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Neuordnung des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs

Eine Anhörung im Deutschen Bundestag

aus. vorgänge Nr. 114. Heft 6/1991, S. 1-5

In beiden deutschen Staaten galt und gilt ein unterschiedliches Recht des Schwangerschaftsabbruchs: im Osten die Fristenlösung, im Westen die Indikationslösung. Der Einigungsvertrag vom 31.8. 1990 hat kein einheitliches Recht gebracht, sondern dem Deutschen Bundestag aufgegeben, bis spätestens zum 1. 1. 1993 ein gemeinsames Recht zu schaffen.

Hierzu liegen dem Deutschen Bundestag sechs Entwürfe vor: Die des Abgeordneten Werner (Ulm) und Genossen, der Strömungen im wesentlichen der CSU wiedergibt, der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Gruppe Bündnis 90/ GRÜNE und der Gruppe PDS / Linke Liste. Man kann die Entwürfe teilen in die Werner – und CDU/CSU-Fraktion einerseits, die die Indikationslösung vorschlagen und die übrigen Entwürfe, die für eine Fristenlösung votieren. Die Entwürfe für eine Fristenlösung lassen sich wiederum unterscheiden in den der FDP-Fraktion mit einer Zwangsberatung und die übrigen, die keine Zwangsberatung vorsehen. Der Deutsche Bundestag hat zu den Entwürfen einen Sonderausschuss eingesetzt, der Sachverständige — auch den Verfasser – gehört hat.

Die Beurteilung der Entwürfe setzt einiges Hintergrundwissen voraus: Niemand kann sagen, ob es in der ehemaligen DDR oder in der BRD verhältnismäßig mehr oder weniger Schwangerschaftsabbrüche gegeben hat. Zwar liegen die Zahlen für die DDR etwas höher als für die alte BRD; man muss aber davon ausgehen, dass in der DDR nahezu alle Schwangerschaftsabbrüche in der Statistik erfasst worden sind, während die Dunkelziffer in der BRD erheblich ist und auch viele Frauen aus den alten Bundesländern zum Schwangerschaftsabbruch das Ausland, vornehmlich die liberalen Niederlande, aufgesucht haben.

Der Blick in das Ausland zeigt deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Ländern.

Die Zwangsberatung ist danach ohne Einfluss auf die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche.

Die Indikationslösung hat in den alten Bundesländern der BRD nicht zu der zu erwartenden Zahl von Strafverfahren geführt. Man schätzt für die Jahre 1976 bis 1986 die jährlichen Abbrüche auf 120 000 bis 130000, die Zahl der strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (nicht etwa der Verurteilungen) auf 100 bis 110. Die Zahl der Ermittlungsverfahren beträgt damit bezogen auf die Zahl der Abbrüche 0.0084 %. Nun ist gewiss auch unter der Indikationslösung nicht jeder Abbruch eine Straftat; aber bei einer so geringen Kontrolldichte kann man doch davon sprechen, dass der überwiegende Teil der Polizeibeamten, Staatsanwälte und Richter dem Gesetz jedenfalls den vorauseilenden Gehorsam verweigern. Sie könnten in jedem größeren Ort jederzeit einen Prozess wie den in Memmingen veranstalten. Die Befürworter einer strafbewehrten Indikationslösung müssen sich freilich fragen lassen, wie sie ihre Pläne bei diesem eindeutigen Votum der strafrechtlichen Praxis umsetzen wollen: Eine strafbewehrte Indikationslösung kann nur bewirken, dass Abbrüche trotzdem, aber illegal hier oder im Ausland erfolgen. Zudem ist sie unsozial. Ich will nicht nur darauf verweisen, dass ein Abbruch im Ausland ein finanzielles Problem ist, sondern dass nach vorliegenden Untersuchungen jedenfalls die Verurteilungen im wesentlichen Frauen der Unterschicht treffen, die sich nicht anders zu helfen wissen, wie Untersuchungen ergeben haben und auch ein Blick auf die Liste der Zeuginnen in Memmingen ausweist: Die Anzeigen werden meist aus Anlass von häuslichen Streitigkeiten durch Berichte der Beteiligten gegenüber einschreitenden Polizeibeamten erstattet. Die Ober- und Mittelschicht weiß ihre Streitigkeiten ohne Polizei zu lösen.

XXXXX Übersicht

Länder ohne Beratungszwang     Abbrüche je 100 Schwangerschaften

Irland (1987) 5,9
Belgien (1985) 12,2
Spanien (1987) 12,5
Israel (1987) 13,5
Schweiz 15
Finnland (1987) 18
England! Wales (1987) 18,6
Norwegen (1987) 22,2
Türkei (1987) 26

Länder mit Zwangsberatung 9
Niederlande (1987) 
Polen (1987) 16,8
Frankreich (1987) 17,3
BRD (1987) 23,2
Italien (1987) 25,7
DDR (1984) 29,7
Ungarn (1987) 40,2
CSSR (1987) 42,2
Jugoslawien (1984) 48,8
Bulgarien (1987) 50,7

Quelle: Henshaw / Morrow, Induced Abortion: A World Review, 1990

Mit der faktischen Einstellung der Strafverfolgung befindet sich die Bundesrepublik im Einklang mit den europäischen Ländern. In keinem der in der Tabelle genannten Länder lag in den jeweils untersuchten Jahren die Zahl der Verurteilungen über 11; mit Ausnahme von Spanien mit 52 Verurteilungen im Jahre 1978. Luxemburg weist seit 1980 keine Verurteilung auf; dasselbe gilt für die Niederlande seit 1974 und Schweden seit 1975. (Die Jahresangaben in der mir vorliegenden Statistik schwanken zwischen 1978 und 1985.)

Diese Statistiken sind nicht nur für die Neuordnung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs von Bedeutung; sie könnten auch Anlass zu einer verfassungsrechtlichen Prüfung der jetzt in den alten Bundesländern geltenden Strafvorschriften und der in den Entwürfen des Abgeordneten Werner (Ulm) und Genossen sowie der CDU/CSU vorgesehenen Strafvorschriften sein. Eine Strafvorschrift, die nicht durchsetzbar und bei der die Bestrafung das Ergebnis eines seltenen Zufalls ist, ist verfassungswidrig (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 27.6.1991, NJW 1991, S. 2129).

Die Entwürfe

Der Entwurf des Abgeordneten Werner (Ulm) und Genossen ist ein Außenseiterentwurf. Er erklärt einen Abbruch nur dann für nicht rechtswidrig, „wenn der Eingriff erforderlich ist, um eine konkrete Gefahr für das Leben der Schwangeren abzuwenden”. Der Richter soll jedoch darüber hinaus bei einem Eingriff innerhalb der ersten zwölf Wochen von einer Bestrafung absehen, „wenn die Tat … begangen wurde, um von der Schwangeren die Gefahr einer dauerhaften und schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes abzuwenden ..: „. In der Begründung wird dies dahin erläutert, dass auch Umstände aus dem psychosozialen Bereich in Betracht kämen. Entscheidend sei jedoch, dass es zu „medizinisch relevanten Auswirkungen mit Krankheitswert komme”.

Der Entwurf der CDU/CSU formuliert zunächst ähnlich, fährt dann aber fort, dass die Indikation auch dann als gegeben anzusehen sei, wenn „1. die Schwangere dem Arzt eine Notlage dargelegt hat, die für sie eine so schwerwiegende Konfliktsituation darstellt, dass von ihr die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann und die nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann (psychosoziale Notlage), 2. der Arzt nach der Darlegung der Schwangeren zu der Erkenntnis gelangt, dass eine psychosoziale Notlage vorliegt und seine ärztliche Beurteilung schriftlich festhält, 3. der Arzt sich vergewissert hat, dass die Schwangere … mindestens drei Tage zuvor beraten worden ist, 4. der Arzt die Schwangere über die ärztlich bedeutsamen Gesichtspunkte, insbesondere über Ablauf, Folgen und Risiken des Eingriffs und über mögliche psychische Auswirkungen eines Schwangerschaftsabbruchs beraten hat… ”

Dieser Entwurf scheint der gegenwärtigen Rechtslage in den alten Bundesländern ähnlich zu sein. So ist er auch in der Öffentlichkeit aufgenommen worden. Der Schein trügt. Es kommt nach dem Entwurf nicht mehr auf das Bestehen einer Notlage an, sondern auf die Schilderung der Schwangeren und die mehr oder weniger ausgeprägte Bereitschaft des Arztes, ihr zu glauben. Der Rechtfertigungsgrund ist die glaubhafte Schilderung einer Konfliktlage. Die CDU/CSU-Fraktion hat sich deutlich bewegt, ohne dies freilich wegen des befürchteten Echos bei einem Teil ihrer Anhänger laut sagen zu können. Dem Strafrechtsdogmatiker aber sträuben sich alle Haare: Nicht mehr die Notlage, sondern die glaubhaft klingende Schilderung einer Konfliktlage — mag die Darstellung auch noch so erlogen sein — wird zum Rechtfertigungsgrund. Auch die bewusste Lügnerin ist gerechtfertigt. Seltsam auch, dass die Rechtmäßigkeit davon abhängen soll, ob der Arzt ausreichende Aufzeichnungen macht und ob eine Beratung stattgefunden hat, so dass diese Ordnungsvorschriften in den gleichen Rang wie die (Schilderung der) Konfliktlage der Frau gehoben werden. Ich will den Entwurf nicht verhöhnen. Er ist für mich ein weiterer Nachweis dafür, dass eine praxisgerechte Regelung der Indikationslösung nicht möglich ist. Die CDU/CSU-Fraktion ist jedoch in dieser Frage zu schwach und vielleicht auch unter sich zu zerstritten, um ihren Anhängern die Wahrheit sagen zu können.

Der Entwurf der FDP-Fraktion spricht sich für die Fristenlösung aus, macht aber die Rechtmäßigkeit des Abbruchs davon abhängig, dass „die Schwangere sich mindestens drei Tage vor dem Abbruch … hat beraten lassen”. Der Rechtfertigungsgrund der Beratung ist in unserem Rechtssystem neu und kann bei Juristen nur Verwunderung hervorrufen. Man mag aus dem Fehlen einer Beratung vielleicht einen Bußgeldtatbestand machen, aber doch kaum mehr.

Die drei anderen Entwürfe sehen deshalb auch von einer Zwangsberatung ab. Welchen Nutzen soll eine Beratung unter Zwang auch haben? Ich habe in der Anhörung vor dem Sonderausschuss für meine Behauptung, man könne die Schwangere zwar in eine Beratungsstelle zwingen, sie aber nicht zwingen, den Beratern und Beraterinnen auch nur ein einziges Wort zu sagen, nur Zustimmung bekommen, auch von maßgeblichen Autoren (Prof. Baumann, Tübingen) des FDP-Entwurfs. Nach der Vorstellung der FDP wäre der Abbruch danach dann gerechtfertigt, wenn die Schwangere in der Beratungsstelle sich, im übrigen stumm, eine Bescheinigung abholt. Es wäre konsequent, die Beratungsstellen zu verpflichten, die Schwangere auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Im übrigen schließen die Entwürfe der CDU/CSU und der FDP auch nicht aus, dass die Schwangere sich bei der Beratung — etwa nach der Bundesrechtsanwaltsordnung durch einen Rechtsanwalt — vertreten lässt.

Der Abbruch im Ausland

Während die Abgeordneten Werner und Genossen, die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion Abbrüche im Ausland weiterhin bestraft wissen wollen, verlangen die Entwürfe von SPD, Bündnis 90/ GRÜNE und PDS f Linke Liste die Streichung des entsprechenden § 5 Nr. 9 StGB.

Der FDP gebührt das Verdienst, auf die Beschlagnahme von ärztlichen Unterlagen hingewiesen zu haben: „Werden bei einem Arzt Gegenstände gefunden, die den Schwangerschaftsabbruch einer Patientin betreffen, ist ihre Verwertung in einem Strafverfahren wegen einer Straftat nach § 218 des Strafgesetzbuchs ausgeschlossen.” Allerdings ist diese Formulierung zu eng. Auch die Unterlagen bei sonstigen Vertrauenspersonen — etwa Beratungsstellen — müssen entsprechend geschützt werden.

Kein Entwurf gesteht der Frau ein Aussageverweigerungsrecht als Zeugin in einem Straf-verfahren gegen den Arzt zu, der den Abbruch vorgenommen hat. Eine derartige Vernehmung der Frauen muss notwendig tief in ihren Intimbereich eindringen. Die Frau muss sich davor schützen können. In dem Memminger Strafverfahren hatte der Arzt Dr. Theissen die Aussage zur Sache verweigert, so dass alle Frauen als Zeuginnen vernommen worden sind: ohne deren Vernehmung wäre eine Verurteilung nicht möglich gewesen. Auffällig ist, dass keiner der Entwürfe auf das Recht der ehemaligen DDR und die dortigen Erfahrungen näher eingeht. Selbst die PDS / Linke Liste erwähnt die DDR nur am Rande. Mit Befriedigung lese ich jedoch in dem Entwurf dieser Gruppe, dass sie den aus der „Humanistischen Union” stammenden Satz: „Jede Frau hat das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht” in der Verfassung festgeschrieben haben möchte — bei den gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnissen freilich eine Illusion.

Die Anhörung vor dem Sonder­aus­schuss

Der Deutsche Bundestag hat einen Sonderausschuss eingesetzt, und dieser hat jetzt eine Anhörung von 60 Sachverständigen durchgeführt. Das Ergebnis war erstaunlich: Keiner der Gehörten mochte sich mit einem der Entwürfe identifizieren, keiner wagte die Behauptung, das Strafrecht könne die Zahl der Abtreibungen mindern. Soweit sich Sachverständige zu diesem Punkt geäußert haben, haben sie nachdrücklich bestritten, dass mit dem Strafrecht die Zahl der Abbrüche verringert werden könne. Entsprechend gereizt waren zeitweilig die Reaktionen derjenigen Abgeordneten, die dem Entwurf des Abgeordneten Werner (Ulm) zuneigen. Die Theologen aus dem Bereich der katholischen Kirche verfochten den Standpunkt ihrer Organisation zwar mit Nachdruck, bestritten auch nicht den Zusammenhang ihrer Auffassung mit dem Strafrecht, hielten sich aber in dem Augenblick auffällig bedeckt, als es gegolten hätte, die strafrechtliche Konsequenz offen auszusprechen. Die Lehre des Heiligen Augustinus, die schon dem Mittelalter so viel Unheil beschert hatte, beherrscht noch immer ihre Köpfe.

Natürlich ist eine derartige Anhörung auch ein parlamentarisches Ritual. Hier war sie jedoch mehr. Insbesondere einzelne Abgeordnete der CDU zeigten sich von der Tatsache beeindruckt, dass der Entwurf ihrer Fraktion kaum Beifall fand. Sie suchen eine Lösung in der Nähe des Entwurfs der FDP-Fraktion, wenn die CDU/CSU nur ihr Gesicht wahren kann und eine sprachliche Möglichkeit gefunden wird, eine Fristenlösung als Indikationslösung zu bezeichnen. Ein Ausweg könnte sich in der Richtung anbieten, dass die von der Frau subjektiv empfundene Konfliktlage als Indikation bezeichnet wird.

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