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Birgitta Wolf und der "Fritz- Bauer- Preis"

vorgängevorgänge 1112/1971Seite 381- 382

Aus: vorgänge Nr. 11- 12/1971 Seite 381- 382

Liebe Birgitta Wolf, liebe Gäste, liebe Freunde!
Als ich, vor sechs Jahren, Birgitta Wolf zum ersten mal begegnet bin, da hatte sie sich soeben in eine typische Birgitta-Wolf-Situation begeben: In einem Kreis von Richtern, Anwälten, Professoren und Strafvollzugsbeamten nannte sie einen Skandal beim Namen: den verschärften Arrest. Und sie, die einzige Frau in jenem Kreis, stand da allein; fand da kaum einen unter jenen Männern, die alle zum Fortschritt sich bekannten und die doch ihre Integrierung ins System (und ihre Identifizierung mit ihm?) nicht verleugnen konnten, kaum einen, der wie sie zu der Einsicht oder zu dem Bekenntnis fähig gewesen wäre: Es ist inhuman, es ist verfassungswidrig, es ist im Grunde kriminelle Menschenverachtung, einen Gefangenen tagelang und gar wochenlang in eine dunkle Zelle zu sperren, auf eine nackte Holzpritsche, ihm Tageslicht, Nahrung, Schlaf zu entziehen, jede Berührung mit anderen Menschen, Beschäftigung und Lektüre zu verweigern – deswegen vielleicht, weil er sein Arbeitspensum nicht hatte erfüllen können, oder weil ganz einfach einmal das Maß seiner täglichen Endwürdigung seine Belastungsfähigkeit überstiegen und die Artikulation seiner Verzweiflung Ruhe und Ordnung gestört hatten.
Ich finde jene Begebenheit charakteristisch für die heutige Preisträgerin: Wo es, wie damals, um den ausgestoßenen, hilflosen Menschen geht, hat für sie aller Respekt vor Institutionen, vor Rang und Titel, vor allen eingefahrenen Rationalisierungen und auch die Rücksicht auf die eigene Person ein Ende. Da nötigt sie, zu antworten und zu handeln. Da lässt sie kein Ausweichen gelten. Sie erträgt nicht, dass der am Boden Liegende auch noch getreten wird. Und das sagt sie laut, dass alle es hören können. Und wo die Adressaten ihres Anrufs sich verschanzen hinter den Tabus ihrer Stereotypen: Anstaltsordnung, Anstaltsruhe, Anstaltssicherheit, Anstaltsbedürfnis – und überhaupt: wo kämen wir denn da hin?! – da kratzt und bohrt sie an den Tabus, bis dahinter erkennbar wird: die Pervertierung des Rechts in eine rechtsfreie Unrechtsordnung, welche Juristen als „besonderes Gewaltverhältnis” zu vernebeln pflegen.
Birgitta Wolf ist als Schwedin in einem relativ freien Land relativ frei aufgewachsen; kam durch Heirat in den dreißiger Jahren nach Berlin; durchschaute als ganz junge Frau alsbald die Kulissen von Gesellschaft und Herrschaft jener Zeit; begann zu helfen, Verfolgten von damals.
Das Erlebnis jener dunkelsten Epoche der Entmenschlichung von Verfolgern und Verfolgten hatte die Sinne geschärft. Und als die Wiederherstellung der Rechtsordnung verfasst und gesichert erschien, da ging sie hinter die Mauern der Verwahrungsanstalten, um nach vielen Gesprächen und Beobachtungen wie das Kind in jenem Märchen mit dem Finger zu zeigen und zu sagen: Ich seh des Königs neue Kleider nicht – der König ist ja nackt!
Seitdem liegen Tausende von Briefen und Besuchen hinter ihr, aus allen und in fast allen Strafanstalten der Bundesrepublik.
Was als humanitäres Wollen und im weitesten Sinne karitatives Handeln begonnen hatte, hat sich entwickelt zum Kampf um das Recht für die Ausgestoßenen unserer Gesellschaft. Sie praktiziert und sie lehrt Mitmenschlichkeit, gibt den Entwürdigten und Verlassenen das Gefühl für ihre eigene Menschenwürde wieder. Wo Mauern und Fensterblenden die Sicht nach drinnen versperren, hat sie ein Stück Mittelalter mitten unter uns sichtbar gemacht.
„Die vierte Kaste” heißt ihr erstes Buch. „Die vierte Kaste bei uns in der Bundesrepublik sind die Strafgefangenen und Entlassenen”, so schrieb sie 1963. „Zur vierten Kaste gehöre auch ich”, sagt sie, „wo gegen die Kastengesetze verstößt, wer jenen seine Hand reicht und sein Haus öffnet.”
Sie hat es nicht dabei belassen, in ungezählten Fällen persönlicher Not zu helfen; den Eingeschlossenen eine Stimme nach draußen zu geben; Mißstände anzuprangern; mit Reklamationen und Appellationen an institutionalisierter Inhumanität zu rütteln; Wiederaufnahmeverfahren und Begnadigungen durchzusetzen; in Zuchthäusern Vergessene der Vergessenheit zu entreißen; Vorurteile gegenüber den „Ehemaligen” abzubauen und Resozialisierung als persönliche Aufgabe zu behandeln. Sie hat es dabei nicht belassen: Mit Vorträgen, mit Artikeln, mit Büchern und mit Reforminitiativen kämpft sie an gegen die Immobilität der Zustände und der Gehirne, gegen die Trägheit der Herzen, gegen die Anstaltsruhe einer ganzen Gesellschaft und gegen das gute Gewissen der Draußengebliebenen, die dulden, was an den Eingesperrten in ihrem Namen, „im Namen des Volkes”, geschieht; die ihre eigenen unverarbeiteten asozialen Tendenzen in ihre Forderung nach Sühne und Vergeltung transformieren.
In ihrem 1968 erschienenen Buch „Aussagen” weist sie zurück, als karitative Institution eingeordnet, als „Engel der Gefangenen” denunziert zu werden. Sie klagt ein System an, für dessen Unmenschlichkeit und Rechtlosigkeit wir alle verantwortlich sind. „Keiner von uns” – schreibt sie dort – „auch keiner von unseren verantwortlichen Politikern, soll sich herausreden können: ,Das habe ich nicht gewusst`.” Sie klagt ein System an, in welchem die Gesellschaft sehenden Auges ihren Ausschuss reproduziert, um dann an Sündenböcken Rache zu üben für die eigene Unterdrückung in diesem System. Sie schabt das verlogene Etikett „Resozialisierung” herunter und legt das Antriebsaggregat dieser Gerechtigkeitsmaschine bloß: das Vergeltungsprinzip.
Liest man die Dokumentationen in ihren beiden Büchern – „Die vierte Kaste” und „Aussagen” -, dann mag man wohl erkennen, dass jenes Kilo Papier, auf das der „Strafgesetz-Entwurf 1962” gedruckt ist, Frucht jahrelanger Übung in Gelehrsamkeit, in Wahrheit Makulatur ist; Makulatur wie das meiste von dem, was Universitäten und Gelehrtenstuben als Strafrechtswissenschaft absondern; dass Kriminalrechtspflege, nimmt man sie ernst, an der Basis beginnt, nämlich als Kriminalpolitik; dass diese Basis heißt: Familien, Säuglingsheime, Kinderheime, Schulen, Erziehungsheime, Kliniken und therapeutische Anstalten, Obdachlosenasyle, Slums und Verwahrungsanstalten; dass Kriminalpolitik, nimmt man sie ernst, Sozialpolitik ist: soziale Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich, gleiche Sozialisationsbedingungen für alle Kinder in dieser Gesellschaft.
Ich denke, diese Prämissen, als Realität Tag für Tag belegt, an den Biographien der Eingesperrten nachlesbar, zwingen zu der Einsicht, die Birgitta Wolf in vielen Veröffentlichungen ausgesprochen hat: dass die Entwicklung unseres Kriminalrechts vom Schuldstrafrecht zum „Konsequenzmaßnahmen-Recht”, wie sie es nennt, überfällig ist – das, so schreibt sie, „frei von jedem Vergeltungsgedanken urteilt, das die Würde des Menschen auch in seiner tiefsten Entwicklungsstufe achtet, eine emotionsfreie Analyse der Täterpersönlichkeit voraussetzt und als Folge logische Maßnahmen anordnet. Diese Maßnahmen sollen den Menschen nicht diskriminieren, aber darauf ausgerichtet sein, eine Wiederholung der Tat zu verhindern und – wo es möglich ist – eine Wiedergutmachung zu erreichen.”
Ich weiß es von Birgitta Wolf, wie ich es von dem gemeinsamen Freund Fritz Bauer weiß: dass die Vehemenz dieses Reformwillens bei der Bedingungslosigkeit dieser Reformvorstellungen, die sie beide verbunden haben, oft bedeutet, gegen Mauern anzurennen. Das bringt Schmerzen und auch Müdigkeit. Beide, die wir heute ehren – Fritz Bauer und Birgitta Wolf – haben die Resignation erlebt. Da helfen gewiss solche öffentlichen Bekundungen von Solidarität, wie sie Frau Wolf bereits 1966 mit der Verleihung der Beccaria-Medaille „für Verdienste um die Kriminologie” erfahren hat und wie sie ihr heute mit dem Fritz-Bauer-Preis zuteil wird „für besondere Verdienste um die Demokratisierung, Liberalisierung und Humanisierung der Rechtsordnung in der Bundesrepublik”.
Aber der Status des lästigen Einzelkämpfers ist beschwerlich geblieben. Widerstände und Anfeindungen gehören zum Alltag. Das ist auch Fritz Bauer nicht anders ergangen, trotz seines hohen Amtes.
Ich wünsche Birgitta Wolf: dass sie gehört werde, vor allem vom Gesetzgeber; dass das System als reformierbar sich erweise; damit es verändert werde, ohne dass man es eines Tages zerbrechen muss. Und dass die heute demonstrierte Solidarität anhalten möge.

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