgs der Wehrlosmachung würde in direktem Verhältnis zu dem Grad politischer Bildung der Arbeiterklasse jedes Landes stehen – folglich würde „das rückständigste Volk am wehrhaftesten bleiben“. Seit den achtziger Jahren wurde der Fortschritt der Arbeiterbewegung in der Tradition Engels und Bebels mit dem Geschick des Deutschen Reiches verbunden. Daß Rosa Luxemburgs Plädoyer für den Massenstreik im Kriegsfall von vornherein abgelehnt wurde, paßt in dieses Politikerverständnis. So kann die Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914 nicht völlig überraschen. Als Bebel von der Generalität vor dem Krieg über den Schlieffen-Plan informiert wurde, blieb seine Reaktion gleichmütig.
Trotz gewisser Ansätze versäumte es die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1918, die eigenen „Irrtümer“ öffentlich aufzuarbeiten und über die kriegstreibende Rolle Deutschlands im Sommer 1914 die Bevölkerung aufzuklären. Noch auf dem SPD-Parteitag im Juni 1919 beabsichtigte man, über die Entstehung einer Volkswehr zu entscheiden, was durch die Bestimmungen des Versailler Friedens nichtig wurde. 1950 lehnte die SPD die Einführung einer militärischen Dienstpflicht zumindest programmatisch ab (Hamburger Parteitag). Schon 1956 empfahl der Parteivorstand eine Freiwilligen-Armee, allmählich setzte sich auch eine Akzeptanz der Wehrpflicht durch. Der Parteitag in Hannover von 1960 beschäftigte sich kaum noch mit der Wehrpflicht. Parteiräson, Fraktionsdisziplin und Staatsräson bildeten mehr oder weniger die Winkel des etatistischen Demokratieverständnisses der sozialdemokratisierten Arbeiterbewegung. Die staatstragenden Demokraten bildeten tendenziell die politische Klasse der Republik mit Berufsverboten, Sicherheitsgesetzen, Gewissensprüfung und Haftstrafen für radikale Kriegsdienstverweigerer.
Aus dieser konservativen Perspektive ist Demokratie nur möglich, solange der Staat wehrhaft für Ordnung und Sicherheit sorgt. So er-scheint Demokratie eher als Funktion von Staatsräson, deren demokratische Qualität aus einem formal-institutionellen Verständnis von Demokratie deduziert wird. Und so erklärt sich das Paradox, daß ein unveräußerliches demokratisches Recht verletzt werden könne oder sogar müsse, um – von den Individuen abstrahiert – die demokratische Grundordnung zu sichern. Das, was geschützt werden soll, wird dabei lädiert.
Im Grundgesetz ist den Individuen zwar ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung konzediert worden, doch lediglich im Sinne des Kriegsdienstes an der Waffe. Die Bindung dieses amputierten Rechts auf Kriegsdienstverweigerung an Gewissensgründe und die Einordnung in den Kontext der Artikel über Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit widerspiegelte bereits eine restaurative Akzentverschiebung, noch bevor der politische Publizist Walter Dirks den Begriff Restauration 1950 erstmals zur Beschreibung der politischen Entwicklungen benutzte. Die hessische Landesverfassung vom 18.12.1946 hatte jeden Krieg geächtet, in der Badischen Verfassung vom 22.5.1947, im Bayrischen Gesetz Nr. 94 vom 21.9.1947 und im Württembergisch-Badischen Gesetz 1007 vom 28.4.1948 war noch ein uneingeschränktes Recht auf Kriegsdienstverweigerung inauguriert worden.
Im Parlamentarischen Rat wehrte sich der spätere erste Bundespräsident der post-nazistischen Bundesrepublik vehement gegen die Aufnahme selbst eines amputierten Rechts auf Kriegsdienstverweigerung ins Grundgesetz: Staat, Demokratie und Militärpflicht gehörten untrennbar zusammen. Ein solches Recht versuchte Heuss mit einem Argument ad absurdum zu führen, welches heute in einem ganz anderen Sinne relevant ist: „Das Problem des Kampfes mit der Waffe usw. ist heute im Grunde völlig obsolet geworden, weil das Herstellen von Bomben oder die Arbeit an Panzerwagen in viel höherem Maße eine Kriegsleistung ist, als wenn einer mit einer Knarre an der Brücke herumsteht. Der erstere hat auf die Kriegsführung einen viel größeren Einfluß: “ Es überrascht so nicht, daß Heuss, der schon in den zwanziger Jahren Politiker war, sich zeitlebens verächtlich über den Antimilitaristen Friedrich Wilhelm Foerster geäußert hat, der der offiziellen Beteuerung, es gäbe keine geheimen Rüstungen in Deutschland, 1927 durch unwiderlegbare Beweise entgegentrat.
Die Erinnerung an das NS-Regime war jedoch noch zu frisch, als daß sich diese neue Militanz ohne Einschränkung durchsetzen konnte. Vor-wiegend dachte man im Parlamentarischen Rat aber an Kriegsdienstverweigerung aus religiösen Motiven. Deshalb auch der Kontext Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Man wird deshalb eher nicht davon ausgehen können, die Hereinnahme des Artikels über Kriegsdienstverweigerung als Verdichtung und Verstärkung eines prinzipiell antimilitaristisch-pazifistischen Politik-Horizonts auszudeuten. Heuss Demokratie-Verständnis repräsentierte auf ideal-typischste Weise die etatistische Definition, Demokratie als Funktion des Staates zu begreifen. Wir können hier noch das Hobbessche Modell durchschimmern sehen, demzufolge der einzelne ein Abkommen mit dem Staat zur Gewährleistung seiner Sicherheit abschließt, wofür er auf Rechte und Macht verzichte. Hannah Arendt hat hier terminologisch von der vertikalen Version des Gesellschaftsvertrags im Gegensatz zur horizontalen gesprochen.
Im horizontalen Modell kann kein Transfer unveräußerlicher Souveränität von den Individuen an den von diesen abstrahierten Staat geschehen -der Staat ist lediglich Hilfsmittel. Die Argumentation des Sozialdemokraten Fritz Eberhards im Parlamentarischen Rat zeigte Affinität mit dieser Logik: „Dieser Absatz kann eine große pädagogische Wirkung haben, und wir hoffen, er wird sie haben. Denn es wird durch ihn in die Gewissensentscheidung des einzelnen gelegt, ob er einen solchen Befehl für sich gelten lassen will oder, wie Herr Kollege Dr. Schmid sagt, in anderer Weise dem Lande dienen will.
Darum glaube ich, gerade in dieser Situation nach dem Kriege und nach dem totalitären System, wo wir Schluß machen müssen mit der
Auffassung: Befehl ist Befehl – wenn wir nämlich Demokratie aufbauen wollen, ist dieser Absatz (das Recht auf Kriegsdienstverweigerung an der Waffe aus Gewissensgründen, I.Z.) angebracht.“
In diesem demokratietheoretischen Zusammenhang ist der Aufruf der Gewerkschaften zur massenhaften Kriegsdienstverweigerung einzuordnen, der nicht nur einen Bruch mit der Tradition unkritisch verinnerlichten Staatsräson in der sozialdemokratisierten „Arbeiterbewegung“, sondern auch mit einem unpolitischen Begriff von Gewissen signalisierte.
Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird im herrschenden Modell des durch einen vertikalen Gesellschaftsvertrag vermittelten Demokratie-Verständnisses nur als Enklave irrationaler Entscheidungsfindung akzeptiert: als weltabgewandte Meditation über Gut und Böse. „Sie ist keine größere Gefahr für die Autorität des Staates als das priesterliche Zölibat für die Heiligkeit der Ehe“ (John Rawls). Dieser von den Kontrolleuren herrschender Staatsräson eingeforderte ethische Pazifismus war schon bei Gandhi irrsinnig, als er 1938 an Martin Buber schrieb, die Juden in Nazi-Deutschland sollten dort bleiben, um Satyagraha bis zum Tod zu praktizieren. Ein Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung als Element einer kollektiven politischen Strategie des Antimilitarismus impliziert diesen dogmatischen Pazifismus keineswegs, die Entscheidung zum Militärdienst wird lediglich zurückgebunden an eine Prüfung der politischen Rationalität der Sicherheits- und Rüstungspolitik. Insofern meldet sich ein Anspruch auf Demokratisierung eines staatlichen Funktionszusammenhangs an, der sich gegen eine unkritische Hinnahme des Prinzips Staatsräson richtet, aber auch potentiell den „repräsentativen Absolutismus“ (W.D. Narr) infragestellt. In diesem Sinne entspricht der hier diskutierte Aufruf einem systemimmanenten Verständnis von zivilem Ungehorsam.
Daß aber auch demokratisch verfaßte Staaten völkerrechtswidrige Kriege führen können, zeigte zuletzt die Kriegsführung der USA in Indochina während der sechziger und frühen siebziger Jahre. Die Initiatoren des Aufrufs zur Verweigerung des Wehrdienstes bei der Bundeswehr hätten diesen auch bezugnehmend auf die völkerrechtswidrige gültige NATO-Strategie für den europäischen Kriegsschauplatz begründen können. Am 20./21.10.1986 nahm die NATO während ihres Treffens in Glebeagles neue politische Richtlinien für den Einsatz ihrer Atomwaffen an. Sie bekräftigten die Politik des Ersteinsatzes von Atomwaffen auf einen unterstellten konventionellen sowjetischen Angriff. Am 29. Mai 1987 hatte dagegen der Warschauer Pakt im Zuge der Neuformulierung der Militärdoktrin ausdrücklich erklärt, niemals als erster nukleare Waffen einzusetzen.
Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen wird seit den Zusatzprotokollen der Genfer Protokolle von 1949 geächtet – zwischen 1974 und 1977 tagte in Genf eine Konferenz, die Regeln für die Kriegsführung festlegte, die dem Schutz der Zivilbevölkerung und natürlichen Umwelt dienen. Norwegen und Dänemark haben diese Regeln ohne Vorbehalte ratifiziert, verhalten sich auch demgemäß in der NATO, was erst jüngst im Fall Norwegens zu Friktionen führte. Von der WINTEX-CIMEX-Übung der NATO in diesem Frühjahr in bundesdeutschem Gelände wissen wir, daß der Ersteinsatz von Nuklearwaffen auf einen unterstellten konventionellen Angriff aus dem Osten fiktiv erprobt wurde.
Staatsräson macht dumm, hat die Friedensforschung gezeigt, erst jüngst wieder in einer systematischen Untersuchung Ekkehart Krippendorffs über die „historische Logik politischer Unvernunft“ (in „Staat und Krieg“). Der moderne Krieg muß nicht durch Absicht entstehen,sondern mag als Ergebnis einer Kette von Faktoren und Bedingungen analysierbar sein, falls dazu noch Gelegenheit bestünde. In diesem Sinne wird der totale Krieg seit Jahrzehnten nicht beabsichtigt, aber vorbereitet.
So wird Kriegsdienstverweigerung präventiv zu praktizieren sein – als Gegenstück zum präventiv angedrohten Krieg gemäß der herrschenden Abschreckungspolitik. Aber auch der Zivildienstleistende ist bereits heute Teil von Planungsprozessen eines integrierten Konzepts der Gesamtverteidigung. Ein paar Wochen vor dem Aufruf der IG-Metall Jugend hatte nach jahrelanger Vorarbeit die Bundesregierung am 10.1.1989 die endgültige Fassung der Gesamtverteidigungs-Richtlinien beschlossen. Um die Akzeptanz der Gesamtverteidigungs-Richtlinien zu erhöhen, lesen wir im Vorwort von Bundesinnenminister Zimmermann, „daß Vorkehrungen im Bereich des Bevölkerungsschutzes nicht nur bei einer außenpolitisch-militärischen Krise und im Verteidigungsfall anwendbar sind, sondern ebenso der Bewältigung von friedenszeitlichen Katastrophen oder Krisen dienen.“ Die Verwischung ziviler und militärischer Aufgaben schreitet voran.
Fast zeitgleich beschloß das Kabinett eine neue Notstandsverordnung – in allen Arbeitsämtern der Republik werden Ausschüsse eingerichtet, die bereits im Frieden den Personalbedarf für Krise und Krieg planen und Zwangsrekrutierung für wichtige Betriebe vorbereiten. Die DGB-Führung hatte der konzertierten Aktion für die Staatsräson bereits 1984 zugestimmt. Schon heute regelt ein Eisenbahn-Militär-Tarif die Beziehungen zwischen Bahn und Bundeswehr – für die Beförderung einer Leiche oder mehrerer in einem Wagen verladenen Leichen wird 2,35 DM pro Tarifkilometer verrechnet, in Schnellzügen tritt hierzu ein Zuschlag von 1,25 DM pro Tarifkilometer.
Man braucht nicht gleich wie Krippendorff jede staatliche Verfaßtheit menschlichen Zusammenlebens mit Krieg identifizieren, um zur
Verweigerung des Wehrdienstes in „organisierter Friedlosigkeit“ aufzurufen. Schon die demokratische Dimension des Aufrufs der Gewerkschafter hatte die harschen Reaktionen im herrschenden Lager ausgelöst, auch weniger die Besorgnis über die Auswirkung der Summe von KDV-Anträgen. „Wir haben heute im Zivildienst vollständige Ruhe, nicht die kleinsten Ansätze von Aufruhr und Protest. Daraus ergibt sich der zwingende Schluß, daß der Zivildienst, so wie er ist, von den Dienstleistenden akzeptiert wird“, meinte vor wenigen Jahren der Leiter der Unterabteilung Zivildienst im zuständigen Bundesministerium. Seit 1956 haben eine Million junge Menschen den Dienst an der Waffe verweigert, am Ende des „Rekordjahres 1988“ jeder fünfte. Die gewährte Liberalität blieb prinzipiell gebunden an Rekrutierungserfordernisse der Bundeswehr, wie die Geschichte der Verweigerung in den letzten zwanzig Jahren gezeigt hat. Aus demokratietheoretischen Gründen und aufgrund dieser politischen Erfahrungen müßte sich ein öffentlicher Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung gegen die Institution der Wehrpflicht als solche in einer Demokratie richten.
Gegen die Zwangsrekrutierung und die Verplanung im zunehmend total werdenden System der Gesamtverteidigung wenden sich Totalverweigerer, gegen die in der Begrifflichkeit Otto Kirchheimers „Politische Justiz“ eingesetzt wird.
„Der politische Charakter der Verfahren wird dort besonders deutlich, wo die Angst der Richter vor den ‚Nachfolgern‘ formuliert wird.“ (Stephan Philipp) Das Wehrstrafgesetz spricht es sogar selbstbewußt aus, daß eine Freiheitsstrafe unter einem halben Jahr nicht zur Bewährung ausgesetzt werden soll, wenn die „Wahrung der Disziplin“ in der Institution Militär dies verlangt (vgl. § 14). Dem Totalverweigerer wird von konservativer Seite jegliche moralische Dignität abgesprochen. Er verweigert sich nicht etwa einer seiner Einschätzung nach sittenwidrigen und unvernünftigen Politik – präziser: einer durch die Staatsräson kanalisierten Gesellschaftspolitik in jenem Bereich, in dem sich Innenpolitik, Militärpolitik und Außenpolitik verschränken. In der Diktion des Bundesbeauftragten für den Zivildienst, Hintze, versperrt er sich dem „Dienst an der Gemeinschaft“. Daß es sich um ein gesellschaftspolitisches Thema handelt, zeigt sich auch daran, daß durch den Einsatz von Zivildienstleistenden die Arbeitgeber jährlich 2,2 Milliarden Mark sparen. Auf diese Weise entbindet sich der Staat ein Stück gesundheitspolitischen Problemdrucks, um eine militarisierte Sicherheitspolitik finanzieren zu können.
Daß sich die Exekutoren dieser Politik aber wohl nicht völlig auf das Funktionieren Politischer Justiz verlassen wollen, beweist ein Erlaß des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Wörner. Mindestens 1 Jahr Haftstrafe ohne Bewährung müsse eine Verurteilung vorsehen, sonst muß der Haftentlassene in jedem Fall erneut mit den Feldjägern vor seiner Tür rechnen, bis das vom Verteidigungsministerium für richtig gehaltene Strafmaß erreicht ist. Es gibt Richter, die sich geweigert haben, eine Mehrfachbestrafung vorzunehmen, und 1985 hat es sogar einen ersten Freispruch eines Totalverweigerers in erster Instanz gegeben. Leider vermochte das Jugendschöffengericht in Idar-Oberstein dies nur, weil der Betroffene seine Handlung nicht als politische Signalgebung für andere verstanden wissen wollte (Das Urteil wurde in 2. Instanz wieder aufgehoben.). Die 2. Jugendkammer des Landgerichts Ravensburg hat mit ihrem Beschluß vom 29.8.1988 ein Verfahren wegen Vergehens der Dienstflucht ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Ersatzdienstes stünde außer Zweifel, nicht jedoch die Einbindung dieses Ersatzdienstes in das Wehrpflichtigen-Gesetz.
Wenn Totalverweigerung nicht als politischer Demonstrationsakt praktiziert wird, verliert sie an Rationalität. Denn es besteht die Möglichkeit zu versuchen, sich auf geschickte Weise dem staatlichen Rekrutierungsakt in Zeiten organisierter Friedlosigkeit zu entziehen (Simulation von Krankheit oder vor der Einberufung durch einen Umzug nach West-Berlin – desertierte Totalverweigerer müssen jedoch damit rechnen, an staatliche Organe der Bundesrepublik ausgeliefert zu werden, im doppelten Sinne des Wortes. Jedenfalls hat die Justiz-Senatorin Limbach/SPD des Berliner Senats noch Mitte Mai 1989 dies angekündigt).
Schließlich sei auch daran erinnert, daß die Rekrutierung des Totalverweigerers im Rahmen der Gesamtverteidigung sich nur graduell von der Rekrutierung von Soldaten und Zivildienstleistenden unterscheidet. Die Notstandsgesetze im Spannungs- und Verteidigungsfall ermöglichen dem Staat z.B. in Form des Arbeitssicherstellungsgesetzes, Arbeitskräfte (alle männlichen Personen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren) „sicherzustellen“ – ob für den Bunkerbau oder anderes.
Ist der Aufruf zur amputierten Kriegsdienstverweigerung der IG Medien und der Abteilung Jugend der IG Metall mit der DFG/Vereinigte Kriegsdienstverweigerer aufgrund dieser Zusammenhänge als wertlos oder sogar negativ zu bewerten, weil irreführend? Es wäre sicherlich
ein Fortschritt, wenn in Zukunft den Totalverweigerern öffentliche Solidarität zukäme und eine unkritische Gleichsetzung von Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst vermieden würde. Allerdings dürfen wir den couragierten Gewerkschaftern des Aufrufs danken, nicht nur, weil die Verhinderung politischer Sozialisation junger Menschen im Sinne patriarchalischer Kultur in der Bundeswehr gar nicht positiv genug bewertet werden kann, wie dies einer isolierten Funktionsanalyse der Gesamtverteidigung kaum in den Blick kommt. Zu danken ist den GewerkschafternInnen auch deshalb, weil unsere Analyse gezeigt hat, gegen welche Kräfte, Tradition und politische Kultur der institutionalisierten „Arbeiterbewegung“ sie sich artikuliert haben. Zahlreiche Mitgliedschaften in der IG Medien sind mit Hinweis auf diesen Aufruf („zunehmende Ideologisierung der Gewerkschaftsarbeit“) gekündigt worden.
Der Staat kann kaum als Lizenzträger für eine antimilitaristische Orientierung fungieren. Sowohl organisatorisch als auch praktisch-inhaltlich wäre radikale Kriegsdienstverweigerung ein Beitrag zur Demokratisierung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Darin liegt auch immer noch das ureigenste Interesse der „Arbeiterbewegung“.

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