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Sechs Jahre Botschaf­ter­pro­zess — die Justiz schreibt einen Forts­et­zungs­roman

Aus. vorgänge Nr. 111, Heft 3/1991, S. 28-30

In dem an überraschenden Wendungen reichen Fortsetzungsroman des Strafverfahrens gegen den inzwischen pensionierten Botschafter Dr. Ernst Friedrich Jung hat die Bonner Justiz eine spannende neue Folge geliefert.

Auf einer Geheimkonferenz des Reichsjustizministeriums am 23. April 1941 in Berlin nahmen die deutschen OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwälte widerspruchslos die Weisung entgegen, Strafanzeigen gegen die Ermordung der Geisteskranken nicht nachzugehen. Diese Stillhaltezusage ist – als psychische Beihilfe — vergleichbar mit dem Tatbeitrag eines Polizeibeamten, der Bankräubern oder Terroristen vor der Tat zusichert, wegzuschauen. Im Zuge der „Aktion T4” wurden 71088 Menschen umgebracht.

Der nächste Akt bestand in einem 1960 eingeleiteten Strafverfahren, in dem der unbestechliche Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer nach mancherlei Widerständen die Konferenzteilnehmer wegen Beihilfe zum Mord in 71088 Fällen vor Gericht stellen wollte (Anschuldigungsschrift vom 22.4. 1965). Obgleich das Frankfurter Voruntersuchungsverfahren die strafrechtlichen Vorwürfe vollauf bestätigte, ließ der Nachfolger des 1968 im Amt verstorbenen Fritz Bauer im Jahre 1970 die Angeschuldigten mit skandalöser Begründung außer Verfolgung setzen. Das Landgericht Limburg machte in einem neunzeiligen Beschluss mit. Die Presse wurde nicht unterrichtet.

14 Jahre später kam das Geheimnis ans Tages-licht. Der Richter am OLG Kramer, der durch Zufall von dem Verfahren Kenntnis erhalten hatte, berichtete von dem Justizskandal in einem Aufsatz (Kritische Justiz 1984, S. 25ff.). Das veranlasste den Deutschen Botschafter in Budapest, Dr. Ernst Friedrich Jung, Sohn eines der Teilnehmer der Konferenz von 1951 (nämlich des Berliner Generalstaatsanwalts Dr. Friedrich Wilhelm Jung), zu einem verleumderischen Rundschreiben und zu einer Disziplinaranzeige mit dem Vorwurf, Kramer habe sich mit seiner Kritik an der NS-Juristenprominenz eines Verstoßes gegen die richterliche Mäßigungspflicht schuldig gemacht. Auf die schließlich von Kramer erstattete Strafanzeige erhob die Staatsanwaltschaft Bonn gegen den amtierenden deutschen Botschafter in Budapest Anklage wegen Beleidigung, Verleumdung und falscher Verdächtigungen (§§ 185, 187, 164 StGB).

Zunächst nahm das Strafverfahren einen normalen Verlauf. Seit der Anklagezulassung durch das Schöffengericht kam es indessen zu einer Häufung von „Pannen” und anderen Merkwürdigkeiten, von denen hier aus Raummangel nur einige erwähnt werden können. Zunächst (etwa Herbst 1987) verschwanden die fünfzehn Aktenbände des Frankfurter Verfahrens (Beiakten des Bonner Verfahrens) spurlos mit der Folge einer ungefähr zweijährigen Verfahrensverzögerung. Die gleichfalls auf Zeitgewinn zielende Terminierung des Gerichts ermöglichte dem Auswärtigen Amt, den Botschafter in einem Kompensationsgeschäft zu einer vorzeitigen Pensionierung zu bewegen. Inzwischen sind die — einen Umzugskarton füllenden — Beiakten ohne jegliche Absenderangabe und ohne Begleitschreiben bei einer Frankfurter Justizbehörde wieder eingetroffen. Die Bonner Vorgänge über die Ursachen des Verschwindens der „Geheimakten” — sie waren bereits in den sechziger Jahren zur Verschlusssache erklärt worden, auch war Dr. Kramer bei den Arbeiten an seinem Aufsatz die Akteneinsicht vorenthalten worden — sind ihrerseits zu Geheimakten erklärt worden: die Staatsanwaltschaft Aachen, an die, die Staatsanwaltschaft Bonn aus gutem Grund das Verfahren gegen Unbekannt hatte abgeben müssen, hat gemeint, das Verfahren ohne Beiziehung jener neuen Geheimakten einstellen zu können. Nicht einmal der wesentliche Inhalt jener Bonner Vorgänge wurde aktenkundig gemacht.

Die erstinstanzliche Verhandlung vor dem Schöffengericht Bonn stand unter weiteren ungewöhnlichen Vorzeichen. Bei der Sitzungsvertretung wurde der in die Sache eingearbeitete Anklageverfasser, Staatsanwalt Uwe Hundertmark, auf persönliche Intervention des Kölner Generalstaatsanwalts Dr. Bereslaw Schmitz durch einen Kollegen ersetzt, der die Akten erst seit kurzem und die damals noch verschollenen Beiakten überhaupt nicht kannte. In dem folgenden Freispruch übernahm das Amtsgericht weitgehend kritiklos die gegen den Aufsatz Kramers gerichteten beleidigenden Äußerungen des Botschafters. Auch hielt es dem Volljuristen und Diplomaten Dr. Jung insoweit einen sogenannten Verbotsirrtum zugute, als er sich angeblich vor Absendung seines Briefes von einem prominenten Hamburger Rechtsanwalt zum Honorar von 4000 DM habe bescheinigen lassen, dass er den Autor Kramer straflos beleidigen dürfe.

Kramer, der dem Verfahren als Nebenkläger beigetreten war, legte Berufung ein. Die nunmehr zuständige Strafkammer suchte sich der Sache dadurch zu entledigen, dass sie das Verfahren wegen „Geringfügigkeit der Schuld” und mangels öffentlichen Interesses nach § 153 StPO zum Kostennachteil Kramers ohne jegliche Begründung einstellte. Die Frage Kramers, ob die unbeschränkte Aufrechterhaltung der Vorwürfe durch Jung nicht der Annahme von Geringfügigkeit entgegenstünde, ließ die Kammer unbeantwortet. In einem Telefongespräch hatte der Vorsitzende allerdings erklärt, die Angelegenheit sei doch „nur von historischem Interesse”, für solche Sachen sei die mit wichtigeren Verfahren beschäftigte Strafkammer nicht da. Um einem in Hinblick darauf gestellten Ablehnungsgesuch auszuweichen, hatte der Kammervorsitzende kurzfristig einen Tag Urlaub genommen und sich bei der Unterzeichnung des Einstellungsbeschlusses vertreten lassen. In ihrer Entschlossenheit, die NS-Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, den Diplomaten von Strafe freizustellen und dem Justizkritiker einen Denkzettel zu verpassen, hatten die Richter allerdings übersehen, dass die wichtigste Voraussetzung einer so bequemen Verfahrenseinstellung fehlte: die Zustimmung der Staatsanwaltschaft — wie sich auf hartnäckige, vom Landgericht mehrmals ausweichend beantwortete Anfragen Kramers schließlich herausstellte. Deshalb wurde auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft die gesetzwidrige Verfahrenseinstellung durch das OLG Köln rückgängig gemacht.

Der Prozess hat in einer erneuten Hauptverhandlung in Bonn im September 1990 endlich ein Ende gefunden: Der Botschafter erklärte, er habe Kramer nicht beleidigen wollen; Kramer erklärte, einige der Beanstandungen, die Jung an seinem Aufsatz erhoben habe, seien gerechtfertigt. Dass von den vierzehn angeblichen Fehlern nur eine einzige Ungenauigkeit — auch das nur in einem gewissermaßen drittrangigen Nebenpunkt und in einer einzigen von 110 Fußnoten — übriggeblieben waren, durfte nicht gesagt werden, sonst wäre der Vergleich gescheitert. Kramer gab nach und stimmte einer Verfahrenseinstellung zu: sechs Jahre des Prozessierens, mit der Gefahr weiterer „Pannen” genügten ihm. In der gesamten Hauptverhandlung war die Strafkammer peinlich bemüht, den Hintergrund des Prozesses (vor und nach 1945) möglichst herauszuhalten.

In dem Bonner Verfahren ging es zuletzt nur noch vordergründig um den Botschafter Dr. Jung. Verhandelt wurde vielmehr die Sache der Justiz selbst. Gefragt war nach ihrer Bereitschaft, Justizkritik zu ertragen, insbesondere die Kritik an dem Versagen unter Hitler. Die Probe auf ’s Exempel hat die Bonner Justiz nicht bestanden. Es gibt wohl selten ein Verfahren, in dem sich so viele Merkwürdigkeiten ereignen, die sich zudem stets zugunsten des Angeklagten — allerdings eines nicht gewöhnlichen Angeklagten — auswirken. Selbst nachdem es zu einer gezielt in den Verfahrensablauf eingreifenden Straftat (Verwahrungsbruch) gekommen war, haben Staatsanwaltschaft und Gericht kaum eine Gelegenheit ausgelassen, sich ins Zwielicht zu setzen. Kann man die vielen schwer-wiegenden Kunstfehler wirklich noch als bloße „Pannen” abtun, wie sie in Routinesachen schon einmal unterlaufen können? In dem fraglichen Aufsatz (KJ 1984, S. 25, 43) hatte Kramer davon gesprochen, dass es noch immer ein „idealisiertes Bild” von Juristen gibt, das „die selbstkritische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit der Justiz versperrt.” Mit ihrer Reaktion haben die Bonner Juristen unfreiwillig die Kramersche Kritik bestätigt.

Das so kläglich verlaufende Verfahren gegen den hohen BRD-Diplomaten steht am Ende einer Reihe bislang sämtlich gescheiterter versuche, das Verhalten der NS-Juristenprominenz strafrechtlich aufzuarbeiten. In diesen Tagen kommt abermals auf die Richter und Staatsanwälte die Aufgabe der Aufarbeitung eines Unrechtssystems (DDR-Justiz) zu. Mit der moralischen Legitimation dazu ist es allerdings so eine Sache, wen wir daran denken, wie viele noch jetzt in hohen Ämtern bei uns tätige Juristen sich verhalten haben und zum Teil noch verhalten angesichts der Verpflichtung, sich strafrechtlich und wissenschaftlich mit dem Versagen der Generation unserer eigenen Ausbilder und Professoren zu befassen. Bevor wir unserem Schöpfer auf den Knien dafür danken, dass wir nicht sind wie die anderen, sollten wir jedenfalls immer wieder selbstkritisch nach den eigenen Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit fragen.

[1] Vgl. Kramer, Kritische Justiz 1984, S. 25 ff.; Redaktion Kritische Justiz, KJ 1987, S. 213ff.; ÖTV in der Rechtspflege Nr. 45, S. 14ff.

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