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Über das Dilemma von Strafe und Behandlung

Strafvollzug in Wohngruppen

Aus: vorgänge Nr. 100 (Heft 4. Juli 1989), S. 12ff

Mit Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes am 1.1.1977 erging an die Haftanstalten der Bundesrepublik der Auftrag, die Gefangenen im Vollzug der Freiheitsstrafe zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (§ 2 Strafvollzugsgesetz). Im weiteren Gesetzestext wird dieses Bemühen die „Behandlung des Gefangenen“ genannt, der eine „Behandlungsuntersuchung“ voranzugehen und die nach einer „Behandlungsplanung“ zu erfolgen hat ((§ 6 StVollzG), an deren Gestaltung der Gefangene mitwirken soll (§ 4 StVollzG).
Nach dem Willen des Gesetzgebers soll also weiterhin bestraft, aber zugleich behandelt werden, ohne daß neben dem immanenten Widerspruch von Schuldstrafrecht und Behandlungsindikation die gleichermaßen damit verbundenen sozialpädagogischen Probleme bis heute ein angemessenes Nachdenken im Justizvollzugsbereich ausgelöst hätten. Denn so unvermittelt, wie der Gesetzgeber im Grundsatzparagraphen 2 des Strafvollzugsgesetzes Strafabsicht und Behandlungsauftrag miteinander verbunden hat, so unreflektiert sind als ein „hervorragendes Mittel“ der Behandlung Wohngruppen als Sonderabteilungen des Regelvollzuges eingerichtet worden.
Weil in der Praxis eines Behandlungswohngruppen-Strafvollzuges die Handlungs- und Verhaltenskonzepte von „Bestrafung“ und „Behandlung“ eine besondere räumliche, personelle und organisatorische Dichte aufweisen, tritt die Problematik ihrer Verknüpfung hier entsprechend deutlich zutage. Dies soll im folgenden gezeigt werden. Dabei wird nicht die ganze Breite konkreter Erfahrungen aus dieser Praxis hier präsentiert2, sondern lediglich einige theoretische Reflexionen, die durch Beobachtungen im Wohngruppenalltag des Strafvollzuges ausgelöst wurden. Damit werden aber zugleich die ungeheuren Schwierigkeiten erkennbar (und erklärbar), mit denen sich die Praktiker des reformierten Strafvollzuges – Aufsichtsbedienstete, Sozialarbeiter, Psychologen – heute konfrontiert sehen.

Die Ausgangsthese
„Der Durchführung von Behandlung stehen in den Anstalten des Regelvollzuges … viele Hindernisse entgegen: 3 Wenn H.G. Mey im Anschluß an diese Feststellung auf die Gefahr hinweist, daß ein Übermaß an Zielkonflikten die Energie der Bediensteten bindet und ihre Aktivitäten so weitgehend lähmen kann, „daß unter Berufung auf die bestehenden Hindernisse überhaupt nichts mehr in Angriff genommen wird“, so ist lediglich zu ergänzen, daß diese Gefahr längst Zustand geworden ist. Die verantwortlichen Bediensteten haben resigniert, Wohngruppenvollzug ist zur nach außen hin schönenden, vollzugsintern belächelten Wortfassade verkümmert.4 Wo liegen die Gründe für diese Entwicklung?
Die Ausgangsthese der folgenden theoretischen Überlegungen lautet: Die rechtlich und vollzugspraktisch weitgehend unreflektiert gebliebene Verknüpfung von Bestrafung und Behandlung bringt den reformierten Strafvollzug in eine Sackgasse, weil die daraus er-wachsenden elementaren Zielkonflikte letztlich Behandlung überhaupt in Frage stellen müssen.
Gibt es zu dieser drohenden Abkehr5 eine Alternative? Von Behandlung haben sich beispielsweise die Skandinavier längst abgewendet, indem statt einer Behandlung im engeren Sinne die rechtliche Stellung und die Selbstverantwortlichkeit der Insassen erhöht und da-mit die strafende Isolierung durch die Haft zurückgenommen wurden.6 Das ist im Rahmen des geltenden Strafvollzugsgesetzes in der Bundesrepublik schwerlich möglich, so daß Behandlungsvollzug auf nicht absehbare Zeit das Strafanstaltsprogramm der Zukunft bleiben wird. Deshalb kann einer Abkehr vom Behandlungsgedanken hier nicht das Wort geredet werden.
Die konsequente Frage nach der Vereinbarkeit von Bestrafung und Behandlung sollte die Reformbewegung also nicht stoppen, sondern im Gegenteil voranbringen. Sie muß entgegen heutiger Praxis allen seriösen Überlegungen zur Konzeption des Behandlungsgeschehens im Strafvollzug zugrundeliegen, um einerseits der diffusen Illusion zu entgehen, der Behandlungsgedanke werde sich doch mit der Zeit gegen alle Widerstände durchsetzen, um andererseits reformadäquate Wege aus dem Dilemma zu finden und der Veränderung des Vollzuges neue, praktikable Anstöße zu geben.

Der Reformauftrag des Gesetzes: Behandlung in Wohngruppen
Zentraler Leitgedanke des Strafvollzugsgesetzes ist die „Behandlung“ des Gefangenen, die auf das primäre Vollzugsziel seiner Befähigung zu einem Leben ohne Straftaten in sozialer Verantwortung hinwirken soll (§ 2 StVollzG). Dazu werden Rahmenbedingungen als Gestaltungsgrundsätze des Vollzuges genannt: Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich angeglichen werden (§ 3.1), damit die Bedingungen des Freiheitsentzuges keine schädlichen Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Gefangenen haben (§ 3.2), sondern im Gegenteil Hilfe bedeuten, sich in das Leben in Freiheit wieder einzugliedern (§ 3.3). Die Möglichkeit und die Bereitschaft des Gefangenen zur aktiven Mitwirkung an seiner Behandlung werden dazu als die anzustrebenden Voraussetzungen angesehen (4.1).
Die der Normalität angeglichenen Lebensverhältnisse und -bezüge sollen unter anderem durch eine die Überschaubarkeit des sozialen Umfeldes gewährleistende innere Gliederung der Vollzugsanstalt (§ 143.2) sowie die wohnliche Gestaltung der Haftplätze (§ 144.1) angestrebt werden. Insgesamt muß die Behandlung den unterschiedlichen Bedürfnissen der einzelnen Gefangenen gerecht werden können (§ 143.1) Dies geschieht durch die Differenzierung des Anstaltssystems wie der einzelnen Haftanstalt (§141.1). Wohngruppenvollzug heißt die Lösungsformel eines an diesen Grundsätzen auszurichtenden, reformierten Strafvollzuges. An die Vollzugsanstalten erging damit der Auftrag zur Untergliederung ihres gesamten Haftkomplexes in kleinere, nach außen abgrenzbare, nach innen überschaubare und ausgestaltbare Vollzugseinheiten, für die das Strafvollzugsgesetz die Bezeichnungen Wohngruppen, Betreuungsgruppen und Behandlungsgruppen verwendet. Das Konzept der Wohngruppe realisiert und konkretisiert die drei Einrichtungsgrundsätze der inneren Differenzierung, der Überschaubarkeit und der wohnlichen Gestaltung, die wiederum aus den vier Gestaltungsgrundsätzen der Angleichung, der Gegensteuerung, der Wiedereingliederung sowie der Mitwirkung des Gefangenen abzuleiten und zu rechtfertigen sind.
Mit der Vieldeutigkeit des Behandlungsbegriffs und dem Verzicht auf eine klare Definition hat der Gesetzgeber dem Experimentieren einen weiten Raum gegeben und andererseits ermöglicht, daß alle in irgendeiner Weise geeigneten Maßnahmen, die jenseits von strafendem Einsperren die Zeit der Inhaftierung zur Förderung des Gefangenen nutzen, bereits als Behandlung gelten können.
Und wie die Vollzugskategorie der „Behandlung“ sehr allgemein und offen für vielfältige Interpretationen bleibt, bietet auch die der „Gruppe“ Möglichkeiten sehr unterschiedlicher räumlicher und organisatorischer Gestaltung. Je nach Anstaltsgegebenheiten und Reformwillen der Verantwortlichen werden die Behandlungsabsichten und die Gruppenformen in der Vollzugswirklichkeit eine vielschichtige Ausprägung erfahren.“ So wird das allgemeine Anstaltsprogranim einer „Behandlung in Wohngruppen“ nur allmählich seine Konturen erkennen lassen.
Nach dem Gesetzeswortlaut lassen sich hinsichtlich der denkbaren Programme von „Behandlung“ und „Gruppe“ in den Grundzügen folgende Bedeutungsinhalte und Organisationsstrukturen unterscheiden:
• Behandlung nach vom Gesetz vorgeschriebenem „Behandlungsplan“  bedeutet die Strukturierung der Haftzeit nach dem Prinzip der „Progression“ als zeitlich abgestimmte Anordnung von Maßnahmen der Förderung und schrittweisen Lockerung in Richtung auf die Entlassung. Die Einweisung in Betreuungs-, Behandlungs- oder Wohngruppen ist dann eine zeitlich begrenzte Maßnahme neben anderen innerhalb des Vollzugsplanes nach § 7 StVollzG.
• Behandlung im engeren Sinne sozialer Arbeit heißt Angebot und Sicherung von allgemeinen und besonderen, auf die Bedürfnisse des einzelnen abgestimmten Hilfen und Maßnahmen. Wird eine bestimmte Anzahl von Inhaftierten unter vorwiegend organisationstechnischen Gesichtspunkten einem oder mehreren „Betreuern“ zugeordnet, ohne daß eine nennenswerte räumliche Chance zur Initiierung von Gruppenprozessen besteht, so handelt es sich um eine „Betreuungsgruppe „. 8

• Behandlung im strengen Sinne und analog dem medizinischen Behandlungsbegriff heißt Anwendung spezieller psychotherapeutischer Methoden als Individual- oder Gruppentherapie. Trifft sich eine bestimmte, zu diesem Zweck zusammengefaßte An-zahl von inhaftierten regelmäßig zu Gruppensitzungen unter Anleitung und mit einem bestimmten methodischen Ansatz sozialtherapeutischer Gruppenarbeit, so kann von einer „Behandlungsgruppe“ gesprochen werden.9
• Behandlung in der allgemeinsten Bedeutung meint das beständige, zielgerichtete Bemühen um einen den spezifischen Bedürfnissen des einzelnen wie seiner aktuellen psychischen Verfassung und sozialen Situation gerecht werdenden und der Förderung zu seiner Wiedereingliederung günstigen Umgang mit dem inhaftierten Menschen im gesamten Vollzugsgeschehen. Danach umfaßt Behandlung „das gesamte Feld der Kommunikation und Interaktion zwischen dem Gefangenen und seinen Bezugspersonen“ im Beziehungsgefüge Strafvollzugsanstalt und verpflichtet alle Beteiligten.10  Behandlung in diesem umfassenden Sinne manifestiert sich dann vor allem als (im oben beschriebenen Sinne) angemessenes, beispielgebendes Alltagsverhalten im regelmäßigen Kontakt mit dem Gefangenen. Das geeignete, räumlich-strukturelle Arrangement dafür bietet die kleine „Wohngruppe“, in der Inhaftierte und zugeordnete Bedienstete nach dem Modell der „therapeutischen Gemeinschaft“ als soziale Einheit aufzufassen sind. 11
Die Wohngruppe soll im Strafvollzug als begrenztes soziales Lern- und Trainingsfeld fungieren, in dem im Ablauf alltäglicher Versorgungs-, Organisations- und Beziehungsvorgänge und im exemplarischen Erleben von Konflikt und Einigung die persönlichen Beziehungsschwierigkeiten erkannt, die normabweichenden Problemlösungstechniken durch korrigierende Einflüsse überflüssig und abgelegt und alternative Verhaltensmöglichkeiten einsichtig und geübt werden können. Unter Behandlungswohngruppen sind also zu verstehen kleinere Vollzugseinheiten, in denen das Arrangement der Untergliederung und Abgrenzung verhaltens- und sozialtherapeutisch genutzt werden soll, indem das gesamte Feld des engen alltäglichen Miteinander-Lebens durch sozialpädagogische Anleitung zur zielgerichteten Behandlungsmaßnahme installiert wird12, gegebenenfalls ergänzt durch ein spezielleres, methodisch-therapeutisches Instrumentarium.

Der Zielkonflikt im Gesetz
Es muß zweifelhaft erscheinen, ob Behandlung in Wohngruppen der so bestimmten Bedeutung unter Bedingungen des Strafvollzuges funktioniert und von den verantwortlichen Bediensteten geleistet werden kann. Denn mit dem gesetzlich festgeschriebenen Anstaltsprogramm „Behandlung im Strafvollzug“, das von Strafe nicht läßt und Behandlung nicht länger verweigert, erweist sich das Strafvollzugsgesetz als der konsequente Ausdruck eines historischen Dilemmas:
Der Gedanke der Strafe, die als Zufügung von Übel (als Äquivalent für begangenes Übel) immer auch Sühne, Vergeltung und Abschreckung impliziert, ist nach wie vor im gesellschaftlichen Bewußtsein tief verwurzelt. Der Behandlungsgedanke andererseits scheint mit den fortgeschrittenen Einsichten in die Ursachen delinquenten Verhaltens unabweisbar geworden zu sein. Daraus erwächst der gesetzliche Auftrag, unter Bedingungen des Freiheitsentzuges zu einem sozial verantwortlichen Umgang mit der Freiheit zu erziehen. Behandlung im Strafvollzug heißt letzten Endes, daß Momente, Absichten und Konsequenzen des gesellschaftlichen Ausschlusses einerseits, der gesellschaftlichen (Wieder-)Eingliederung andererseits immer zugleich sich manifestieren und damit irgendwie miteinander in Einklang gebracht werden müssen.
Das Strafvollzugsgesetz spricht im Grundsatzparagraphen 2 zuerst von Strafe: Der Strafabsicht wird der Behandlungsauftrag unvermittelt übergestülpt. So vernünftig es aber auf den ersten Blick erscheinen mag, Strafzeit zu Maßnahmen der Sozialisation sinnvoll zu nutzen, so problematisch und widersprüchlich wird es doch, wenn man die Grundsatzparagraphen des Gesetzes in ihrer eigentlichen Bedeutung liest und versteht:
– § 2, Satz 1: Im Entzug von Freiheit und Verantwortung soll der Gefangene fähig werden,
künftig in sozialer Verantwortung ein Leben in Freiheit führen zu können.
– § 3, Satz 1: Das Leben unter extrem unnormalen Lebensverhältnissen soll den normalen
Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden.
– § 3, Satz 2: Schädlichen Folgen schädigender Lebensbedingungen ist entgegenzuwirken.
– § 3, Satz 3: Der Entzug der Freiheit ist darauf auszurichten, daß er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.
§4, Satz 1: Der Gefangene wirkt an der Gestaltung seiner Unfreiheit mit. Seine Bereitschaft hierzu ist zu wecken und zu fördern.
Dennoch erscheint es voreilig und zu pauschal, den Strafvollzug von vornherein als ungeeignet für eine Behandlung des Gefangenen abzutun. Zum einen sind – wie gesagt – keine durchsetzbaren Alternativen in Sicht. Zum anderen wird dabei allzu leicht ein nicht ohne weiteres abweisbarer Zusammenhang übersehen: Immerhin ist der Delinquent auch straffällig geworden, weil er den Anforderungen und Belastungen seiner Freiheit in sozialer Verantwortung nicht gewachsen war, so daß – so gesehen – Freiheitsentzug, verstanden als Befreiung von Anforderungen und Entlastung von Verantwortung, durchaus einen Sinn ergibt. Dieser läßt sich allerdings glaubhaft nur dann vertreten, wenn Strafzeit konsequent daraufhin ausgerichtet wird, die Bereitschaft, die Befähigung und vor allem die Möglichkeiten und Gelegenheiten zu sozialer Verantwortung zu vermitteln und damit schrittweise soziale Wiederbelastung einzuüben. In diesem Sinne wäre die Grundstruktur eines sozialisierenden Strafvollzuges konsequent vom Gedanken „sozialer Progression“ bestimmt.
Man wird sich also den inneren Bedingungen und Widersprüchen des Auftrages eines Behandlungs-Strafvollzuges ernsthafter stellen müssen, um dem Behandlungsgedanken für die Zukunft eine Chance zu geben und die dazu unverzichtbaren Grundbedingungen für Einrichtung, innere Ausgestaltung und Organisation von Behandlungswohngruppen zu verdeutlichen und einzufordern. Dazu ist eine genauere Analyse der den Konzepten von „Bestrafung“ und „Behandlung“ immanenten Ziel- und Verhaltensstrukturen unerläßlich, was an dieser Stelle nur in der Form knapper Thesen geschehen kann.

Bestrafung und Behandlung in Wohngruppen: Zehn (pessimistische) Thesen
Die Dimensionen des Behandlungsauftrages für Strafanstalten werden deutlich, wenn die Prinzipien und Konsequenzen von Strafvollzug und Behandlungsabsicht in den ihnen immanenten Sinngehalten einander gegenübergestellt werden. Diese Konfrontation der Ideen von „Strafe“ und „Behandlung“ (als „Idealtypen“ im Sinne Max Webers13), der Bedingungen und Intentionen von Strafverhalten und Behandlungsverhalten auf Seiten der Strafvollziehenden wie der Bestraften, der Behandler wie der zu Behandelnden steckt einerseits die intendierte Reichweite des Reformansatzes ab und macht andererseits damit das weite Spannungsfeld erkennbar zwischen dem traditionellen Grundsatz des strafenden Freiheitsentzuges und der reformerischen Behandlungsabsicht. Nur die genauere Bestimmung dieses Spannungsfeldes kann die Bezugsebene sein für eine realistische Bewertung des gegenwärtig desolaten Wohngruppenvollzuges, für seine adäquate Weiterentwicklung und damit letztlich für die zukünftigen Chancen und Möglichkeiten von Behandlung.
Warum erweist es sich als so schwierig, Behandlungswohngruppen-Strafvollzug zu praktizieren? Dazu zehn pessimistische Thesen:
These 1: Der mit dem Strafvollzugsgesetz eingeführte Begriff der „Behandlung“ von Straftätern ist verfehlt und hat verhängnisvolle Auswirkungen, weil er einerseits ungerecht-fertigt hohe Ansprüche impliziert und entsprechend übersteigerte Erwartungen weckt, zum anderen in mißverständlicher Weise dem Inhaftierten die eher passive Rolle eines „Patienten“ anträgt und aus Gründen eben dieses am Vorgang der Medikation orientierten Sinngehalts bei den Betroffenen Ablehnung und Verweigerung provozieren muß.
Zunächst scheint der Anspruch erhoben, analog der medizinisch-therapeutischen Behandlung geeignete und erprobte Behandlungsmethoden zu kennen und mit diesen Methoden hinreichend vertraute, d.h, qualifizierte „Behandler“ einsetzen zu können. Dieser Anspruch ist ungerechtfertigt, die damit verbundenen Erwartungen sind bis heute nicht einlösbar.
Andererseits wird mit der unterstellten Notwendigkeit der Behandlung das Problem der Kriminalität in ungerechtfertigter Verengung der Perspektive personalisiert, indem deren Ursachen nur noch in vorgeblich einzugrenzenden und zu behebenden Persönlichkeitsdefekten des Täters ausgemacht, nicht aber auch und vor allem in widrigen sozialen Bedingungen seines bisherigen Lebenslaufes gesehen werden. Es erscheint abwegig und verhängnisvoll, verurteilte Straftäter als grundsätzlich behandlungsbedürftig einzuschätzen. Der Inhaftierte wird damit nicht nur als „Kranker“ gewissermaßen ein zweites Mal sozial ausgegrenzt, er wird auch im doppelten Sinne zum Erdulden verurteilt: Er wird bestraft und wird behandelt, beides zugleich wird an ihm „vollzogen“ als dem Objekt übergeordneter Straf- und Behandlungs-Autoritäten. Kein Wunder, wenn die meisten Inhaftierten diesem Ansinnen mit Mißtrauen begegnen oder aber dafür nur Hohn und Spott übrig haben und sich von vornherein verweigern. Selbst dann aber, wenn man „Behandlung“ in einem zutreffenderen Sinne versteht als einen zwar angeleiteten, aber vom Inhaftierten gewollten, aktiv anzugehenden und zu tragenden Prozeß des „sozialen Lernens“, treten die in den folgenden fünf Thesen zusammengefaßten institutionsbedingten Widersprüche unabweisbar zutage.
These 2: Grundmerkmal der Bestrafung ist die Unfreiwilligkeit des Gefangenen als Objekt eines in seinen Organisationsstrukturen herrschafts- und gewaltbestimmten Vollzuges. Leitgedanke eines sozialen Lernprozesses muß die Bereitschaft des Angesprochenen sein, an sich selbst als dem im Grundsatz anerkannten Subjekt eines Prozesses eine selbst gewünschte Änderung anzustreben.
Der Begriff „Strafvollzug“ trifft das Wesentliche, der Begriff „Behandlungsvollzug“ erscheint als Widerspruch in sich. Die Maßnahmen gegenüber dem Gefangenen werden voll-zogen im Medium von Befehl und Gehorsam, unter Anwendung von Drohung und Gewalt. Die Folgen sind im besseren Fall opportunistische Anpassung, häufiger jedoch Verweigerung und innerer Rückzug in die Unansprechbarkeit. Der Gefangene wird im doppelten Sinne „verschlossen“, und die wohlmeinendsten Absichten erreichen ihn nicht mehr.
Ein Lernprozeß bedarf sicherlich eines Anstoßes, der Stützung und Verstärkung von außen. Dies Bemühen muß aber auf Offenheit, Ansprechbarkeit und das Sich-Einlassen-Wollen treffen, soll im Medium von Gespräch, Überzeugung und vorbildhafter Einflußnahme der Angesprochene zu einem veränderten Selbst finden.
These 3: Folge der Inhaftierung ist ein fast totaler Rollenverlust als Verlust des Erwachsenenstatus mit der Folge des Verlernens persönlicher Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten.14 Das genaue Gegenteil ist mit sozialem Lernen intendiert: Dieses besteht im wesentlichen aus Rollenlernen zur Vermittlung von Handlungskompetenz und Erwachsenenstatus.
Der Gefangene erfährt seine Entmündigung und „Entsozialisierung“, indem ihm mit der Aussperrung aus der Gesellschaft und mit seiner umfassenden materiellen Abhängigkeit die Möglichkeiten und die Befähigung zur Selbstfürsorge und Selbstverantwortung schnell verloren gehen müssen, damit aber auch das Minimum an Gewißheit über den Wert der eigenen Person. Ziel eines sozialen Lernprozesses dagegen ist die (Nach-) Reifung der Persönlichkeit im Erfahrungslernen. Das setzt die Öffnung von Handlungs- und Beziehungsfeldern voraus, in denen Selbstfürsorge und Selbstverantwortung geübt und mit der Förderung von Erfolgserlebnissen und Selbsterkenntnis neues Selbstwertgefühl gewonnen werden kann.
These 4: Rollenverlust im Strafsystem heißt Bedürfnisversagung und bedeutet den Vorrang der Gehorsamspflicht in geschlossenen Vollzugsnormen bei dichter Außenkontrolle Rollenlernen im Gruppenprozeß bedeutet demgegenüber Bedürfnisvermittlung und Ar eignung von sozial angemessenen Weisen der Bedürfnisbefriedigung. Es beinhaltet da andererseits den Vorrang der Eigenverantwortung in offenen Gestaltungsnormen bei Förderung von Innenkontrolle.
Freiheitsstrafe bewirkt Entsozialisation im Sinne des Verlustes sozial vermittelter Bedürfnisbefriedigung: Verlust der Privat- und Intimsphäre, der Ich Ausstattung wie persönlicher Habe, eigener Kleidung und Wohnung sowie sonstigen Eigentums, Isolation von Bezugspersonen und Bezugsgruppen, Entbehrung heterosexueller Kontakte, Entwöhnung vom Umgang mit dem anderen Geschlecht, Monotonie der verbleibenden Beschäftigungs- und Arbeitsvollzüge, und dies in einem umfassenden Regelsystem ohne Handlungsspielraum, bei vollständiger aktenmäßiger Persönlichkeitserfassung in anonymer Massenexistenz. Das Erleben existenziellen Sinnmangels und die Erfahrung eigener Bedeutungslosigkeit müssen schließlich in Apathie und resignativen Rückzug münden. Soziales Lernen in Gruppen muß demgegenüber neue Erlebens- und Betätigungsmöglichkeiten erschließen und damit veränderte Ich-Erfahrungen einleiten. Das setzt entsprechenden Handlungs- und Erprobungsspielraum voraus, um einerseits Ich-Entfaltung und Selbstbehauptung, andererseits Selbstkontrolle und Konfliktfähigkeit zu üben. Das Ziel ist letztlich, in der offenen Kooperation mit anderen die eigenen Erlebensmöglichkeiten zu erweitern, das Ich neutral zu erfahren und damit neuen Lebensinhalt und Lebenssinn zu gewinnen.
These 5: Die Befehl-Gehorsam-Struktur des Strafsystems fordert und fördert ein Interaktionsgefälle mit typisch ausgeprägter sozialer Distanz zwischen Personal und Insassen: Demgegenüber setzt die Chance der positiven Einwirkung im Gruppenprozeß umgekehrt soziale Nähe voraus, indem konsequent auf eine – zumindest tendenzielle – Einebnung und Angleichung der Beziehungen zwischen Anleitern und Anzuleitenden hin-gewirkt werden muß.
Je totaler die Institution des Strafens ist, d.h. je lückenloser und zwanghafter die Regelbindungen, je geringer die Berücksichtigung der persönlichen Bedürfnisse des einzelnen, je kleiner die Privatnischen und Handlungsspielräume, desto dichter und unnachgiebiger müssen die Kontrollen sein, sollen Sicherheit und Ordnung gewährleistet werden. Für diesen Dienst ist soziale Distanz unverzichtbar und funktionell notwendig. Damit jedoch geht die Chance positiver Einflußnahme gegen Null, weil eine solche Interaktionsstruktur Mißtrauen, Vorurteile und Klischeevorstellungen vom Denken und Handeln des Menschen auf der jeweils „anderen Seite“ fördern muß. Die zwangsläufigen Folgen sind Unansprechbarkeit, Abschottung und gegenseitige Verständnislosigkeit, und eine Atmosphäre des offenen Miteinander-Redens, des von vertrauen geleiteten Überzeugens ist schwerlich herstellbar.
Umgekehrt: Je offener der Interaktionsprozeß unter den Bedingungen des sozialen Lernens, je eindeutiger die Verhaltensspielräume zum Einüben von Ich-Entfaltung und sozialer Verantwortung, je selbstverständlicher die Achtung der Persönlichkeitsrechte und je konkreter die Mitgestaltungsmöglichkeiten, desto echter wird das Verhältnis zwischen Anleitern und Anzuleitenden von Vertrauen, Nähe und wechselseitigem verstehen getragen. Die beiderseitige Anerkennung und Achtung im offenen Gespräch ist Medium eines sozialen Lernprozesses und Lernziel zugleich.
These 6: Das Unterwerfungssystem des Strafens treibt den Gefangenen um des sozialen Überlebens, um der Wahrung eines Restes an Anerkennung und Selbstachtung willen in eine verweigernde Subkultur der Passivität oder des Widerstandes. Das Gruppenklima des sozialen Lernens hingegen sucht den Angesprochenen einzuladen und zu gewinnen für eine aufbauende Gemeinschaftskultur der Kooperation und der solidarischen Aktivität.
In der wechselseitig sich hochschaukelnden „Ablehnung der Ablehnenden“ liegt für den Gefangenen die willkommene Möglichkeit zur Wiederaufrichtung des angeschlagenen Selbstwertgefühls. Soziale Zurückweisung wird mit Zurückweisung beantwortet und das Selbstbild nach Maßstäben mißtrauischer bis feindselig-verachtender Distanzhaltung wie-der aufgerichtet. Wie jede Ausgrenzung hat auch diese Ausgrenzung der Ausgrenzenden – als solche werden die strafvollziehenden Aufsichtsbeamten erlebt – den psychologisch überlebenswichtigen Effekt, Minderwertigkeitsgefühle zu lindern und Selbstachtung zu retten oder wiederzugewinnen, indem man Achtung, Anerkennung und damit Integration in der Solidargemeinschaft der Ablehnenden gewinnt. Diese bietet als anstalts- und gesellschaftsfeindliche Subkultur Ersatz für anderweitig entzogene und langfristig vorenthaltene Wertorientierungen und stellt das Selbstwertgefühl im Milieu solidarischer Antihaltung wieder her.
Wenn sich – anders im Milieu der sozialen Lerngruppe – im offenen Gespräch zwischen Anleitern und Anzuleitenden eine unmittelbare Beziehung anbahnt, die im helfenden Prozeß die gruppenbejahrende , Einstellung fördert, dann können typisch korruptive Techniken des Überlebens überflüssig werden .Das Prinzip der kooperativen Aktivierung bedeutet Mitverantwortung für das, was mit einem selbst und mit anderen geschieht, bedeute aber damit Aufhebung der Nötigung zum Rückzug in eine Kultur der Verweigerung. Das Angebot positiver Gemeinschaftsnormen soll Ablehnung überwinden und die gesellschaftsfeindliche Gegenkultur durch eine Kultur der helfenden Gemeinschaft ersetzen.
Nach dieser skizzenhaften, idealtypisch überzeichnenden Gegenüberstellung scheine Bestrafung und Behandlung (als angeleiteter Prozeß sozialen Lernens) in einem einander ausschließenden Verhältnis zu stehen. Zum gleichen Ergebnis muß man kommen, wenn man die primäre Form des Strafens und die primäre Form des Behandelns einander gegen überstellt. Bestraft wird vorzüglich durch Isolation, behandelt werden soll und muß aber durch Gruppenbildung. Isolierung und Gruppenbildung stehen in offensichtlicher Antinomie zueinander, was im Wohngruppen-Strafvollzug folgende Konsequenzen hat:
These 7: Bloße räumliche Abgrenzung, ein gemeinsames abstraktes Symbol (z.B. „Wohngruppe A“) und die zusätzliche Isolierung einer Anzahl Gefangener durch starre bürokratische Regeln machen aus dieser begrenzten Anzahl Menschen noch keine Gruppe. Wo für die Beteiligung an der Wohngruppe eigentlich Anlaß, innere Motivation und Interesse fehlen und die Mitgliedschaft institutionell aufgenötigt ist, handelt es sich um eine pathologische Form der Gruppenbildung, die „tote Gruppe“ ohne echte Gruppenmerkmale.15

Die entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren einer Gruppe mit dem notwendigen Gemeinschaftsbewußtsein besteht in der Möglichkeit und Fähigkeit, sich in ihrem Selbstverständnis gegenüber der Außenwelt abzugrenzen und durch Entwicklung von Wir-Gefühl zu einer eigenen Identität als Gruppe zu finden. Dazu müssen allen potentiellen Mitgliedern genügend Anreiz und Anlaß gegeben sein, d.h. das Erleben der Gruppe muß vom einzelnen als förderlich und lohnend empfunden werden. Eine Gruppe wird in dem Augenblick zur Gruppe, in dem sie sich selbst als solche entdecken, akzeptieren und als nützlich erleben kann. Gruppe muß überzeugende Inhalte haben.
Die Motivation zur Beteiligung an einer Behandlungs Wohngruppe, wenn sie überhaupt besteht, erweist sich als vorgetäuscht und scheinhaft. Die Bereitschaft folgt eher opportunistischen Gesichtspunkten: Der Gefangene verspricht sich gewisse äußere Erleichterungen, schnelleres Erreichen gewisser Vergünstigungen oder hat im Falle seiner Weigerung Angst vor etwaigen negativen Konsequenzen. Dem Versprechen oder der Erwartung eines wirklichen Gruppenlebens mit sozialem Lerneffekt fehlt unter diesen Umständen die wichtigste Voraussetzung: Anreiz und Motivation zum Mitmachen.
These 8: In der „totalen Gruppe“ der kasernierten Vergesellschaftung kommt es infolge fehlender Ausweichmöglichkeiten leicht zu emotionaler Überlastung und zu entsprechend eruptiven Gefühlsausbrüchen der Gruppenmitglieder. Es müssen sehr bald Tendenzen der Selbstzerstörung auftreten, weil der Therapie des totalen Einschlusses in einer Gruppe ein Mißverständnis über den sozialen Kontext von Gruppenleben sowie eine maßlose Überschätzung der Sozialisationswirkung von Gruppen zugrunde liegen. Gruppen leben von gemeinsamen Interessen und Zielen, darüber hinaus jedoch vor allem von den je individuellen Gefühls-, Stimmungs- und Problemwelten ihrer Mitglieder. Erlaubte und erwartete Gefühlsäußerungen jedes einzelnen Mitglieds machen die Lebendigkeit und die komplexe Beziehungsstruktur innerhalb einer Gruppe aus. Gruppen müssen für Gefühlsäußerungen ihrer Mitglieder empfänglich sein, können aber andererseits nicht alle Stimmungen und Leidenschaften gleichermaßen und zu allen Zeiten zulassen, sonst wären sie überfordert.16
Die funktionierende Gruppe ist gegen solche Überforderungen gesichert, nämlich einerseits durch eingehaltene Scham- und Taktnormen, andererseits durch die Öffnung nach innen wie nach außen: Das einzelne Mitglied muß ausweichen können nach innen durch Rückzug in eine persönliche und gegen Übergriffe geschützte Privatsphäre, und es muß Entlastung finden können nach außen durch Zugang zu anderweitigen Beziehungen.
Im Strafvollzug ist das Mitglied fast ausnahmslos und umfassend in die Wohngruppe eingeschnürt. Gruppe ist fast überall und rund um die Uhr und über lange Zeit. Als Folge brechen die Normen der Rücksichtnahme wegen emotionaler Überlastung leicht ein, und die Gruppe nimmt für den einzelnen den Charakter der Ausbeutung an. Wenn das gesamte Leben und Erleben nur noch Gruppenleben ist, werden der einzelne wie die Gruppe insgesamt durch nicht mehr ableitbare Gefühle überlastet, deren eruptive Freisetzung unvermeidbar ist und alle überfordert.

Ein Gleichgewicht von Stimmungsoffenheit und Gefühlsbestimmtheit einerseits, von emotionaler Kontrolle andererseits darf als Grundbedingung für die funktionierende Gruppe gelten. Neben der genannten Offenheit nach innen und außen wird dieses Gleichgewicht gewährleistet durch die Gruppenöffentlichkeit.
These 9: Die Wohngruppe ist Teil des Normalvollzuges und wie dieser geprägt durch eine penetrante Atmosphäre gegenseitigen Mißtrauens. Auf soziale Isolation reagiert das Individuum mit der zusätzlichen, „freiwilligen“ Isolation des Rückzuges in die innere Emigration: Eine Schutzreaktion gegen die Gefahr totaler Vereinnahmung. Damit aber werden Offenheit und Echtheit in der Gruppe, wird Gruppenöffentlichkeit verweigert.
Spannungen und Konflikte zwischen Gruppenmitgliedern werden gemildert oder gelöst durch das offene Gespräch in der Gruppe. Gruppenöffentlichkeit hat die wichtige Funktion, Leidenschaften, Stimmungen und Kontroversen nur in gedämpfter Form zuzulassen, ihnen damit die zerstörerische Wirkung zu nehmen und sie so „behandelbar“ zu machen durch die mäßigende Wirkung sozialer Kontrolle durch die Gruppe.
Im Strafvollzug wird die „Veröffentlichung“ von Gefühlen nicht gefördert und gewünscht, sondern im Gegenteil bewußt vermieden. Jeder hat bereits genug Bloßstellung durch seine Verurteilung und aktenmäßige Erfassung erfahren, zu viel ist bereits gegen ihn verwendet worden. Weitere „Entkleidung“ mit dem Risiko auch des Verlustes von reservierter Innenwelt wird verweigert. These 8 und 9 stehen zueinander nicht in Widerspruch, sondern in innerem Bezug: Weil kontrollierte Gefühlsoffenheit nicht möglich erscheint, sind unbeherrschte Ausbrüche absehbar. Die Pathologie der toten Gruppe ist bezeichnenderweise ebenso bestimmt von versperrter wie von eruptiv ungezügelter Emotionalität.
Als „chancenreichsten Helfer“17 im Vollzug sind die Beamten des allgemeinen Aufsichtsdienstes bezeichnet worden: Sie stellten die bei weitem größte Gruppe des Personals und befänden sich zum Gefangenen in der vergleichsweise größten räumlichen und sozialen Nähe. Mit der Resozialisierungsaufgabe in Form des Behandlungswohngruppen-Strafvollzuges aber sind die Beamten des Aufsichtsdienstes hoffnungslos überfordert:
These 10: Strafverhalten ist ein Verhalten der Versagung, des Mißtrauens und der Distanz, die Idee des sozialen Lernens aber verlangt Zuwendung, Vertrauen und Nähe. Beide Prinzipien miteinander versöhnen zu sollen, muß zur vollständigen Verunsicherung des Vollzugsbediensteten und schließlich zu seiner Verweigerung und seinem Rückzug in den Normalvollzug führen.
Da in der (Re-)Sozialisation weniger bestimmte Fertigkeiten und Kenntnisse als vielmehr Wert und Normen, Einstellung, Grundhaltungen und -überzeugungen vermittelt werden, kommt es darauf an, diese in häufigen, intensiven und gefühlsoffenen Kontakten erfahrbar und erlebbar zu machen: Über eine gefühlbedingte und gefühlsbestimmte Identifikation mit unmittelbaren Bezugspersonen geschieht (Re-)Sozialisation vor allem.
Vom Auftrag des „Strafvollzuges“ nicht freigestellt, soll der Aufsichtsbedienstete die psychische Nähe und das persönliche Vertrauen zum Gefangenen in dem Maße finden, wie es für eine positive erzieherische Einflußnahme unbabdingbar ist. Strafverhalten verlangt aber das genaue Gegenteil: Wo vielen Menschen auf engstem Raum in allen ihren Lebensbereichen Selbstbestimmung und Selbstgestaltung versagt werden, wird die Zwanghaftigkeit eines dichten Regel- und Kontrollsystems zur funktionalen Notwendigkeit.
Die „totale Institution“ in ihrer idealtypischen Ausprägung funktioniert nur so:
– Totalkontrolle ist nur gewährleistet durch die Ausschaltung von Ermessensspielräumen. Deshalb kann das Personal sich bei allen Anordnungen auf formale Regeln berufen, die – wenn überhaupt – nur eine eng begrenzte Auslegung zulassen. Die Unfreiheit des Insassen findet ihre Entsprechung in der Regelgebundenheit des Anstaltspersonals.
– Totalkontrolle ist nur gewährleistet durch die Ausschaltung von Entscheidungswidersprüchen und Kompetenzunsicherheiten. Deshalb ist das Entscheidungssystem des Strafvollzuges streng zentralisiert: Beinahe alle Entscheidungen von Gewicht werden durch die Position an der Spitze getroffen. Der Autonomieverlust des Insassen findet seine Entsprechung in der Befugnisbegrenzung und Kompetenzarmut des Anstaltspersonals.
– Totalkontrolle ist aber vor allem nur gewährleistet durch den entschiedenen Willen und die Entschlossenheit, Regeln und Versagungen „ohne Ansehen der Person“ durchzusetzen. Strafvollzug in seiner eigentlichen Bedeutung ist Abbruch und Verweigerung sozialer Zuwendung, besteht bekanntlich im Entzug sozialer Beziehungen. Die Rückzugshaltung des Insassen findet ihre Entsprechung in der funktionalen Distanzhaltung des Personals.
Regelgebundenheit, Kompetenzschwäche und Distanzhaltung müssen also als die überlebensnotwendigen Prinzipien für den Aufsichtsdienst in der Institution des Strafens gelten. Dies ist nur in einer Rolle zu leisten, die in hohem Maße formalisiert und durch Routine geprägt ist. Die Entfremdung und das Mißtrauen zwischen Personal und Insassen müssen begriffen werden als eine der Ziel- und Funktionsstruktur der Strafanstalt notwendig innewohnende Konsequenz. Strafvollzug prägt sich die Menschen so, wie er sie zur Durchsetzung seines Zweckes braucht. Diese Menschen sind dann aber kaum für die Zielsetzung der Behandlung verwendbar, zumal sich das Justizvollzugssystem dem Zielkonflikt eines Behandlungs-Strafvollzuges bisher nicht ernsthaft stellt, sondern diesen eher geleugnet oder ignoriert hat. Behandlung bleibt ein Etikett, hinter dem weiterhin nach den tradierten Maßstäben eines Ordnungs-, Sicherheits- und Verwahrvollzuges verfahren wird. Wo trotzdem Wohngruppenvollzug versucht wird, geht der Konflikt als Rollenkonflikt voll zu Lasten der Bediensteten, denen wirksame Voraussetzungen und Hilfen zur Umorientierung versagt bleiben. So ist die Flucht zurück ins Strafverhalten, der Rückzug ins „Haupthaus Strafvollzug“ vorprogrammiert als Folge einer in Ansätzen steckengebliebenen Reformabsicht.
Abkehr von Behandlungsgedanken?
Eine Analyse der Ziel- und Verhaltensstrukturen eines Behandlungswohngruppen-Strafvollzuges scheint der Abkehr vom Behandlungsgedanken die schlüssigsten Argumente zu liefern. Es zeigen sich zu viele Widersprüche, die bisher übersehen oder geleugnet wurden, und demzufolge keine Ansätze in der Praxis, diese zu bearbeiten und ernsthaft ihre Vermittlung zu versuchen. Der Strafvollzug mit seinen tradierten Prinzipien der Abschreckung, Sicherheit und Ordnung reagiert nur systemgerecht, wenn er dem Behandlungsauftrag fremd und abweisend gegenübersteht. Kann entgegen dieser Erkenntnis am Behandlungsgedanken in dem hier dargestellten Verständnis festgehalten werden? Einige Überlegungen und Argumente sprechen dafür.
Zunächst noch einmal: Das Herunterspielen, Ignorieren oder gar Bestreiten täglich erlebbarer eklatanter Unvereinbarkeiten im Behandlungsvollzug hilft aus der desolaten Situation nicht heraus, sondern macht letztlich die allgemeine Resignation zum Programm. Nur die konsequente Frage nach der Vereinbarkeit von Bestrafung und Behandlung kann ein Behandlungskonzept begründen, rechtfertigen und gegebenenfalls voranbringen, indem da-mit Widerstände bloßgelegt, althergebrachte Strukturen der Selbstverständlichkeit in Frage gestellt und Bedingungen für wirksame Veränderungen verdeutlicht werden.
Im Strafvollzugsgesetz werden Strafe und Behandlung vorgeschrieben. Eine erneute – und dann radikale – Gesetzesreform ist auf absehbare Zeit nicht in Sicht. Also muß mit dem Behandlungsauftrag verantwortlich umgegangen werden. Wer der Abkehr vom Behandlungsdenken das Wort redet, wendet sich damit letzten Endes resigniert vom Strafvollzug überhaupt ab und übernimmt eine Mitverantwortung für seine Zukunft, indem er das Feld denen überläßt, die keine Probleme mit Strafe haben. Der Rückfall in das reine Strafdenken aber ist weder ethisch noch wissenschaftlich noch politisch oder sonst irgendwie zu vertreten.
Zum anderen würden damit die historischen Dimensionen des Geschehens übersehen. Das Strafprinzip beinhaltet letztlich steingewordene, tief in geschichtlichen Denktraditionen verwurzelte Bewußtseins- und Reaktionsstrukturen, deren Veränderungen nicht durch einen bloßen, einmaligen Gesetzesakt, sondern nur über längere Zeiträume in kleinen und kleinsten Schritten denkbar sind. In diesem Sinne muß das Strafvollzugsgesetz als Reformprogramm für die Zukunft begriffen werden. Ungeduld und ideologischer Rigorismus er-scheinen unter diesen Gesichtspunkten fehl am Platz.
Schließlich ist bei aller vorgetragenen Skepsis und entgegen der vermeintlichen Schlüssigkeit der Antinomie von Bestrafung und Behandlung noch einmal darauf hinzuweisen, daß es sich hier um eine idealtypische Gegenüberstellung handelt. Als Erkenntnisinstrument beschreibt diese nicht die Wirklichkeit in all ihren komplexen Abstufungen und Schattierungen, sondern „bringt sie auf den Begriff“, indem sie analytisch abstrahierend darstellt, was Strafprinzip und was Behandlungsabsicht ihrem eigentlichen Sinngehalt nach meinen und bedeuten. Dies geschieht zum besseren Verständnis, zur genaueren Bewertung und schließlich zur Veränderung von sozialer Wirklichkeit.
Strafe und Behandlung in ihrer „reinen Absicht“ schließen wohl einander aus. Aber bekanntlich strotzt das soziale Leben vor Paradoxien und Dilemmas. Zudem sind Strafe und Behandlung nun einmal keine konstanten Faktoren, sondern veränderliche Größen einer wandelbaren sozialen Realität, und daraus ist auf der Grundlage der obigen Betrachtungen zu schlußfolgern: Je ausgeprägter das Prinzip des Strafens die Realität bestimmt, desto weniger hat Behandlungsabsicht eine Chance auf Durchsetzung und Wirksamkeit. Daraus wiederum kann im Umkehrschluß abgeleitet werden: Je mehr die Strafabsicht zurückgenommen und Freiheitsstrafe auf ihre nicht mehr weiter reduzierbaren Momente eingeschränkt wird, je mehr dafür die Prinzipien einer Initiierung, Motivierung und Förderung sozialen Lernens in den Vordergrund treten, desto deutlicher werden Behandlungschancen in einem neuen Licht erscheinen können. Muß, so ist zu fragen, das Strafprinzip, sein historisches Gewicht behalten? Was geschieht und wird möglich, wenn dem Strafgedanken Zügel angelegt und der Behandlungsgedanke eine eindeutige Dominanz in der Organisation Justizvollzug gewinnt?
Das Aufsatteln von Behandlung auf Strafe und damit letztlich die reale Einheit des Widersprüchlichen: „Strafbehandlung“ oder „Behandlungsstrafe“ kann nicht die historische Lösung sein. Das Gesetz erlaubt die Dominanz von Behandlung, indem es das Leben des mit dem Ziel der Wiedereingliederung zu Behandelnden so normal als möglich gestalten und allen schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges begegnen will. Dieses Programm ist aber noch gar nicht ernsthaft in Angriff genommen worden, und bevor dies nicht geschieht, kann über Strafe und Behandlung sowie über das Scheitern des Behandlungsvollzuges nicht abschließend und zuverlässig entschieden werden.18 Aufgabe von Behandlungsforschung und Behandlungspraxis wäre es, die gesetzlichen Spielräume rechtspolitisch zu ergründen und rechtspraktisch wie sozialpädagogisch schrittweise voll auszuschöpfen. 19  Die Bandbreite der Gesetzeskommentare läßt Möglichkeiten einer nicht unerheblich veränderbaren Vollzugspraxis erkennen. Die historische, ethische und politische Aufgabe muß es sein, das Strafdenken und Strafhandeln zurückzudrängen zugunsten einer konsequenten Behandlungsorganisation des Justizvollzuges.
Einzukalkulieren bleibt nach diesen Überlegungen allerdings die Aussicht, irgendwann offen und ohne Umschweife eingestehen zu müssen, daß über formalisierte Bildungs- und Ausbildungsmaßnahmen hinaus unter Bedingungen des strafenden Freiheitsentzuges nicht nennenswert wirksam behandelt werden kann.

1 Krumsiek, R., Der Minister des Landes Nordrhein-Westfalen informiert: Strafvollzug auf dem Prüf-stand. Resozialisierung oder Verwahrung. Düsseldorf 1987, S. 18.
2Eine Zusammenfassung dieser Erfahrungen durch G. Stäwen unter dem Titel „Behandlungswohngruppen im Regelvollzug. Bedingungen, zentrale Probleme und Perspektiven aus der Sicht der Sozialarbeit“ erscheint im Herbst 1989 in der Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe (ZfStrVo).
 3 Mey, H.-G., Zum Begriff der Behandlung im Strafvollzugsgesetz (aus    psychologisch-therapeutischer Sicht). In: ZfStrVo 1 / 1987, S. 45.
4Schulte-Altedorneburg, M., Zum Behandlungsauftrag des Strafvollzugsgesetzes. Wohngruppen in konventionellen Strafanstalten – Reformabsicht oder Fassaden-Kosmetik? In: vorgänge 29 / 1977, S. 106-111.
5 Hilbers, M., Lange, W, Abkehr von der Behandlungsideologie? In: KrimJ 5/1973, S. 52 – 59. Strafe und Behandlung halten für grundsätzlich unvereinbar u.a.: Rasch, W., Nachruf auf die sozialtherapeutische Anstalt. In: Bewährungshilfe 1985, S. 319-329. Feltes, Th. , Die Wende? In: Bewährungshilfe 1986, 5. 233 -255.
6 Driebold, R., Hisao Katoh; Das Staatsgefängnis Ring – Tendenzen des Strafvollzuges in Dänemark. In: Driebold, R. (Hg.); Strafvollzug. Göttingen 1983, S. 151.
Gerade die Unverbindlichkeit des Gesetzes hinsichtlich möglicher „Behandlungsgruppen“, „Betreuungsgruppen“, „Wohngruppen“ öffnet dem Etikettenschwindel jedweder Form Tür und Tor. Dazu: Schulte Altedorneburg, M., a.a.O.
8 Je nach Größe sowie räumlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen in der Anstalt können Betreuungsgruppen vereinzelte Merkmale von Wohngruppen haben. Bei den gegebenen unzulänglichen Anstaltsstrukturen wird es sich dabei jedoch um die mehrheitliche Restkategorie von Gefangenen handeln, denen als Quasi Wohngruppe die minimalsten Voraussetzungen zur Bildung gruppenhafter Beziehungsstrukturen fehlen. Schumann definiert das Kriterium der Überschaubarkeit im Strafvollzug wie folgt: Betreuungsgruppen 25 – 30 Personen, Behandlungsgruppen 5-15 Personen, Wohngruppen 4-7 Personen (In: Reihe Alternativkommentare – Komentar zum Strafvollzugsgesetz, hrsg.v. R. Wassermann, Neuwied/Darmstadt 1980, § 143, Rz9).
Solche Behandlungsgruppe kann zugleich Wohngruppe sein, braucht es aber nicht. Werden Wohngruppen angeleitet durch regelmäßige Sitzungen mit dem Charakter der Selbsterfahrungsgruppe zum Bewußtmachen und Aufarbeiten gruppendynamischer Prozesse des Alltags mit der Absicht gezielter Veränderungen des Einzel- und Gruppenverhaltens, oder werden weitere psycho-therapeutische Methoden in Ergänzung zum alltäglichen angeleiteten Gruppenleben eingesetzt, so ist von Behandlungswohngruppen zu sprechen.
10 Callies, R.-P., Müller-Dietz, H.; Strafvollzugsgesetz (Kurzkommentar). 2. A. München 1979, § 4, Rz6.
11Wohngruppe in diesem Sinne beruht auf dem Konzept der „problemlösenden“ oder „helfenden“ oder „therapeutischen Gemeinschaft“. Dazu umfassend Vormann, G.; Therapeutische Gemeinschaft. Das Heil in der Gruppe. In: Petzold, K(Hrsg.); Wege zum Menschen. Ein Handbuch. Bd. II. Paderborn 1984, S. 489-561.
12 Die Affinität dieser Sozialpädagogik zu noch mehr Kontrolle im Vollzug durch Abgrenzung und Überschaubarkeit liegt auf der Hand.
13 Nach M. Weber ist der „Idealtypus“ ein Ideal- oder Gedankenbild, das weder die historische noch die eigentliche Wirklichkeit ist, sondern eine Utopie, die „die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffs hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteil ihres empirischen Gehalts gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ Weber, M.; Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. In: Soziologie, Weltgeschichtliche Analyse, Politik. Stuttgart 1964, S. 234f.
14 Hohmeier, J.; Die soziale Situation des Strafgefangenen: Deprivation der Haft und ihre Folgen. In: Lüderssen, K., Sack, F. (Hrsg.); Seminar: Abweichendes Verhalten III. Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität 2. Frankfurt 1976, S. 433 – 451.
15 Ammon, G.; Was macht eine Gruppe zur Gruppe? In: Ders. (Hrsg.); Analytische Gruppendynamik.
Hamburg 1976, S. 59. 16 Zu diesen „Balancierungsproblemen“ der Gruppe Neidhardt, E; Innere Prozesse und Außenweltbedingungen sozialer Gruppen. In: Schäfers, B. (Hrsg.); Einführung in die Gruppensoziologie. Heidelberg 1980, S. 105 – 126.
17 Hohmeier, J.; Aufsicht und Resozialisierung. Stuttgart 1973.
18 Busch, M.; Gescheiterter Behandlungsvollzug? In: S. Müller, H.-U. Otto (Hrsg.); Damit Erziehung nicht zur Strafe wird. Bielefeld 1986. S. 143- 162.
19 Welche Schritte zur erprobenden Weiterentwicklung der Behandlungswohngruppen denkbar und not-wendig wären, wird in einem Aufsatz beschrieben, der im Herbst 1989 in der ZfStrVo erscheint: Lorch, A., Schulte-Altedorneburg, M., Stäwen, G.; Die Behandlungswohngruppe als lernende Gemeinschaft. Grundlagen und Folgerungen.

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