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Mitten in Deutschland

Aus: vorgänge Nr. 115, Heft 1/1992, S. 8-11

Schon der erste Eindruck nimmt für Ilona Rothe aus Erfurt, Vorsitzende der Vereins der „DDR” Zwangsausgesiedelten, ein. Ein lebhafter Geist, ein freundliches Gesicht, ein dunkles, artiges Kleid mit Spitzenkragen erwecken die Vorfreude auf ein angenehmes Gespräch, auf Konversation. Doch schnell gerät Ilona Rothe an den Rand ihrer psychischen Kräfte, und auch dem Zuhörer stockt der Atem. Es kann nicht sein, dass Menschen dergleichen anderen Menschen angetan haben, möchte man immer wieder ihren Bericht unterbrechen.

Frau Rothe berichtet von den Zwangsaussiedlungen aus dem fünf Kilometer breiten Grenzstreifen an der Grenze der DDR zur BRD am 5.16. Juni 1952 und am 3.10.1961. Dieser Grenzstreifen und die Tatsache, dass er nur von den dort Wohnhaften mit einem Sonderausweis betreten werden durfte, war bekannt. Weitgehend unbekannt aber ist die Brutalität, mit der dieser Streifen von „unzuverlässigen Elementen” — man schätzt ihre Zahl auf 50000 — in zwei großen Aktionen und in Einzelfällen mindestens bis zum Jahre 1986 gereinigt worden war.

Heimlich waren die Grenzbewohner ausgeforscht und die „unzuverlässigen” Familien selektiert worden. Aus den Akten der Volkspolizei:

„Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die o. g. Familie ein Unsicherheitsfaktor im Grenzgebiet Frankenheim darstellt. Die ungeordnetenfamiliären Verhältnisse, der übermäßige Genuss von Alkohol können ständig Auslösebedingungen für Angriffe auf die Staatsgrenze der DDR darstellen.”

„Es besteht die Möglichkeit, dass er unkontrolliert Personen nach Frankenheim hineinschleust.”

„Die Familie unterhält ständig Kontakt zu ihren Verwandten in der BRD. Diese Personen reisten wiederholt nach K. ein. Die gesamte Entwicklung der Familie hat besonders in letzter Zeit zu Situationen geführt, die die Ordnung und Sicherheit in E, besonders die Grenzsicherheit, gefährden.”

„In der gesamten Familie wird vorrangig das Programm des Fernsehens der BRD gesehen.” „Die übrigen Kinder sind Schüler POS und zeigen eine schlechte Einstellung zum Lernen.”

Plötzlich rückten in den frühen Morgenstunden zwischen vier und fünf Uhr, der Stunde der Diktatoren, die Kommandos der Polizei und der Grenztruppen an. Aus den Berichten Betroffener:

„Ich war gerade aufgestanden und wollte das Vieh füttern. Die Hunde bellten. ,Wenn Sie nicht sofort die Hunde wegnehmen, erschießen wir sie.‘ Ich wollte jedenfalls noch das Vieh füttern. Das durfte ich nicht. Als ich auf die Eintagsküken hinwies, ergriff ein kleiner Kerl, kaum größer als seine Kalaschnikow, den Pappkarton, drehte ihn um und zertrampelte die Eintagsküken. Von unseren Kindern war das eine krank, die Ärztin war bei ihm. Als die Ärztin deshalb die Umsiedlung verhindern wollte, wurde ihr gedroht, auch sie werde zwangsumgesiedelt, wenn sie nicht ruhig sei. So mussten wir das kranke Kind zurücklassen. Die Ärztin hat wenig später das Kind heimlich aus dem Haus geholt und aufgezogen. Wir wussten lange nicht, wo es war.”

„Am S. Juni 1952 gegen 5 Uhr früh kam eine LKW Kolonne, jeder LKW mit ca. 10 Gehilfen, in unser Dorf. Ein Aufgebot von Polizei riegelte die Straßen ab. Die betroffenen 13 Familien wurden von der Polizei aus den Betten geholt und zur Bürgermeisterei geschleppt. Dort wurde ihnen mitgeteilt, dass sie als Gegner des Regimes betrachtet würden und das Grenzgebiet sofort zu verlassen hätten. Sie wurden in Grimmenthal in Waggons geladen, wo noch der Mist in den Ecken lag. Herzzerreißende Szenen spielten sich ab, denn wir dachten alle, es ginge nach Russland.”

„Was sich hier auf dem Bahngelände abspielte, war ein Bild wie beim Ausbruch eines Krieges. Und das in der Heimat, wo täglich so viel von Frieden gesprochen und geschrieben wird, besonders von denen, die so mit uns umgehen. Alte gebrechliche Menschen schleppten sich durch das Gewühl auf das Bahngelände. Dazwischen jammernde Mütter, die wehrlos Alles hinnehmen mussten, dazu noch die Tatsache aus der Heimat vertrieben.”

„Keiner wusste warum — keiner wusste wohin. Nach 4-6 Stunden bewegten sich die Fahrzeuge aus dem Dorf zum Bahnhof nach Grimmenthal. Auf dieser Fahrt, ich saß neben dem Fahrer des LKW erzählte er mir voller Zorn und Empörung: ,Was heute hier geschieht ist furchtbar. Uns Kraftfahrer, welche alle aus dem Thüringer Raum zusammengezogen wurden, hat man wider unseren Willen dazu kommandiert. Wir mussten gestern am Spätnachmittag in Meinigen sein. Nach Stunden wurden wir belehrt durch die Landrätin, sie haben den Auftrag, morgenfrüh in den Grenzdörfern Familien zu transportieren. Es handelt sich um Schieber, Saboteure, Betriebsleiter, die aus Böswilligkeiten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, Sittlichkeitsverbrecher usw. Nun fahrt hin, und holt diese Lumpen.“

Und aus der Sicht der Volkspolizei:

„5:50 Der Einsatzleiter des HO Kreisbetriebes Heiligenstadt konnte die übertragenen Aufgaben nicht durchführen, da er sich betrunken hat.

8:12 Einsatzstab Worbis meldet: Aktion läuft, wie geplant. 13 klare Fälle, 1 Festnahme, 1 Fall passiven Widerstand, wird durch Agitatoreneinsatz geklärt.

10:10 Im Bezirk Suhl gibt es verschiedentlich bei der Umsiedlung Widerstand. Zentrum ist Geismar.

10:20 In Günterode weigert sich eine Person. In Mackenrode droht eine Frau mit Selbstmord. Im westlichen Vorfeld keine Maßnahmen des Gegners sichtbar.

12:45 In Paulungen wollten die werktätigen Frauen der Strumpfwarenfabrik streiken. Der Einsatz von Agitatoren verhinderte das. Die Kampfgruppen von Katarinenberg gaben eine Verpflichtung ab, keine Westsender mehr zu hören und zu sehen und die Befehle der Partei auszuführen.”

Ein Urteil des I. Strafsenats des Bezirksgerichts Suhl: Acht Jahre Zuchthaus wegen Verbrechens nach Art. 6 Abs.2 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik.

Aus den Gründen:

„Der Angeklagte B. war Landwirt .. ist zu 70 % schwerbeschädigt (rechter Arm amputiert). Er hat sechs Kinder.

Dieser ließ sich auf nichts ein und schimpfte: ,Volkspolizisten zieht die Röcke aus, werft die Waffen weg. Ihr seid ja schlimmer, als die Amerikaner.; forderte die Bewohner auf, den Maßnahmen unserer Volkspolizei Widerstand entgegenzusetzen. Auch B. beteiligte sich am Barrikadenbau.”

Aus einer ADN Meldung vom 18.6.1952, zwei Wochen nach der ersten Zwangsaussiedlung:

„Berlin (ADN) … In der letzten Zeit werden jedoch durch feindliche Elemente verleumderische Gerüchte in Umlauf gesetzt, wonach aus den Ortschaften, die in dem Fünf- Kilometer-Streifen an der Demarkationslinie liegen, eine Massenaussiedlung von Einwohnern durchgeführt werden soll. Die Haltlosigkeit und der feindselige Charakter dieser Gerüchte sind offensichtlich. Wie aus wohlunterrichteten Kreisen verlautet, sind keinerlei Aussiedlungen aus den Ortschaften, die im Fünf-Kilometer Gürtel oder in dem 500 Meter Streifen an der Demarkationslinie liegen, vorgesehen.“

Vergangenes Unrecht, längst wiedergutgemacht? Natürlich nicht!

Aus eine Bescheid des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik — Zentrales Kriminalamt — vom 9.4.1990 (!):

„Die Einsichtnahme in ehemalige Festlegungen ergab, dass der Beschluss des Ministerrats der DDR… zu diesem Zeitpunkt geltendes Recht war. Zur Durchsetzung dieses Beschlusses wurde der damalige Minister des Inneren und Chef der DVP, Friedrich Dickel, durch den Ministerrat beauftragt… Die Überprüfung Ihrer Anzeige ergab, dass ein dringender Tatverdacht der Verletzung von Strafgesetzen der DDR nicht gegeben ist. Geprüft wurden die §§ 91 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit), 129 (Nötigung) und 244 (Rechtsbeugung) des Strafgesetzbuches der DDR. Insofern kann in Anbetracht der Umstände auch kein individueller strafrechtlicher Schuldvorwurf gegen Herrn Friedrich Dickel erhoben werden.”

Bundesjustizminister Kinkel lässt prüfen . . . , schickt eine Gruppe von Ministerialbeamten zu Ilona Rothe. Frau Rothe legt ihnen ihre Unterlagen vor. Als sie nach einer Stunde zurückkehrt … was haben sie in der Stunde gemacht? … sie haben gezählt! „Sie hatten uns gesagt, es seien 1000 Vorgänge, es sind jedoch nur 600!”

Frau Rothe versagt die Stimme.

In ihrem Beruf als Lehrerin (Deutsch und Russisch) arbeitet Frau Rothe nicht ohne Schwierigkeiten; sie konzentriere sich nicht genügend auf ihre Aufgaben in der Schule, lautet der Vorwurf von Kollegen, die sich vor der Wende anderweitig konzentriert hatten. Ilona Rothe wird sich auch weiterhin für die Zwangsausgesiedelten einsetzen.

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