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Das Memorandum zur Straf­rechts­re­form

vorgänge12/ 196301/1970Seite 380-383

Aus: vorgänge Heft 12/ 1963, S.380-383

(vg) Die Mitgliederversammlung der HU verabschiedete am 16. November Vorschläge zur Strafrechtsreform, als Memorandum dem Strafrechtsausschuß des Deutschen Bundestages überreicht, das nach längeren Vorbereitungen durch Umfragen bei den Mitgliedern und die Mitarbeit sachkundiger Mitglieder der Union erstellt worden war. Die strittigen Paragraphen des Entwurfs eines neuen Strafgesetzbuches, mit denen sich das Memorandum nach der Darlegung allgemeiner Prinzipien speziell befaßt, wurden in den Vorgängen 2—5/63 unter der Rubrik „Materialien” zur Kenntnis gebracht.

Das Memorandum wurde am 17. November in einer öffentlichen Veranstaltung mit anschließender Pressekonferenz der Öffentlichkeit bekanntgemacht. Die Veranstaltung stand unter dem Thema ;,Was an der Strafrechtsreform reformbedürftig ist”. Die Vorstandsmitglieder der HU, Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer und Professor Dr. Alexander Mitscherlich, hielten dabei grundsätzliche Referate. Sie gingen beide von der Feststellung aus, daß die Zeit für eine wirkliche Strafrechtsreform nicht reif sei, weil die neuen Erkenntnisse über Anlage und Umweltbedingungen des Menschen, über die psychischen und sozialen Ursachen und Bedingungen von Straftaten und Verbrechen, über die Probleme von Schuld und Strafe und über die praktischen Möglichkeiten einer Resozialisierung von Straffälligen noch nicht. ins Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit gedrungen seien und de Abgeordneten des Bundestages weithin an diesem Mangel teilhätten bzw. sich scheuten, neue Einsichten gegen die atavistischen Meinungen und Neigungen in der Bevölkerung zum Zuge zu bringen. Darum könne es zur Zeit nur darum gehen, wenigstens einige kleinere Reformen hinsichtlich einzelner Straflatbestände anzuregen und durchsetzen zu wollen und auf eine Verbesserung des Strafvollzuges zu dringen. (Die beiden Referate werden von den „Vorgängen” noch veröffentlicht bzw. zusammenfassend referiert werden.)

Das Memorandum zur Strafrechtsreform hat folgenden Wortlaut:

Der „Entwurf eines Strafgesetzbuches (E StGB 1962) mit Begründung” (Bundesratsdrucksache 200/62) entspricht in wichtigen Teilen nicht den Anforderungen, die an eine moderne Kriminalgesetzgebung zu stellen sind. Die grundsätzlichen Mängel des Entwurfes und seiner Begründung sind u. E. in folgendem zu erblicken:

Der Entwurf läßt den in der modernen Gesellschaft bestehenden Pluralismus ethischer Wertvorstellungen unberücksichtigt: Er ist bei der Regelung weltanschaulich umstrittener Straftatbestände — z. B. bei der ethischen Abtreibungsindikation, der Homosexualität und der künstlichen Samenübertragung — in Text und Begründung ganz unverkennbar einseitig an der katholischen Moraltheologie und dem scholastischen „Naturrecht” orientiert. Das widerspricht dem Wesen und den Prinzipien eines demokratisch-pluralistischen Rechtsstaates, in dem neben katholischen auch evangelische Christen und Nicht-Christen gleichberechtigt zusammenleben. Das Strafrecht ist ein Recht für alle und muß deshalb von Gruppenwertungen frei bleiben. Andernfalls wird die Gerichtsbarkeit vom Gesetz zu schwerwiegenden Eingriffen in die Gewissensfreiheit und die Intimsphäre genötigt.

Die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften, insbesondere der Anthropologie, Psychologie, Psychiatrie und der Sozialwissenschaften sind in dem Entwurf nicht genügend berücksichtigt. Ebenso fanden die rechtlichen Regelungen und rechtspolitischen Erfahrungen des Auslands keinen wesentlichen Niederschlag.

Wenn das geplante Gesetzgebungswerk der realen menschlichen und gesellschaftlichen Situation der westlichen Welt in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gerecht werden und den verpflichtenden Namen „Reform” verdienen will, muß es von folgenden Grundüberzeugungen getragen sein:

I. Das neue Strafrecht muß vom Geist des Grundgesetzes ausgehen. Der Kern des Grundgesetzes ist die konkrete Freiheit der einzelnen Person. Die Auswirkungen der Grundfreiheiten, die auf dem Gedanken der Toleranz beruhen, sind deshalb im Zusammenhang mit der Strafrechtsreform noch einmal zu überprüfen und in die Überlegungen viel mehr als bisher einzubeziehen. Überall, wo Strafvorschriften mit den Grundrechten der freien Entfaltung der Persönlichkeit, der Freiheit des Gewissens, der Meinung und der Information, der Freiheit der Kunst oder mit dem Gebot des Schutzes der Intimsphäre zu kollidieren drohen, ist für den Gesetzgeber äußerste Zurückhaltung am Platz. Als Richtschnur für solche strittigen Entscheidungen muß der für den modernen Rechtsstaat charakteristische, vom Grundgesetz (Art. 1, I und Art. 2, II) und von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützte Grundsatz gelten: „Im Zweifelsfalle für die Freiheit!”

II. Die einzige legitime Aufgabe des Strafrechts ist die Abwehr antisozialer Angriffe auf den Rechtsfrieden. Keinesfalls gehört es dagegen zu den Aufgaben des Staates, Handlungen unter Strafandrohung zu verbieten; die weder Einzelpersonen noch der Allgemeinheit einen Schaden zufügen.

III. Strafvorschriften, die nicht auf diesen Voraussetzungen beruhen oder die sich als praktisch wirkungslos oder gesellschaftspolitisch bedenklich erwiesen haben, sind abzuschaffen, auch wenn eine solche Entscheidung im einen oder anderen Fall nicht sofort von der öffentlichen Meinung verstanden werden sollte. Der Staat muß in solchen

Fällen darauf hinwirken, daß sich in der Öffentlichkeit allmählich ein Verständnis für die begrenzten Aufgaben des Strafrechts und die Unterschiede zwischen Recht und Moral ausbreitet. Der Gesetzgeber hat auf keinen Fall „allgemeine” Emotionen, Vorurteile oder Gebräuche zur Grundlage seiner Entscheidungen zu machen.

IV.Das Parlament sollte sich mit den internationalen Rechtsentwicklungen befassen und nur solche Handlungen unter Strafe stellen, die in den Strafgesetzen aller westlichen Kulturnationen als strafwürdig angesehen werden. Ein modernes Gesetz, dessen Geist nicht provinziell und partikularistisch sein soll, muß vor allem den europäischen Einigungsentwicklungen Rechnung tragen.

V.Die Bundestagsabgeordneten und die zuständigen

Ausschüsse sollten in jedem Fall vor endgültigen Entscheidungen von der Möglichkeit der Befragung der wissenschaftlichen Sachverständigen Gebrauch machen und die gesicherten Erkenntnisse der Wissenschaft auch dann objektiv berücksichtigen, wenn sie ihren subjektiven politischen oder weltanschaulichen Meinungen zuwiderlaufen.

Auf der Grundlage der genannten allgemeinen rechts-und sozialpolitischen Erwägungen bittet die Humanistische Union den Bundestag, folgende Einzelvorschläge und Formulierungsentwürfe zu prüfen und in die Vorarbeiten zur Strafrechtsreform mit einzubeziehen (wir folgen dabei der Reihenfolge des Strafrechtsentwurfs E 1962 der Bundesregierung) :

1. Die Zuchthausstrafe sollte wegen der außerordentlichen Erschwerung der Resozialisierung der Verurteilten und der praktischen Undurchführbarkeit im modernen Strafvollzug in ein neues Strafrecht nicht mehr übernommen werden. (Siehe allgemeine Richtlinien, Punkt III). Der neue § 12, der die Straftaten nach ihren strafrechtlichen Folgen einstuft, könnte in Absatz 1 lauten: „Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die mit Gefängnis über 10 Jahre und Verlust öffentlicher Rechte bedroht sind.”

2. Die §§ 24 und 25 des Entwurfs („Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen“ und „Verminderte Schuldfähigkeit”, also § 51 des geltenden Rechts) mögen in folgender Gesetzesvörschrift zusammengefaßt werden: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen einer in ihren Ursachen für ihn nicht erkennbaren, vom Bewußtsein willentlich nicht zu beeinflussenden, körperlich oder seelisch bedingten krankhaften Störung unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

War die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus diesem Grunde erheblich vermindert, so kann der Richter die Strafe nach freiem Ermessen mildern oder von Strafe absehen.”

Begründung:

Die Dreiteilung in Bewußtseinsstörung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit und Geistesschwäche hat sich nach Ansichten von Juristen und medizinischen Sachverständigen nicht bewährt und ist auch begrifflich unscharf. Sie wird insbesondere dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft über den Aufbau der Persönlichkeit nicht gerecht.

Die vorgeschlagene Neufassung versucht, in Absatz 1 einen einheitlichen Begriff zu schaffen, der wie bisher von der Unfähigkeit des Täters, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, ausgeht. Gleichzeitig sollte erreicht werden, daß das Wesen psychischer Erkrankungen nicht mehr ausschließlich auf die Krankheitsbegriffe einer nur naturwissenschaftlich-erbbiologisch fundierten Psychiatrie gegründet wird, sondern daß die namentlich in den angelsächsischen Ländern unter dem :Sammelbegriff der „behavioral sciences” zusammengefaßten Forschungen berücksichtigt werden. Dies ist insofern notwendig, als eine Rechtsprechung, die einerseits auf dem Schuld- und Sühzieprinzip, andererseits auf einer Schuldunfähigkeit nur aus naturwissenschaftlichen Gründen fußt, keinerlei Raum für eine sachgerechte Beurteilung der eigentlichen psychogenen Erkrankungen und vor allem der neurotischen Kriminalität hat.

In Absatz 2 wird dem Richter in der Beurteilung der Täterpersönlichkeit mehr Spielraum als bisher gewährt und ihm die Möglichkeit gegeben, gleichzeitig mit der Feststellung einer strafbaren Handlung die Strafe qualitativ weitgehend zu modifizieren.

3. Das Problem der Abtreibungsindikationen bedarf insgesamt der nochmaligen Prüfung. In jedem Fall ist die Unterbrechung einer durch Notzucht aufgezwungenen Schwangerschaft aus den im allgemeinen Teil hinreichend dargelegten menschlichen, sittlichen und verfassungsrechtlichen Gründen zuzulassen und gesetzlich zu regeln. Als zusammenfassende Lösung der Frage der Abtreibungsindikationen schlagen wir vor, dem Absatz (1) des neuen § 157 („ärztliche Unterbrechung der Schwangerschaft“) folgende Form zu geben:

„Die Abtötung einer Leibesfrucht durch einen Arzt ist nicht strafbar, wenn die Frucht aus einer Notzucht ( §§ 204—208) herrührt oder wenn nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde nur durch eine Fruchttötung die Gefahr von ärztlich nicht zu verantwortenden Gesundheitsschäden von Mutter oder Kind abzuwenden ist.”

4. Der neue § 176 („Beleidigung von Persönlichkeiten des politischen Lebens“) sowie die in den Reformentwurf aufgenommene neue Bestimmung gegen Indiskretionen (§ 182) ist zu streichen. Diese Gesetze bieten bei entsprechender Auslegung zu viele Möglichkeiten, die öffentliche Information und Kritik zu beschneiden und die Arbeit der Presse zu behindern, als daß sie mit dem Grundgesetz zu vereinbaren wären. Sie sind außerdem überflüssig, da die Strafdrohungen gegen „üble Nachrede”, „Verleumdung” und „Kundgabe von Mißachtung” sowie nicht zuletzt die Schadenersatzbestimmungen des Zivilrechts genügend Schutz gegen Indiskretionen und soziale Schädigungen bieten. Ein Sonder-Ehrenschutz für Politiker verstößt außerdem gegen den Verfassungsgrundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.

5. Besonders fragwürdig sind die neuen §§ 187 und 188 „Gotteslästerung” und „Beschimpfung einer Religionsgesellschaft (§ 166 alt).

Die beiden Bestimmungen gehen an den tatsächlichen weltanschaulichen Gegebenheiten, an der Vielfalt der Glaubensvorstellungen und Überzeugungen und an dem Faktum, daß die Bundesrepublik ein säkularisierter Staat ist, vorbei. Weder geht es an, in unserer pluralistischen Gesellschaft allein die mit dem Begriff „Gott” verbundenen religiösen Höchstwert-Gefühle zu schützen, noch gibt es heute in unserem Lande ein „allgemeines” religiöses Empfinden, noch ist es rechtmäßig, als alleinigen Maßstab für den Tatbestand der „Beschimpfung einer Religionsgesellschaft” das Empfinden der Betroffenen einzuführen.

Sollte sich der Gesetzgeber nicht zu der von prominenten Vertretern der christlichen Kirchen vorgeschlagenen vollständigen Streichung der für diese Vergehen angedrohten Strafen entschließen können, empfiehlt die Humanistische Union, die sich als unparteiische Vertreterin aller Glaubensrichtungen in unserem Lande betrachtet, die beiden §§ 187 und 188 in folgender Weise zusammenzufassen:

„(1) Wer öffentlich in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften eine im Inland bestehende Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Glaubensvorstellungen oder Überzeugungen, ihre Einrichtungen oder ihre Gebräuche in beleidigender Absicht beschimpft, wird mit Strafhaft oder Geldstrafe bestraft.

(2) Werke der Kunst fallen nicht unter diese Bestimmung.”

6. Aus den Bereichen „Straftaten gegen die Ehe” und

„Straftaten gegen die Sittlichkeit” (§§ 192—231 neu, insbesondere §§ 193, 203 mit § 5 Abs. 1 Ziff. 13, 216 und 217, 218, 220 a, 223) sind, wie sich aus den oben unter I und V dargelegten Prinzipien ergibt und wie es der Praxis fortschrittlicher Kulturstaaten entspricht, alle sexuellen Handlungen auszuschließen, die

a) keine Gewaltanwendung oder Nötigung,

b) keine Schädigung Minderjähriger bedeuten und

c) nicht in der Öffentlichkeit ausgeführt werden. Bestimmungen, die darüber hinausgehen, führen zu einer willkürlichen Auswahl weniger Verfolgungsfälle und dienen vorzugsweise den Interessen von Erpressern. Strafandrohungen schrecken weiter wahrscheinlich auch davon ab, psychiatrische oder andere ärztliche Hilfe für sexuelle Probleme zu suchen. Davon abgesehen sind Verurteilung und Freiheitsentzug einer Heilung von psychischen Erkrankungen eher im Wege als förderlich. Letztlich geht es, solange ein Mensch andere nicht schädigt, um die fundamentale Frage des jedermann gebührenden Schutzes gegen staatliche Einmischung in seine Intimsphäre.

7. Der neue § 20 „Unzüchtige Schriften und Sachen”, falls er beibehalten wird, müßte laut Artikel 5, Abs. 3 des Grundgesetzes den Zusatz erhalten:

„(2) Werke der Kunst fallen nicht unter diese Bestimmung.“

8. Die vorgesehene Vorschrift des § 452 „Störung der Strafrechtspflege” (E 1962) ist in dieser Form ausgesprochen pressefeindlich. Über schwebende Strafverfahren könnte nach Inkrafttreten einer solchen Strafbestimmung praktisch nicht mehr berichtet werden. Die Humanistische Union schlägt deshalb folgende Umformulierung vor:

„Wer öffentlich während eines Strafverfahrens vor dem Urteil des ersten Rechtszuges in Druckschriften, in einer Versammlung oder in Darstellungen des Ton- oder Fernseh-Rundfunks oder des Films den künftigen Ausgang des Verfahrens oder den Wert eines Beweismittels in einer Weise zu beeinflussen sucht, die die Unparteilichkeit der Rechtsprechung gefährdet, wird mit Strafhaft oder mit Geldstrafe bestraft.”

9. Verstöße gegen das Grundgesetz, soweit sie Grundrechte betreffen und wissentlich geschehen, sollten in Zukunft strafrechtlich geahndet werden. Die Humanistische Union hält es für untragbar und gefährlich, daß ausgerechnet diese fundamentalen, unsere gesellschaftliche Ordnung tragenden Rechtsgüter bisher weder strafrechtlich noch zivilrechtlich noch disziplinarrechtlich eigenen Schutz genießen.

10. Gemäß Artikel 26 des Grundgesetzes ist eine Strafbestimmung gegen die Vorbereitung eines Angriffskrieges zu fordern. Der Entwurf der Bundesregierung sieht

erstaunlicherweise keine derartige Vorschrift vor. (§ 388 E „Landesverräterische Friedensgefährdung” vermag eine solche keinesfalls zu ersetzen.) Entsprechend den Genfer Konventionen von 1949 bedarf es außerdem der Einführung von Strafvorschriften zur Wahrung der Menschenwürde bei bewaffneten Konflikten. Die allgemeinen Strafvorschriften reichen zur Gewährung des darin vorgesehenen Schutzes nicht aus.

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