Publikationen / vorgänge / vorgänge 139

Weltweite Migration

Hintergründe — Perspektiven für die Zukunft

aus: vorgänge Nr. 139 (Heft 3/1997), S. 9-16

Migration begleitete immer schon die Geschichte der Menschheit. Sie ist ein „Phänomen menschlicher und gesellschaftlicher Lebensgestaltung, in dem sich Weltoffenheit und Freiheit ebenso manifestieren können wie Repressionen und Lebensangst, Zukunftsvorsorge ebenso wie Abenteuerlust, Bildungs- und Arbeitsstättensuche ebenso wie Rückzug aus dem Arbeitsleben” (Grohmann 1996: 1).

Zur Begriff­lich­keit

Migration ist die Verlagerung von Personen oder Gruppen von einem Land oder Gebiet in ein anderes für die Dauer einer Zeitspanne, die lang genug ist, dort die Entfaltung eines Alltagslebens zu ermöglichen. Fluchtwanderungen liegen dann vor, wenn der Entschluss zur Migration erzwungen wurde (z.B. durch Missachtung der Menschenrechte, Verfolgung, Bedrohung von Minderheiten, Krieg oder Bürgerkrieg, absolute Verelendung, Natur- und Umweltkatastrophen). Arbeitswanderungen (oder besser ökonomisch bedingte Wanderungen) liegen vor, wenn durch die Migration das – mehr oder weniger frei bestimmte – Ziel einer Verbesserung der Lebensumstände durch z.B. Arbeitsaufnahme, Ausbildung oder unternehmerisches Handeln in einem anderen Land oder Gebiet erreicht werden soll. In Folge von Flucht- und Arbeitswanderungen, die zunächst temporär geplant waren, sich jedoch zu dauerhafter Niederlassung im Zielland der Migration verfestigten, treten Wanderungen zum Zweck der Familienzusammenführung auf. Remigration ist schließlich die temporäre oder dauerhafte Rückkehr in das Herkunftsland.

Migrations- und Integra­ti­ons­pro­zesse

Die möglichen Migrationsursachen können unterschiedlich sein. Es ähneln sich jedoch die jeweiligen Migrations- und Integrationsabläufe: Sie bilden ein prozeßhaftes Geschehen, das den Entschluß, von einem Land oder Gebiet in ein anderes zu wandern, umfasst, dann den Akt des Wanderns selbst, die Wirkungen des Übergangs in ein fremdes Land oder Gebiet und die Folgen des Übergangs. Wenn auch Phasen innerhalb dieses Prozesses aufweisbar sind, so ist hiermit dennoch ein kontinuierlicher Differenzierungs- und Reintegrationsvorgang angesprochen. Auf personaler Ebene verändern sich Existenzweisen (Hettlage-Varjas, A./Hettlage R. 1995: 15), auf gesellschaftlicher Ebene werden sozialer Wandel und Neustrukturierungen hervorgerufen.
In Migration- und Integrationsprozessen begegnen sich oft Menschen mit unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrund. Erfolgreiche Integration setzt daher die Anerkennung und Akzeptanz von Verschiedenheiten voraus. Für einen sozialen Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland sind darüber hinaus aber auch Chancengleichheit (gleichförmige ökonomisch und rechtliche Bedingungen) sowie ein Mindestrepertoire gemeinsam geteilter Normen und Werte unverzichtbar.

Rüsten (1996: 149/150) empfiehlt zur Überwindung von Fremdenfeindlichkeit und konflikthafter ethnischer Differenz interkulturelle Kommunikation, der Gleichheit als Prinzip zu Grunde liegt und die ebenso um die wechselseitige Anerkennung von Differenz bemüht ist. „So könnte auch eine zukunftsträchtige Modifikation nationaler ldentität durch den Gesichtspunkt wechselseitiger Anerkennung von kultureller Differenz unter der Voraussetzung menschen- und bürgerrechtlicher Gleichheit ein Konstrukt abgeben, dass die Zukunft der Modernisierung für sich hätte”.

Erklärungsmodelle

Wanderungen können politisch, ökonomisch, ökologisch, demographisch oder soziokulturell veranlaßt sein, meist liegt jedoch ein multifaktorielles Ursachengeflecht zu Grunde. Zur Erklärung von bereits stattgefundener oder Abschätzung zukünftiger Migration werden in formalen Wanderungsmodellen Wanderungsströme zwischen zwei Regionen in Verbindung mit den dort jeweils vorfindlichen sozialen, ökonomischen oder demographischen Variablen betrachtet. Ereignisse wie Naturkatastrophen oder Kriege werden in formalen Modellen in der Regel nicht berücksichtigt, obwohl damit politische und ökologische Verursachungen von Migration systematisch vernachlässigt werden. Variablen, die den Wanderer aus der Herkunftsregion „abstoßen”, werden als Push -Faktoren, solche, die den Wanderer in das Zielland „ziehen”, als Pull -Faktoren bezeichnet. Es können auch intervenierende Variablen bestimmt werden, das sind vor allem „Hindernisse” oder „Vorteile”, die zwischen Herkunfts- und Zielort liegen. Gravitationsmodelle erachten den Wanderungsstrom zwischen zwei Regionen als direkt proportional zur entsprechenden Bevölkerungsgröße und als umgekehrt proportional zur Entfernung. Andere Modelle nehmen an, dass eine proportionale Beziehung zwischen den Wanderungsströmen und den sich in der Zielregion bietenden Möglichkeiten (z.B. Arbeitsmöglichkeiten) sowie eine umgekehrt proportionale Beziehung zu intervenierenden Variablen (z.B. den zwischen Herkunfts- und Zielort vorfindliche Arbeitsplatzangebote) bestehen. Wahrscheinlichkeitsmodelle verbinden Migrationsentscheidungen mit verschiedenen persönlichen Eigenschaften der Migranten wie Alter, frühere Wanderungen etc.

Dimensionen

Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) befanden sich 1996 (alle Zahlen UNHCR: 1997) rund 26 Mio. Personen als Flüchtlinge aus „begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen” (Genfer Flüchtlingskonvention von 1951: Art. I A, 2), oder in einer flüchtlingsähnlichen Situation im jeweiligen Krisengebiet. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl der weltweit registrierten Flüchtlinge mehr als verdoppelt, in Afrika verdreifacht, in Europa, insbesondere durch die kriegerischen Auseinandersetzungen im früheren Jugoslawien, verzehnfacht. Es wird geschätzt, dass eine ebenso hohe Anzahl von Flüchtlingen durch den UNHCR nicht erfaßt wird.
Nur ein kleinerer Teil der im Ausland registrierten Flüchtlinge findet in den wohlhabenden Ländern Zuflucht, da sich die bedrohten Menschen vor allem in den unmittelbaren Nachbarregionen der Krisengebiete aufhalten. Die Zahl der in den Mitgliedsstaaten der EU sowie Schweiz und Norwegen insgesamt gestellten Asylanträge ist bis Anfang der 90er Jahre von rund 150.000 im Jahr 1987 auf knapp 700.000 im Jahr 1992 gestiegen, und hat sich danach bis 1994 wieder mehr als halbiert (328.000). Davon entfielen jährlich ein Drittel bis die Hälfte auf Deutschland. Die Zahl der Anerkennungen beträgt im Durchschnitt rund 10 v.H., in Deutschland liegt sie erheblich unter dem Durchschnitt. Von 1990 bis 1994 konnten insgesamt knapp 200.000 Personen in den europäischen Staaten Asyl er-halten, und etwa ebenso vielen wurde ein Bleiberecht aus humanitären und ähnlichen Gründen zuerkannt. Über 1,5 Mio. Asylanträge wurden abgelehnt (Deutschland: Anerkennungen 68.300, Ablehnungen 995.100).
Rund doppelt so hoch wie die Anzahl registrierter Flüchtlinge ist die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die auf der Suche nach Arbeit innerhalb und zwischen Regionen beziehungsweise Kontinenten wandern, wobei die Grenzen zwischen Freiwilligkeit und Zwang fließend sind. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Genf halten sich 1997 insgesamt rund 130 Mio. Menschen oder 2,2 v.H. der Weltbevölkerung im Ausland auf: rund 45 Mio. „legale” Arbeitsmigrantinnen und -migranten, schwerpunktmäßig in Nordamerika, Westeuropa, den bevölkerungsarmen Golfstaaten sowie in den Wachstumsregionen Ost- und Südostasiens. Rund ein Viertel der weltweit im Ausland lebenden Migrantinnen und Migranten (30 Mio.) hält sich nach Schätzungen, die auf selektiven Feldstudien basieren, „illegal” (die UN sprechen in ihrem neuen World Population Monitoring von „documented” und „undocumented migrants”, um eine normative Konnotation zu vermeiden; vgl. UN Commission on Population and Development 1997: 134 und 155) in den Zielländern auf. Allein für die USA wird eine Zahl von ungefähr 3,4 Mio. angenommen. Die weltweite Arbeitsmigration setzt sich aus zwei sehr unterschiedlichen Gruppen zusammen: zum einen die Gruppe der Experten, hochqualifizierter Spitzenkräfte, Manager, Forscher und Techniker, zum anderen Hilfskräfte in Landwirtschaft und Baugewerbe, für schmutzige, gefährliche und anstrengende Tätigkeiten und einfache Dienstleistungen in wohlhabenden Ländern.
Die jährlichen Wanderungsströme aus Entwicklungsländern sind nach Angaben der Weltbank (1995: 60ff.) derzeit im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nicht größer als in den frühen siebziger Jahren, etwa ein Migrant pro 1000 Einwohner. Dennoch stieg die (absolute) Anzahl der Migrantinnen und Migranten Mitte der 90er Jahre auf einen historischen Höchst-stand. Insgesamt leben ungefähr 2 v.H. der in Entwicklungsländern geborenen Menschen nicht in ihrem Heimatland. Ungefähr 2 bis 3 Mio. neuer Migrantinnen und Migranten wandern derzeit jährlich (legal und illegal) aus Entwicklungsländern aus, von denen etwa die Hälfte in Industrieländer geht. Für die Industrieländer bedeutet dies durchschnittlich 1,5 Einwanderer aus Entwicklungsländern pro 1000 Einwohner im Jahr, genauso viel wie 1970. Zielgebiete innerhalb der Entwicklungsländer sind insbesondere die sogenannten „Schwellenländer” mit expandierenden Ökonomien und die bevölkerungsarmen Ölförder-Länder des Mittleren Ostens (hier sind 60 bis 90 v.H. der arbeitenden Bevölkerung ausländischer Herkunft). In den G7-Staaten leben rund ein Drittel aller Migrantinnen und Migranten. Aufgrund der niedrigen Geburtenraten in den Industriestaaten geht ein wesentlicher Anteil des dort dennoch zu verzeichnenden, schwachen Anstiegs der Bevölkerung auf Einwanderung zurück (in Deutschland ist das Anwachsen der Bevölkerung sogar ausschließlich auf diesen Umstand zurückzuführen). Die Wanderungen zwischen den Industrieländern haben sich seit 1970 von 2,5 Migrantinnen und Migranten pro 1000 Einwohner auf 1,5 Migrantinnen und Migranten im Jahr 1990 vermindert.
Noch sind die internationalen Wanderungsbewegungen überwiegend keine globale Angelegenheit. Die meisten Migrantinnen und Migranten verbleiben innerhalb ihrer Herkunftsregionen: Afrikanische Migrantinnen und Migranten ziehen größtenteils aus dem Inneren des Kontinents in andere afrikanische Länder an den Küsten, während Arbeitskräfte aus Asien nach Japan, Taiwan und Malaysia oder in den Mittleren Osten gehen. Nach Europa kommen Einwanderer aus ehemaligen Kolonien, aus Osteuropa und Nordafrika. In die USA wandern nicht nur Menschen aus dem benachbarten Mexiko und Zentralamerika, sondern aus einer Vielzahl weit entfernter Länder, wie z.B. Philippinen, Korea, Vietnam, Indien oder China. Insgesamt sind derzeit etwa 45 Mio. Arbeitsmigrantinnen und -migranten außerhalb ihrer Herkunftsländer beschäftigt, darunter allein rund 10 Mio. Russen in GUS-Staaten. Hinzu kommen insgesamt über 50 Mio. Familienangehörige.
Perspektiven für die Zukunft
Mittelfristig erwartet das IIASA -Institut, Laxenburg, (IIASA 1996) einen Anstieg auf rund 4 Mio. Migrantinnen und Migranten jährlich, von denen etwa die Hälfte (knapp 2 Mio.) aus Asien abwandert, hauptsächlich nach Nordamerika und Japan/Ozeanien, aber auch in GUS-Länder und andere (ost-)europäische Länder. Für die Länder der GUS und Osteuropa werden bis 2010 jährlich circa 500.000 Auswanderer erwartet, die hauptsächlich nach Westeuropa wandern dürften; nach 2010 ist zu erwarten, daß diese Region selbst zu einem (Netto-)Einwanderungsgebiet wird. Afrikanische Migrantinnen und Migranten (rund 1 Mio. jährlich) werden hauptsächlich nach West- und Osteuropa, rund ein Fünftel nach Nordamerika gehen. Die USA erwarten danach hauptsächlich Migrantinnen und Migranten aus Mittel-und Südamerika (ungefähr 1 Mio. jährlich) sowie aus Asien.
Insgesamt ist die Datenlage zu grenzüberschreitender Migration sehr unsicher, abweichende Schätzungen die Regel und die vermutete „Dunkelziffer” hoch. Wanderungen auf Grund von Familienzusammenführung sind, neben Flucht- und Arbeitsmigration, in vielen Zielländern derzeit schon quantitativ am bedeutendsten (OECD 1995: 16); ihre Bedeutung dürfte in Zukunft noch zunehmen, da in einem typischen Wanderungsmuster zunächst Einzelpersonen (z.B. zur Arbeitsaufnahme) in ein anderes Gebiet oder Land wandern, mit Verfestigung des Aufenthaltes im Zielgebiet der Migration dann Familienangehörige nachgeholt werden oder auch im Herkunftsland nach Ehepartnern gesucht wird. Ebenfalls hoch dürfte zukünftig der Umfang von Rückwanderungen sein, insbesondere bei ursprünglich erzwungener Migration (Fluchtwanderungen).
Wanderungsbewegungen werden voraussichtlich weiterhin in großem Umfang stattfinden. Sie werden die soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklung in den Herkunfts- und Zielregionen wesentlich beeinflussen. Die Betroffenheit einzelner Regionen vom weltweiten Migrationsgeschehen kann allerdings erheblich variieren. Die Mitgliedsstaaten der EU insgesamt sind auf Grund ihrer geographischen Lage insbesondere von Wanderungen aus Mittelmeeranrainerstaaten (Maghreb, Türkei) und aus Osteuropa betroffen. Die Wanderungsverflechtungen Deutschlands sind zusätzlich durch die Rückwanderung „Volksdeutscher” (Spätaussiedler) aus Osteuropa geprägt.

Deter­mi­nanten zukünftiger Wande­rungs­be­we­gungen

Neben den bereits bestehenden Wanderungsverflechtungen zwischen einzelnen Regionen dürften folgende Rahmenbedingungen das zukünftige Migrationsgeschehen bestimmen:

1. Der Abstand zwischen Regionen mit hohem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung und Regionen mit niedrigem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung wird aller Voraussicht nach mittelfristig zunehmen.
Das Sozialprodukt und die Verteilung des Volkseinkommens klaffen im Vergleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern weit auseinander. Das Weltbruttosozialprodukt von rund 6000 Mrd. US-Dollar verteilte sich 1975 im Verhältnis von 4:1 auf Industrie- und Entwicklungsländer. Inzwischen hat es sich fast verdreifacht. Dabei wird die Kluft — gerechnet pro Kopf der Bevölkerung — immer breiter. In den Industriestaaten werden pro Kopf der Bevölkerung über 20000 US-Dollar erwirtschaftet, in vielen Ländern Afrikas und Asiens dagegen kaum 500 US-Dollar. Der Abstand zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung hat sich von 30:1 im Jahre 1960 auf 61:1 im Jahre 1991 vergrößert (UN Development Program 1994). Zwar verzeichnen einige Schwellenländer Asiens derzeit ein enormes Wirtschaftswachstum, doch nimmt der Abstand der ärmsten Länder noch zu. Auch die OECD bestätigt diese Ungleich Entwicklung: In die Entwicklungsländer strömt zwar insgesamt mehr Kapital aus den Industriestaaten, die ärmsten Länder profitieren davon jedoch am wenigsten. So sind 1995 insgesamt etwa 239 Mrd. US-Dollar in die Entwicklungsländer geflossen (davon ungefähr zwei Drittel privates Kapital), zu 80 v.H. allerdings in die zwölf dynamischsten Schwellenländer. Gleichzeitig ist die staatliche Entwicklungshilfe der 21 im entwicklungspolitischen Ausschuß der OECD vertretenen Industrieländer real gesunken: Sie beträgt derzeit nur noch 0,27 v.H. des BSP, den niedrigsten Wert seit Bestehen der Statistik (OECD 1997).

2. Die den Weltbevölkerungszuwachs bestimmenden Faktoren lassen sich aller Voraussicht nach nur mittel- bis langfristig in relevantem Maße beeinflussen, so daß weiterhin mit einer rasch steigenden Weltbevölkerung gerechnet werden muß, die sich regional zunehmend ungleicher verteilt.
Diese Entwicklung ist fast unvermeidlich, wie vor allem die Altersstruktur der Weltbevölkerung zeigt: Die bereits erfolgten Geburten in vielen Regionen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas haben zur Folge, daß in diesen Regionen derzeit fast die Hälfte der Bevölkerung jünger als 18 Jahre ist, also das für künftige Geburten relevante Alter erst noch erreicht. In Indien z.B. erhöhte sich die Zahl der Menschen innerhalb von zwei Generationen um über das Vierfache: von etwa 200 Mio. 1930 auf rund 400 Mio. 1960, auf etwa 600 Mio. 1973, auf gegenwärtig (1996) knapp 950 Mio. mit steigender Tendenz (natürliche Wachstumsrate 1,9 v.H./Jahr) in Richtung einer Milliarde nach der Jahrtausendwende. Die Weltbevölkerung insgesamt wird aller Voraussicht nach weiter anwachsen: 1950 lebten auf der Erde rund 2,5 Mrd. Menschen, gegenwärtig (1996) sind es knapp 5,8 Mrd. und bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts wird sich die Weltbevölkerung auf geschätzte 9,4 Mrd. erhöhen, so die neueste Schätzung der UN Population Division, mittlere bzw. wahrscheinlichste Variante, vom November 1996. In der höchsten Variante wird — bei einem langsameren Rückgang der Fruchtbarkeitsrate — im Jahr 2050 eine Bevölkerungszahl von 11,1 Mrd. erwartet, in der niedrigen Variante 7,7 Mrd. Derzeit leben rund 85 v.H. der Weltbevölkerung in Entwicklungsländern; ihr Anteil wird in den nächsten Jahrzehnten auf über 90 v.H. ansteigen. In den Ländern mit hohem Einkommen ist kaum natürliches Bevölkerungswachstum mehr zu verzeichnen, sondern Stagnation und langfristig Rückgang. Tendenziell nimmt die Bevölkerung in den wohlhabenden Ländern ab, sie wird älter und reicher und ist mit immer mehr Technik und Kapital ausgestattet; die Armen nehmen an Zahl weltweit zu, werden mittelfristig noch jünger und im Vergleich zur wohlhabenden Bevölkerung der Industrieländer ärmer. Die Verknüpfung dieser sozioökonomischen und demographischen „Teilwelten” durch Migrationsbewegungen ist wahrscheinlich.

3. Die globale Informations- und Kommunikationsgemeinschaft führt tendenziell zur Aufhebung herkömmlicher kultureller Grenzziehungen und die Verdichtung infrastruktureller (Verkehrs-)Netze ermöglicht zunehmende Mobilität.
Bevölkerungswachstum, Armut, Kriege und Katastrophen können als wesentliche Push-Faktoren der gegenwärtigen Wanderungsbewegungen betrachtet werden. Umgesetzt wer-den Wanderungsabsichten jedoch erst, wenn gewisse kulturelle und infrastrukturelle Voraussetzungen vorhanden sind. Menschen sind erst fähig, ihre Region und Heimat zu verlassen, wenn die mentalen Voraussetzungen gegeben und Verkehrsmittel vorhanden sind. Das galt z.B. auch für die großen Auswanderungen aus Europa: die Verheißung von Glück, Reichtum und Freiheit in Amerika war ebenso grundlegend wie der Ausbau der Schifffahrtslinien (Nicklas 1996: 179ff.). Nuscheler stellt diesbezüglich fest: „Wir erleben außerdem (neben der Globalisierung der Finanz- und Gütermärkte sowie der Agrar- und Dienstleistungsmärkte) eine Globalisierung der Kommunikation, die Informationen, Bedürfnis- und Konsummuster bis hin zu Modetrends und Essgewohnheiten in die letzten Winkel der Erde transportiert; sie droht als Transportmittel einer ,Allerweltskultur‘ alle kulturellen Identitäten zu überrollen und die Menschheit um den größten Reichtum ihrer kulturellen Evolution zu bringen. Die Globalisierung der Kommunikation transportiert Bedürfnisse, animiert die ,Revolution der steigen-den Erwartungen‘ und schafft gewollte Konsum- und Kaufanreize, aber auch ungewollte Migrationsanreize, die durchaus vernünftigen Wahlentscheidungen entspringen” (Nuscheler 1995: 7). Betrachtet man z.B. die Entwicklung der Transport- und Kommunikationskosten im 20. Jahrhundert als Indikator für weltweite Kommunikation und Mobilität, so ist ein erheblicher Preisverfall festzustellen: Güter, Kapital, Menschen und Ideen bewegen sich heute schneller und billiger als je zuvor. Die Kosten für Seetransporte betrugen im Jahr 1960 weniger als ein Drittel ihres Niveaus von 1920, und sie sind seither weiter gefallen. Die Gebühren eines internationalen Telefongesprächs sanken von 1940 bis 1970 um das Sechsfache und in den Jahren von 1970 bis 1990 nochmals um das Zehnfache.

4. Das politische Ordnungsgefüge der internationalen Beziehungen ist nach der Überwindung des bipolaren Weltsystems in einer Phase der Neustrukturierung, die mittelfristig keine Abnahme von kriegerischen Konflikten erwarten läßt.
Die meisten der etwa 50 aktuell ausgetragenen bewaffneten Konflikte sind formell „innerstaatliche” Konflikte (Antiregime-Kriege) oder sind aus inneren Konflikten entstanden (Separationskriege) (Brock 1996: 27). Hinsichtlich der Auslösung von Flucht- und Zwangswanderungen sind ihre Folgen den zwischenstaatlichen Konflikten allerdings vergleichbar: Der Großteil der rund 50 Mio. Flüchtlinge und Vertriebenen, die 1996 innerhalb von oder in andere Staaten geflüchtet sind oder vertrieben wurden, sind unmittelbare Kriegsopfer. Obwohl der „klassische”, zwischenstaatliche Krieg eher selten geworden ist, dominiert dieser in den sicherheitspolitischen Konzepten.

5. Neben einer Zunahme der Handels- und Kapitalströme zeichnet sich „Globalisierung” auch durch internationale Arbeitskräftewanderungen aus.
Diese haben nach Einschätzung der Weltbank einen hohen potentiellen Nutzen, sowohl für die Herkunfts- wie für die Zielländer der Migration: Zuwanderer erhöhen im Zielland oft die Produktivität und senken die Arbeitskosten. Außerdem transferieren sie Geld an zurückgebliebene Verwandte und erhöhen so die Einkommen im (gewöhnlich ärmeren) Herkunftsland. Arbeitsmigrantinnen und -migranten senden etwa 75 Milliarden Dollar im Jahr nach Hause, was rund einem Drittel der Nettokapitalströme in die Herkunftsländer entspricht.

Handlungsansätze

In Anbetracht der beschriebenen Dimensionen weltweiter Wanderungen und des zu erwartenden weiterhin hohen Umfangs internationaler Migration sind politische Bewältigungsstrategien dringend geboten, die zunächst eine realistische Lagebeurteilung erfordern. Dazu gehört z.B. die Bereitschaft, zur Kenntnis zu nehmen, daß, auch wenn sich der Anteil von Migranten an der Weltbevölkerung nicht erhöht, ihre absolute Anzahl bis zum Jahr 2010 auf mindestens 140 Mio., bis 2025 auf etwa 170 Mio. zunehmen wird. Davon wird ein steigender Anteil „illegal” in den Zielländern leben, insbesondere wenn der Tatsache weltweiter Migration allein mit verschärften Restriktionen begegnet werden sollte, und weiterführende Strategien ausgespart bleiben. Grundsätzlich kann der weltweiten Migration auf zwei Ebenen begegnet werden: Zum einen kann versucht werden, präventiv Migrationsanreize und -ursachen zu vermindern. Dazu gehört zuerst der Stop, perspektivisch ein Ausgleich der wachsenden sozioökonomischen Disparitäten; es kann dazu auch erforderlich sein, traditionelle Ökonomien zu stärken und an bestehende soziale und kulturelle Strukturen anzuknüpfen. Darüber hinaus läßt die Verschränkung der sozioökonomischen und demographischen Entwicklungen eine Abschwächung des Bevölkerungszuwachs nur erwarten, wenn sich die Lebensbedingungen in Staaten mit jungen Altersstrukturen und hohen Geburtenraten gleichmäßig verbessern. Die „Prämien” auf die Erweiterung der Familienarbeitskraft sowie auf die oftmals einzige Chance auf Sicherung im Alter lassen nach wie vor die Geburt von Kindern in verelendeten, städtischen und ländlichen Schichten zahlreicher Entwicklungsländern als eine rationale, individuelle Überlebensstrategie erscheinen (Kößler, R./Schiel, T. 1996). Weiterhin ist die Beeinflussung des reproduktiven Verhaltens in Regionen mit hohen Geburtenzahlen dringlich. Hierbei sind Familienplanungsprogramme verstärkt auf Männer als Zielgruppe auszurichten (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen 1995: 40). Wie aus Befragungen in Ländern mit sehr hohen Geburtenzahlen deutlich wird, könnte in diesen Ländern die Geburtenzahl um ein Viertel bis die Hälfte niedriger sein, wenn die Kinderzahlen von Frauen und Männern nur gleich wären. Insgesamt ist eine Stärkung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Position von Frauen zu fördern sowie Kinderarbeit konsequent zu bekämpfen. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) arbeiten derzeit weltweit 73 Mio. Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren regelmäßig; bei Berücksichtigung der Beschäftigung im häuslichen Rahmen dürfte diese Zahl bei über 100 Mio. liegen. Die Einbindung von Kindern, insbesondere auch von Mädchen, in (Aus-)Bildungssysteme ist zu erhöhen. So erhalten nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den 69 ärmsten Ländern der Welt nur ungefähr 15 bis 30 v.H. der Heranwachsenden eine weiterführen-de Schulbildung, davon sind lediglich rund 10 v.H. Mädchen. Eine Migrationsursachen vorbeugende Sicherheitspolitik ist einerseits auf die Einhaltung von Menschenrechten zur Erhöhung der inneren Herrschaftslegitimation auszurichten (denn illegitime Herrschaftssysteme behindern die jeweilige nationale Integration), andererseits sind im Krisenfalle wirkungsvolle Sanktion – und Interventionsmittel der Weltgemeinschaft notwendig, um präventiv eingreifen zu können.
Dennoch wird es zu weiteren, auch ungewünschten, Wanderungen kommen. Daher sind solche Maßnahmen zur Verhinderung von Migrationsursachen und zur Verminderung von Migrationsanreizen zu ergänzen um Regelungen, welche ermöglichen, die bestehenden und zu erwartenden Migrationsbewegungen sowohl für die betroffenen Migranten erträglich als auch den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen in den Zielländern adäquat zu gestalten.
Die Bevölkerungskonferenz in Kairo (1994) hat deutlich gemacht, daß zu hohes Bevölkerungswachstum, vor allem in den ärmsten Ländern, eine der größten Gefahren ausreichender Entwicklung ist. Trotz der einvernehmlich verabschiedeten Resolution besteht allerdings die Gefahr, dass aufgrund fehlender internationaler Kontroll- und Sanktionsgewalt die wichtigsten Maßnahmen gegen das Bevölkerungswachstum in den einzelnen Staaten nicht umgesetzt werden. Auch die Beschlüsse des Weltgipfels für soziale Entwicklung in Kopenhagen (1995) ähneln eher einem Wunschprogramm denn konkreter Politik. Weder Industrie- noch Entwicklungsländer haben sich zu Maßnahmen verpflichtet, mit denen die Ursachen von Migration, Kriegen und Umweltzerstörung zu beseitigen wären. Dies gilt sicherlich auch für die praktischen Ergebnisse der Menschenrechtskonferenz in Wien (1993), auf welcher der Gedanke universeller Menschenrechte zwar ausführlich diskutiert und prinzipiell anerkannt wurde, was jedoch bislang nicht an konkreten Fortschritten bei der Eindämmung von Menschenrechtsverletzungen zu erkennen ist. So resümiert Hauchler (1996: S. 14) „Die globalen Konferenzen der vergangenen Jahre waren ein Schritt in die richtige Richtung. Ihre Wirkung aber ist zweischneidig. Sie haben weltweit das Bewußtsein der globalen Risiken verstärkt. Aber immer neue Resolutionen, die das Richtige sagen, jedoch unverbindlich bleiben, bergen die Gefahr, dass die Menschen das Vertrauen verlieren, die globalen Probleme seien noch zu lösen und Staaten wieder zunehmend in nationalen Alleingängen Zuflucht suchen.”

Literatur

Aktionsprogramm der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) (1994): hrsg. v. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn
Brock, L. (1996): Gewalt in den internationalen Beziehungen, in: Meyer, B. (Hrsg.), Eine Welt oder Chaos? Frankfurt a. M.
Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (1995): Weltbevölkerungsbericht 1995, Bonn
Grohmann, K(1996): Einführung zur 66. Jahreshauptversammlung der Deutschen Statistischen Gesellschaft, in: Allgemeines Statistisches Archiv, 1/96, Göttingen
Haedrich, M./Ruf, W. (Hrsg.)(1996): Globale Krisen und europäische Verantwortung — Visionen für das 21. Jahrhundert, Baden-Baden
Hauchler, L (Hrsg.)(1995): Globale Trends 1996, Frankfurt a.M.
Heitmeyer, W. (Hrsg.)(1996): Die bedrängte Toleranz, Frankfurt a.M.
Hettlage-Varjas, A./Hettlage, R. (1995): Übergangsidentitäten im Migrationsprozeß, in: Zeitschrift für Frauenforschung, 3/95, Bielefeld
Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung/Weltbank (1995): Weltentwicklungsbericht 1995, Arbeitnehmer im weltweiten Integrationsprozess, Bonn
International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) (1996): Jährliche Wanderungen 1990-2030, Laxenburg
International Organization for Migration (IOM) (1997): Schriftliche Auskunft vom 11.04. 1997, Genf
Kößler, R./Schiel, T. (1996): Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie der Modernisierung, Frankfurt a.M.
Meyer, B. (Hrsg.) (1996): Eine Welt oder Chaos? Frankfurt a.M.
Nicklas, H. (1996): Das Phantom des „Kampfs der Kulturen”, in: M. Haedrich/4V. Ruf (Hrsg.), Globale Krisen und europäische Verantwortung-Visionen für das 21. Jahr-hundert, Baden-Baden
Nuscheler, F. (1995): Von der Globalisierung der Märkte zu neuen Weltordnungen? — Möglichkeiten der Zivilisierung von Konflikten-Chancen einer Co-evolution der Kulturen (Vortrag zum 7. Kempfenhausener Gespräch, 19. bis 21. Mai 1995) Kempfenhausen
OECD (1995): SOPEMI — Trends in international migration, Paris
OECD (1997): Bericht des entwicklungspolitischen Ausschusses, Paris
Rüsen, J. (1996): Kollektive Identität und ethnischer Konflikt im Prozeß der Modernisierung, in: Die bedrängte Toleranz, hrsg. von W. Heitmeyer u.a., Frankfurt a.M.
UN Commission on Population and Development (in Vorbereitung): World Population Monitoring 1997, New York
UN Development Program (1994): Human Development Report, New York
UNHCR (1997): Statistik, Bonn
UN Population Division (1996): 1996 Revision, New York

nach oben