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Die Revolution.

vorgängevorgänge 10007/1989Seite 73

Versuch einer psychologischen Deutung

In: vorgänge 100 (4/1989) S. 73f

Revolutionen pflegen die Zeitgenossen zu faszinieren und lassen die folgenden Generationen mit Stolz auf ihre Geschichte zurückblicken. Völker, die eine Revolution vorweisen können, wähnen sich oftmals noch nach Jahrhunderten der Freiheit verpflichtet. Revolutionen sind Gütesiegel für politisches Bewusstsein, das Völker über die Klassenschranken hinweg zu einen vermag. So hat das französische und britische Nationalbewusstsein seine Wurzeln auch in den gelungenen Revolutionen, um so mehr, so scheint es, als dabei auch zwei Könige über die Klinge springen mussten. Auch die Russen sind stolz auf ihre Oktoberrevolution, man täusche sich nicht. Sollte es gelingen, Stalin und die Folgen zu beseitigen – durch eine Revolution von oben? – wird dies noch deutlicher werden.

Diesbezüglich haben wir Deutschen nichts vorzuweisen. Es sei die Tragik der Deutschen, spottete Friedrich Nietzsche, dass es ihnen nie gelungen sei, einem König den Kopf vor die Füße zu legen. Kein Wunder, meinte Lenin, frage doch der wohlerzogene Deutsche erst um Erlaubnis, den Rasen betreten zu dürfen, wenn er sich zur revolutionären Tat durchgerungen habe.

Nun, ganz so arm stehen wir nicht da. Der Bauernaufstand war eine Revolution, wenn gleich eine gescheiterte. An ihr hat sich – leider und zu Unrecht – kein Geschichtsbewusstsein entzündet, ein Nationalbewusstsein konnte und sollte sie nicht stiften. Aber vielleicht Klassenbewusstsein? Doch wer in Deutschland auch wollte sich nach dem Verdickt Luthers mit den tumben und rohen Rotten der Bauern identifizieren, die sich wie gequältes Vieh von den Ketten gerissen und wenig mehr vermocht hatten, als drein zu hauen?

Keine theoretische Fundierung und Legitimierung der Gewalt, wie sie 400 Jahre später Lenin vortrug, keine pathetische Pose, keine intellektuelle Billanz, wie 260 Jahre später in Frankreich, sieht man von Ullrich von Hutten ab, aber der war ja keiner der ihren. Sogar ihre Anführer mussten sie sich von den Adeligen leihen.

In Deutschland war schwer Revolution machen, weil es an einer zentralen politischen Gewalt fehlte. Die Repression ging nicht von einer Zentralinstanz aus dem Kaisertum aus, sondern teilte sich auf in die zahllosen Subzentren der geistlichen und weltlichen Fürstentümer, wodurch sie eher potenziert wurde. Die Herrschenden waren immer solidarisch und kamen sich gegenseitig rasch zu Hilfe, die Unterdrückten und Ausgebeuteten konnten sich über die engen Grenzen hinweg nicht organisieren.

Keine gelungenen Revolutionen also, auch der Versuch von 1848 wurde in den Straßenkämpfen von Berlin, Dresden und Wien zusammengeschossen und 1918 fing die SPD den revolutionären Geist auf und domestizierte ihn. Aber doch Revolutionäre von globaler Wirkung: Martin Luther und Karl Marx. Revolutionen werden nicht vom Leidensdruck der Unterdrückten und Ausgebeuteten ausgelöst – das ist der Irrtum der meisten Revolutionstheorien einschließlich der Marxschen, sondern von Ideen und von charismatischen Führern.

Das Faszinosum von Revolutionen ist ein mehrfaches. Da ist einmal die Totalität der Gewalt, denn es muss ja ein System gebrochen werden, das mit dem Anspruch auf Legitimität den Staat repräsentiert und damit das Gewaltmonopol besitzt, nicht nur das exekutive, legislative und judikative, politische und militärische, sondern auch das soziale, gesellschaftliche und ökonomische. Die Repräsentanten das Systems verfügen also zunächst über alle Ressourcen und Hilfsquellen, die Revolutionäre über nichts außer Hoffnung, Begeisterung, Utopien, Ideen, Verschlagenheit, Rücksichtslosigkeit und Entschlossenheit zur Gewaltanwendung …

… und ihren Schuldgefühlen, denn sie verstoßen nicht nur gegen das geltende Recht und Gesetz, sind also zunächst Rechtsbrecher und Kriminelle, sondern auch gegen den von jedem einzelnen verinnerlichten Normenkatalog verfestigt im L1ber-Ich, damit gegen ihr Gewissen. Jeder Revolutionär steht unter einem Rechtfertigungszwang, der immer moralischer Natur ist. Er legitimiert seine Gewaltanwendung als Akt der Befreiung von sozialer Not oder politischer Willkür, als Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Menschenwürde. Das Herrschende System muss dagegen als moralisch illegitim entlarvt werden, das wenige privilegiert und die Mehrheit unterdrückt, seine Repräsentanten als Inkarnationen von Unrecht und Unterdrückung, als Negationen des Menschlichen, so dass der „Tyrannenmord“ gerechtfertigt, ja notwendig wird. Die Einsprüche des Gewissens oder des Über-Ich werden durch ein Ich-Ideal außer Kraft gesetzt, das nüchternes Kalkül in Begeisterung transformiert und dann auch in der Lage ist, nicht nur das Opfer der eigenen Existenz zu bringen, sondern auch das Opfer Unschuldiger hinzunehmen. Der Zweck heiligt die Mittel – paradoxerweise entscheidet erst der Erfolg einer Revolution über die moralische Berechtigung dieses Credos. Goethe, Schiller oder Hegel wollten es nicht akzeptieren angesichts der Ströme von Blut – auch unzähliger Unschuldiger – die von der Guillotine auf dem Place de la Concorde flossen.

Revolutionen faszinieren, weil sie an die Stelle der Perspektivlosigkeit eines erstarrten, adaptionsunfähig gewordenen Systems eine Utopie setzen und damit Hoffnungen wecken. Die Formulierung „erstarrtes System“ ist eigentlich eine unzulängliche Metapher, die verdeckt, dass ja weiterhin dynamische gesellschaftliche Prozesse ablaufen, die sich aber staunen und nach innen gerichtet werden. Statt einer Evolution findet eine Involution statt. Die Analogie mit Naturprozessen ist durchaus statthaft, und die Ethologie weist ausdrücklich auf sie hin: Wenn ein System unter der Bürde seiner Subsysteme erstarrt, etwa eine Tierart,

„kann die Selektion nur mehr durch Ausrottung entscheiden“ (Rupert Riedl). Der Verlust an Anpassungsfähigkeit führt zum Zusammenbruch, wenn der evolutionäre Druck solche fordern sollte.

Den wachsenden Verlust an Evolutiver Fähigkeit gleichen erstarrte politische oder soziale Systeme durch reziprok steigende Repression aus, wird die Distanz zu vor allem wichtigen Gruppen gefährlich, etwa zu den Intellektuellen, großbürgerlichen Schichten, dem Militär, der Arbeiterschaft – je nach der historischen Situation und der Konstitution des Systems. Es entfremdet sich noch weiter von der Mehrheit der Bevölkerung. Die Basis, aus der heraus es sich regenerieren könnte, schrumpft auf die dünne Schicht der Profiteure und Privilegierten zusammen. Je stärker die Repression, desto größer die Chancen für Utopien und zündenden Ideen. Sie finden sogar Anhänger unter der das System noch stützenden Schicht, wie die vielen Beispiele revolutionärer Adeliger und Großbürger aus der Französischen und der Oktoberrevolution zeigen. Die Verteidigung des Systems wird halbherzig, dadurch paralysiert es sich selbst. Der wachsenden Aggressionsbereitschaft der Unterdrückten entspricht eine schwindende Verteidigungsbereitschaft der systemtragenden Schichten.

Revolutionen entstehen kaum durch spontanen Ausbruch des Leidensdrucks unterdrückter Massen. Da sich die Massen nicht selbst organisieren können, wären sie auch zu zielgerichteter Aktion unfähig. An diesem Dilemma scheiterte der deutsche Bauernaufstand. Es bedarf der ldee als zündender Fackel und einer Gruppe entschlossener Aktivisten, die wiederum mindestens einen charismatischen Führer hervorbringen muss, der die Verantwortung übernimmt und die Massen von ihren Schuldgefühlen entlastet. Das hat Lenin richtig aus der Geschichte erkannt und selbst danach gehandelt. Erst unter diesen Voraussetzungen ist „revolutionäres Bewusstsein“ zu vermitteln, d.h. die Aggressionsbereitschaft der Massen zu mobilisieren.

Der Sturz einer herrschenden, erstarrten, repressiv und perspektivlos gewordenen Ordnung scheint überdies einem psychischen Bedürfnis entgegenzukommen, das Freud in seiner Theorie vom Ödipus-Komplex – allerdings völlig missverständlich – gedeutet hat. Ausgehend von dem ontogenetischen Befund, dass der Sohn in der phallischen und später noch stärker in der genitalen Phase mit dem Vater um die Mutter konkurriert und Todeswünsche entwickelt, gleichzeitig allerdings auch Schuldgefühle, schloss Freud auf eine phylogenetische Tatsache: Die Söhne rebellieren gegen die Väter und „töten“ sie, indem Sie sie verdrängen. Dort, wo ein Über-Vater tatsächlich getötet worden sei – Freuds Urhorden-Modell – hätten ihn die Söhne aus Schuldgefühlen und Strafbedürfnis allmählich zu einem Gott erhoben und verkehrt.

Neuere psychoanalytische Forschungen (z. B. Michael Balint) kommen zum entgegengesetzten Ergebnis: Erstens trete der Ödipus-Komplex nur in patriarchalisch strukturierten Gesellschaften auf, in denen eine strenge, körper- und lustfeindliche Moral und damit So nahe, dass es die Väter sind, die aus Angst vor der jugendlichen Vitalität und – nach Freud – größeren sexuellen Potenz die Söhne unterdrücken, wenn nötig töten und in Bruderkonflikte treiben. Gehorsamsdruck und Schuldgefühl der Söhne seien viel zu stark, um dem Haß nachzugeben und die Väter gewaltsam zu verdrängen oder gar zu töten. Sie mildern statt dessen den Konflikt durch Identifikation, vorübergehendem Gehorsam und Unterwerfung, weil ja die Zeit sozusagen für sie arbeitet: Es kommt die Zeit, da sie die Väter auf natürliche Weise beerben und sich an ihre Stelle setzen werden. So spielt sich ja im übrigen auch Tradition ab. Eine Rebellion der Söhne gegen die Väter – wie es Freuds Ödipus-Interpretation nahe legt – wäre ein sich von Generation zu Generation wiederholender Traditionsabriss, der keine historische Kontinuität zuließe.

Sehen wir einmal von dem Modell streng hierarchisierter Jägergruppen ab, in denen sich der Paläoanthropologie und Ethologie zufolge der Prozess der Menschwerdung über rund 20 Millionen Jahren hinweg vollzog (und Verhaltensweise bzw. -dispositionen hervorbrachte, die die Evolution im Genom fixierte), so sind es offenkundig die Väter, die die Söhne unterdrücken, regieren, Hierarchien und vielfältigen Initiationsritualen unterwerfen, in Armeen rekrutieren, asketische Tugenden vorschreiben, den Moralkodex bestimmen, über Sanktionen und Gratifikationen entscheiden, das Sexualverhalten außerhalb und innerhalb ritualisierter Geschlechtsbeziehungen reglementieren, die Politik gestalten, über Kriege entscheiden und die Söhne dann in den Tod jagen. Auf den Schlachtfeldern aber stehen sich Brüder gegenüber, gleichaltrige bzw. gleichjunge. Ein Über-Vater wie General Ludendorff konnte noch 1919 sagen, ein Volk brauche von Zeit zu Zeit den Krieg als „Jungbrunnen“, um sich zu regenerieren wie durch einen heilsamen Aderlass. Wenn man Volk durch „Patriarchat“, also die Herrschaft der Väter ersetzt, so macht dieser Ausspruch Sinn: Kriege regenerieren das Patriarchat, weil sie die Jugend dezimieren und damit das es bedrohende Potentialschwächen.

Das ist der historische Normalzustand, wie er sich im übrigen auch im Mythos widerspiegelt. Zahllos sind die Beispiele, in denen die Söhne von den Vätern ruiniert wurden: Tantalus, Sisyphus, Herakles, Orpheus, aber auch Kain (dem Gott der Vater willkürlich seine Liebe entzieht und ihn so zum Mörder werden lässt, um ihn dann zu strafen), und in der Literatur Don Juan, Hamlet, Carlos usw. Und schließlich der Mythos von Christus, „das Irritierendste, was eine patriarchalische Gesinnung hervorgebracht hat“ (Volker Elis Pilgrim). Der allmächtige Vater lässt den gehorsamen Sohn einen grausamen Opfertod sterben für Kinder, die sich versündigt haben, nimmt alle gnädig wieder auf und verfestigt damit sein Patriarchat. Schon der gedachte Zweifel an ihm ist straf- und beichtwürdige Sünde.

In der Revolution aber wird patriarchalische Herrschaft in Frage gestellt, sie führt zu einer tatsächlichen „ödipalen Situation“, d.h., die Söhne töten die Väter, die Patriarchen, Monarchen, Hierarchen, die individuellen und kollektiven und die vielen Ersatzväter oder Vater-Instanzen, wie sich in den hierarchischen Spitzen der verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen und Subsysteme (Kirche, Militär, Verwaltung, Parteien, Organisationen, Verbänden, Wirtschaft und Industrie usw.) repräsentieren. Revolutionen sind Aufstände der Söhne gegen die Väter und daher tatsächlich ein Akt der Befreiung von Unterdrückung jedweder Art, in gesellschaftlicher, politischer, militärischer, moralischer, aber auch und nicht zuletzt von unerträglich gewordener psychischer Repression.

Nahezu alle Rebellen und Revolutionäre sind von jugendlichem Alter, Marat, St. Just, Danton, Robbespierre in Frankreich, Hecker und Struve in Baden, Villa und Zapata in Mexiko, Lenin und seine Genossen in Russland, die Arbeiter- und Soldatenräte in Deutschland, Mao Tsetung in China, Castro und Kuba.Es gibt so gut wie keine Revolutionäre oder Rebellen im „väterlichen“ Alter.

Revolutionen sind daher nicht nur politische Ereignisse, sondern auch psychische Umwälzungen, eine Rebellion gegen das Vaterideal, das gleichwohl für die Entwicklung des Individiums entscheidend bleibt, und gegen den verinnerlichten Normen- und Wertekodex. Sie wirken bei den agierenden Individuen schwere, wenngleich unbewusst bleibende Schuldgefühle, Strafängste, und Strafbedürfnisse. Nur so ist es erklärlich weshalb Revolutionen nach Ihrem Erfolg rasch wieder scheitern und ihre „Kinder fressen“. Die Gruppe der entschlossenen Aktivisten zerstreitet sich, nachdem sie die Macht erobert hat, die Führer beschuldigen sich gegenseitig, die Ziele der Revolution zu verraten und insgeheim, mit dem gestürzten System zu sympathisieren. Das sind vordergründige Argumentationen, hinter denen in Wirklichkeit Schuldgefühle wegen des begangenen Vatermordes stehen. Die Brüder, unter der Herrschaft der Väter sich selbst entfremdet und unkundig in Solidarität, können mit sich selbst nichts anfangen. Unbewusst sehnen sie die Väterherrschaft wieder herbei, indem sie sich gegenseitig umbringen.

So ist es denn für die Gegenbewegung, die „Konterrevolution“, ein leichtes, die Revolutionäre zu überwältigen und ihnen jene Strafe zuzufügen, die sie als Strafbedürfnis vorwegphantasiert hatten. Niemals liege die Macht so hilflos auf der Strasse wie nach Revolutionen; man müsse sie nur aufheben, spottete Napoleon, der die Französische Revolution beerdigte. Auf Revolutionen pflegen Usurpatoren zu folgen: auf die französische folgte Napoleon, auf die russische Stalin, auf die deutsche Hitler. Stalin könnte man auch als- gar nicht so seltenen- Renegaten aus dem Kreis der Revolutionäre ( der Brüder )bezeichnen, der wie die Usurpatoren, die Revolution abbricht und faktisch das gestürzte Patriarchat wiederherstellt. Renegat wie Usurpator sind Brüder der Revolutionäre, die sich an die Stelle der gestürzten Väter setzen, deren Herrschaft – nunmehr als Väter – wiederherstellten und darüber hinaus stabilisieren.

Im Gegensatz zu friedlichen Protesten sind Revolutionen daher nicht Negationen des Patriarchats, sondern gewissermassen sein Korrektiv. Feministinnen wundert es nicht, dass an Revolutionen in der Regel nur Männer beteiligt sind, weil es sich um einen Konflikt zwischen Söhnen und Vätern handelt, um eine Auseinandersetzung innerhalb des Patriarchats und von diesem erst bewirkt. Allerdings wäre es reizvoll, den psychoanalytischen Prämissen zu folgen und die Frage aufzuwerfen, ob sich im Aufstand der Söhne, in der Revolution, nicht die Sehnsucht nach der Herrschaft der Mutter verbirgt, die der Sohn ja im Laufe seiner Sozialisation gegen seinen Willen und sein Bedürfnis verstoßen muss, um ein Mann zu werden, ein „ganzer Kerl“, was bedeutet, um die Verhaltensweisen und Tugenden zu übernehmen, die die Väter als männliche definieren. Vaterherrschaft ist repressiv und erzeugt auf nahezu allen Ebenen Angst: dem Kind wie dem Erwachsenen in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, am Arbeitsplatz, gegenüber Behörden und Obrigkeiten, ja sogar im Verhältnis zwischen Mann und Frau, aber auch Angst wegen Krieg, wegen der Umweltzerstörung, wegen des Verlustes des Arbeitsplatzes. Mutterherrschaft dagegen ist liberal, lustfreundlich und tröstend. Daran erinnert sich der Sohn, doch darf er das „Weibische“ nicht zulassen. Nur in dem Moment, wo er tatsächlich sich gegen den Vater erhebt, im Moment der Revolution, aber nur in einem rasch vergehenden Moment, findet eine Versöhnung zwischen dem (jugendlich) Männlichen und dem Weiblichen statt. (In der Erklärung, weshalb Matriarchate lustfreundlich und liberal sind, konnten sich Psychoanalyse und Ethologie einigen. Eine von mehreren Ursachen ist: Der Mann kann Nachwuchs zeugen und darüber hinaus sexuelle Lust aggressiv und mit Gewalt befriedigen, gegen den Willen und ohne Rücksicht auf Empfinden und Bedürfnis der Frau. Umgekehrt geht das nicht. Ein Mann, dem – von Frauen – Gewalt angedroht wird und der Angst hat, kann sexuell nicht aktiv und somit auch nicht zeugungsfähig sein. Daher könnten Frauen ihre Bedürfnisse nicht befriedigen, weder ihre sexuellen noch ihren Wunsch nach Kindern, würden also gegen ihre Interessen handeln, wenn ihre Herrschaft repressiv und angstzeugend wäre), „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ (korrekter und schon während der Revolution moniert: Geschwisterlichkeit) sind – recht bedacht – allesamt Losungen und Forderungen, die als gesellschaftliches Ideal aus anthropologischer Sicht nur in Matriarchaten zu verwirklichen wären. Die gesellschaftliche Realität postmoderner, demokratisch verfasster Leistungsgesellschaften entspricht jedenfalls diesem, Ideal nicht, schon gar nicht der Geschwisterlichkeit.

Dennoch wäre es ein Missverständnis, den Schluss zu ziehen, Revolutionen blieben folgenlos, weil der Aufstand der Söhne letztlich doch wieder in das Patriarchat einmünde. Die Französische Revolution hat die lange zuvor geforderten und anderswo z.B. in den Vereinigten Staaten von Amerika auch verwirklichten Menschenrechte und damit die Idee der verfassten Demokratie in den europäischen Geschichtsprozess eingeführt. Demokratische Freiheiten und Gleichheit vor dem Gesetz wurden, wie schlecht und recht auch immer, doch Teil auch der Verfassungswirklichkeit. Nur in diesem Rahmen erscheint übrigens auch die soziale und rechtliche Gleichstellung der Frau möglich, mithin eine Reform patriarchalischer Herrschaft.

Die Oktoberrevolution brachte ins Bewusstsein, dass auch die sozialen Menschenrechte zu beachten seien, sollte es im Zeitalter der zweiten industriellen „Revolution“ politische und gesellschaftliche Stabilität geben. Insofern war sie für den sozialen „Fortschritt“ von eminenter Bedeutung, auch als drohende Alternative zu den kapitalistischen Gesellschaftssystemen, unabhängig von dem Schicksal, das sie unter Stalin erlitt. Nur: Am Patriarchat rüttelten beide Revolutionen nicht, die Emanzipation der Frau – und damit verbunden die Humanisierung der Gesellschaft – kann sich augenscheinlich nur evolutionär vollziehen. Immerhin: Für einen Moment hatte es sowohl 1789 als auch 1917 den Anschein gehabt, als würde der Aufstand der Söhne mit seiner immanent-unbewussten Sehnsucht nach dem Mütterlich Weiblichen auch der Frau mehr Rechte bringen. Für einige Jahre herrschte Libertinage, die prüden Normen, die den Umgang der beiden Geschlechter reglementiert hatten und die für die Herrschenden freilich nie gegolten haben, lockerten sich beträchtlich. Doch mit der bald einsetzenden „Konterrevolution“ wurde dieser Emanzipationsfunken rasch wieder erstickt.

Wenn die Analyse bisher halbwegs richtig gewesen sein sollte, so muss Gorbatschows Versuch einer Umgestaltung (Perestroika), die der Generalsekretär selbst eine „Revolution von oben“ nannte, als Seltenheit, wenn nicht als Novum in der Geschichte gelten. Denn nicht die Söhne haben sich gegen ein erstarrtes, wandlungsunfähiges, kurz vor dem Kollaps stehendes patriarchalisches System erhoben, sondern die Väter selbst. Die Zustimmung beweist, dass die Söhne ihnen folgen. Das Sowjetsystem bis 1985 war an sein Ende gelangt. Hätte die Stagnation angehalten und die Nomenklatura auf den wachsenden, sich staunenden Druck aus der Bevölkerung mit reziproker Repression geantwortet – was sie tendenziell ja auch tat -, wäre zweifellos früher oder später eine revolutionäre Situation eingetreten. Ihr kam Gorbatschow zuvor, indem er den Hebel dort ansetzte, wo jede revolutionäre Idee einsetzt: bei der Freiheit, bei Glasnost.

Ob Gorbatschows Perestroika eine Revolution ist oder nicht eher doch eine Evolution, mag dahingestellt bleiben. Sollte sie eine Evolution sein, so hätte sie einen unschätzbaren Vorteil: Sie vermiede wegen der ihr immanenten Kontinuität die Gefahr einer Konterrevolution. Aus den Erfahrungen der Geschichte ist also die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Stetigkeit der Evolution einerseits von größerem Vorteil ist als eine Revolution, andererseits aber aus einem erstarrten, defensiven System heraus ungleich schwieriger, wenn nicht gar unmöglich in die Wege zu leiten. Die Leistung Gorbatschows und seiner Anhänger erscheint in diesem Licht um so staunenswerter. Gerade deshalb, weil es der geschichtlichen Normalität widerspricht, herrschen immer noch Zweifel und Skepsis über das Gelingen dieser Re-Evolutionierung eines abgewirtschafteten Systems. Auch die Geschichte der Evolution kennt kein Beispiel dafür, daß ein zum Stillstand gekommenes biologisches System wieder evolutionäre Dynamik entwickelt hätte.

Evolution heißt im Verständnis ihrer auf Darwin sich stützenden Theoretiker, daß der vorhersehbare, konstante Gesetzeskanon einer Ordnung eine „Freiheitsoption“ enthält, der ihn an veränderte Umweltbedingungen anpassen kann, um damit seine Fortexistenz zu sichern. Darauf beruht im übrigen auch jede Erfahrung und jede Erkenntnis. Einmal gemachte Erfahrungen, die im Vorbewussten, dem „ratiomorphen Apparat“ gespeichert werden, müssen vorhersagbar sein und anwendbar auf unterschiedlichste Situationen oder Erscheinungen. Müssten sie jedes mal neu gemacht werden, wären Erkenntnis und Verhaltenssicherheit unmöglich. Die wichtigen Ausnahmen von der Regel führen zu Differenzierung, Vorbehalten, Skepsis, Zweifeln, aber nicht zu Unsicherheit, eher zu Erkenntnisgewinn. Ist ein System vollständig vorhersehbar und sein Gesetzeskanon unveränderlich, so ist es an das Ende seiner Entwicklung angelangt. Ist es dagegen im wesentlichen unvorhersehbar, ohne Gesetzeskanon, so ist es chaotisch und lässt keine Orientierung zu. Das gilt im übrigen auch für die Bereiche des Geistigen und Künstlerischen. Wenn der Gesetzeskanon einer Stilrichtung nicht mehr veränderbar wird, kommt ihre Entwicklung zum Stillstand, sie wird abgelöst und geht als Stilepoche in die Geschichte ein.

Dieser kleine Schwenk in die Evolutionstheorie und Verhaltensforschung soll die These erhärten, dass kapitalistischen, formal demokratisch verfassten Industriestaaten keine Revolution droht. Mehr noch: Es ist sogar unmöglich, sie in der Bahn einer kontrollierten Evolution zu halten. Das ist zunächst ein Paradox.

Moderne, kapitalistisch-demokratische Industriestaaten zeichnen sich durch steten und raschen Wandel aus, der alle Subsysteme erfasst und bisweilen an ihre Mitglieder so hohe Anpassungsforderungen stellt, dass sie die Orientierung verlieren. Alexander Mitscherlich und Konrad Lorenz sind einhellig der Meinung, dass der Mensch diesen Adaptionsanforderungen auf Dauer nicht gewachsen ist. Vor allem der technologische Wandel verändert nahezu alle Formen der Arbeitsweisen in Produktion und Verwaltung, der Freizeit- und Konsumgewohnheiten, damit auch der Werte- und Normensysteme. Moden und Trends kommen und gehen in rascher Folge. Flexibilität heißt die Parole, Umschulen, Umdenken. Diese Flexibilität stabilisiert gleichzeitig das System als Ganzes, beispielsweise dadurch, dass es politische Teilhabe aus Mangel an Orientierung und Begreifbarkeit des komplex Er-scheinenden Geschehenes erschwert und so die Individuen in die als überschaubar und gestaltbar empfundene Privatsphäre treibt. Pluralismus, wie vordergründig und alternativlos er in der Substanz auch sein mag, sowie Organisationsvielfalt ermöglichen Identifikation oder Interessenvertretung und gleichzeitig Absorbtion von Aggressivität nach vorbestimmten Regeln.

Soziale Auseinandersetzungen wie etwa Tarifkonflikte spielen sich in gesetzlichem Rahmen ab, Protestaktionen sind weitgehend legitim und damit kanalisiert. Gruppen, die dennoch in totaler Opposition und Ablehnung zu diesem System stehen, aus ideologischer Überzeugung oder sozialer Unterprivilegisierung, bleiben auf diese Weise eine. relativ leicht kontrollierbare Minderheit.

Dieser rasche Wandel, der die Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse für den einzelnen unbegreifbar macht, erzeugt eher disziplinierende Angst wegen des Verlustes an Sinnhaftigkeit. Die Funktion des Staates beschränkt sich zunehmend darauf, die Voraussetzungen für hohe Produktivitätsraten des ökonomischen Subsystems zu schaffen und im übrigen für Schadensbegrenzung zu sorgen und die Konsequenzen zu verwalten. Der Gedanke erscheint absurd, dass beispielsweise die unaufhaltsame Zerstörung der Lebensbedingungen durch irreversibel werdende Schädigungen der Umwelt zu Revolutionen führen könnten. Dafür fehlen die psychischen Voraussetzungen.

Mit anderen Worten: Der Gesetzeskanon moderner Industriegesellschaften ist aufgebrochen zugunsten der „Freiheitsoption“, die überwiegt. Das Unvorhersehbare bestimmt die Entwicklung, Erfahrung wird wertlos, mittel- und langfristige Prognose unmöglich. Damit aber gibt es auch keine evolutionäre Entwicklung mehr.

Denkfähigkeit und Kulturentwicklung, so sagt die Ethologie, haben den Menschen befähigt, die Evolutionsgesetze, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist, außer Kraft zu setzen. Der Selektionsdruck der Natur wirkt auf die Entwicklung der Art homo sapiens, wie wir uns bescheidenerweise nennen, nicht mehr ein. Wohl aber gibt es Auslese, aber keine natürliche, sondern eine soziale. Der Begriff des „Tüchtigeren“, der sich durchgesetzt hat, hat keinen biologischen, sondern einen sozialen Aspekt und ist ein Synonym für Cleverness, Rücksichtslosigkeit, Ellenbogenstärke, Durchsetzungsfähigkeit, Mitleidlosigkeit – Merkmale für den „unproduktiven“, aber gesellschaftlich erfolgreichen Charakter, wie ihn Erich Fromm als „entstandenen“ Typus moderner Leistungsgesellschaften beschreibt. Die These des Sozialdarwinismus hat viel für sich, und seine Normen werden ja auch „vererbt“ – durch Tradierung. Fortentwicklung vollzieht sich nicht mehr in Auseinandersetzung gegen die Natur, sondern gegen den Artgenossen.

Karl Marx konnte diese jeden revolutionären Druck absorbierende Flexibilität kapitalistischer Systeme nicht vorhersehen, seine Verelendungstheorie war in sich logisch und methodisch korrekt, eine Fortschreibung des wachsenden Elends des Proletariats bei gleichzeitiger Stagnation der politisch-gesellschaftlichen und technischen Entwicklung, vor allem aber der Produktionsverhältnisse. Unter diesen Prämissen war die Revolution eine Notwendigkeit. Dennoch hat die Geschichte sie widerlegt, weil sich die Prämissen veränderten. Die Revolution blieb aus, musste ausbleiben, sie war gar nicht möglich, außer in Russland, aber nicht in Deutschland, Großbritannien und Frankreich.

Wie dem auch sei, mit dem Unmöglichwerden von Revolutionen schwindet ein Stück Hoffnung auf Kurskorrektur.

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