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Verfas­sungs­wid­rige Verfas­sungs­recht­spre­chung? Verfas­sungs­krise durch Entschei­dung zu § 218 StGB

vorgängevorgänge 1402/1975Seite 8-11

in: vorgänge Nr. 14 (2/1975), S. 8-11

Für das Funktionieren des demokratischen Rechtsstaats ist die gegenseitige Kontrolle der Verfassungsorgane[1] wesentlich und unerläßlich. Die Stellung und Machtbefugnis der Verfassungsorgane untereinander ist in der BRD daher – wie auch in anderen Demokratien westlicher Prägung – bestimmt durch ein sorgsam ausgewogenes Balance-System, das durch die Wechselseitigkeit von Interorgan-Kontrollen aufrechterhalten wird.[2] Wird diese Balance durch den Übergriff eines Verfassungsorgans in die Kompetenz eines anderen gestört, kommt es zur Verfassungskrise.

Die zweifellos schwierigste Stellung innerhalb dieses Balance-Systems hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Es ist nicht nur Verfassungsorgan, sondern zugleich auch echtes Rechtspflegeorgan, das als solches unabhängig ist und folglich keiner Kontrolle – außer der des Richterwahlsystems, dessen Praktizierung denn auch höchst anfechtbar und kritisierbar ist – unterliegen darf. Das BVerfG ist das einzige Verfassungsorgan der BRD, bei dem die Wechselseitigkeit der Inter-Organ-Kontrolle nicht vorhanden ist und seines richterlichen Status wegen auch nicht eingerichtet werden kann, obwohl es eine erhebliche Machtbefugnis hat. Umso notwendiger ist als Korrektiv die Selbstbeschränkung und Zurückhaltung, die sich das BVerfG auch in den ersten zwei Jahrzehnten seines Bestehens selbst auferlegt hatte. Von diesen – von ihm selbst entwickelten Grundsätzen – die mit dazu beigetragen haben, daß sich das BVerfG eine unbestrittene Autorität als Unparteiischer unter den Verfassungsorganen schaffen konnte, obwohl es über keine andere Machtbasis verfügt als den Auftrag des Grundgesetzes, keine politisch relevante „Hausmacht” hinter sich hat – ist das höchste deutsche Gericht in jüngeren Entscheidungen leider abgewichen[3], im Urteil über § 218 StGB hat es sie vollends – doch hoffentlich nicht endgültig – verlassen. Es hat damit eine Verfassungskrise ausgelöst, auch wenn Regierung und Parlament um der wichtigen Institution dieses höchsten Gerichts und obersten Hüters unserer Verfassung willen die Herausforderung wohl nicht annehmen und den Konflikt nicht zu einem offenen Eklat kommen lassen werden. Gleichwohl ist der Konflikt existent.

Er sollte auch weder verschwiegen noch vernebelt werden, weil die Verdrängung von Konflikten im politischen Bereich ebensowenig eine sachgerechte und gesunde Lösung darstellt wie die Verdrängung psychischer Konflikte durch den Neurotiker. Im übrigen hat es Verfassungskonflikte ähnlicher Art beispielsweise zwischen dem Supreme Court und dem Präsidenten in den USA gegeben, die offen ausgetragen wurden.

1. Überschrei­tung seiner Entschei­dungs­kom­pe­tenz durch das BVerfG

Das BVerfG ist durch Art 93 Abs 1 Nr 2 GG unter anderem bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem GG zur Entscheidung berufen, und zwar auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages (abstrakte Normenkontrolle). An der Entscheidungskompetenz des BVerfG ist im Falle der verfassungsrechtlichen Überprüfung der Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch also nicht zu zweifeln.

Dagegen hat die Senatsmehrheit mit dem Urteil vom 25.2.1975 [4] erheblich in die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments eingegriffen. Das BVerfG ist nicht nur Rechtsprechungsorgan; als Verfassungsorgan hat es auch legislatorische Befugnisse: seine Entscheidungen im abstrakten Normenkontrollverfahren haben Gesetzeskraft. [5] Um die eingangs erwähnte Balance der Machtbefugnisse der Verfassungsorgane nicht zu stören und sich nicht dem Vorwurf eines Suprematieanspruchs gegenüber anderen Verfassungsorganen auszusetzen, hat sich dieses Gericht von Anfang an dem Grundsatz des self-restraint verpflichtet. Es stellte wiederholt fest, daß es nicht Sache eines Gerichts, auch nicht des BVerfG, sei, die vom Gesetzgeber gewählte Lösung auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen oder zu untersuchen, ob sie vom Standpunkt einer beteiligten Interessengruppe aus die „gerechteste” denkbare Lösung darstelle. Das BVerfG hielt sich daher stets nur dazu befugt, die Überschreitung gewisser äußerster Grenzen zu beanstanden. [6] Es bildete als einen feststehenden Grundsatz seiner Rechtsprechung aus, „daß das Gericht dem Gesetzgeber gegenüber Zurückhaltung zu üben hat“[7], zuletzt nochmals bekräftigt im Urteil des 2. Senats vom 31.7.1973 über den Grundvertrag zwischen BRD und DDR [8], wo ausgeführt ist:

Der Grundsatz des judicial self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht ,Politik zu treiben‘, dh in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.

Das bedeutet, daß das BVerfG auch dann, wenn es als Verfassungsorgan tätig wird, Recht spricht, nicht setzt; seine legislatorische Kompetenz lediglich eine Folge seiner richterlichen Tätigkeit dar-stellt, sein Rechtsspruch um der Schaffung klarer Rechtsverhältnisse und seiner Funktion als verfassungsrechtlicher Schiedsrichter willen Gesetzeskraft hat. Zweifellos ist die Grenze zwischen Verfassungsrechtsauslegung und Rechtspolitik mitunter fließend. Umso größere Behutsamkeit ist in diesem Grenzbereich erforderlich.

Die apodiktischen Feststellungen der Senatsmehrheit im Urteil über die Reform des § 218 StGB sind jedoch nicht Rechtsauslegung, sondern theologisch-weltanschauliche Spekulation. Sie verlieren diesen Charakter nicht dadurch, daß das Gericht sie in Rechtsausführungen umbenennt. Die Urteilsbegründung der Senatsmehrheit wie auch die von ihr aufgestellten Leitsätze zeigen klar, daß die vom Gericht entschiedene Frage nicht darin bestand, ob das noch ungeborene menschliche Wesen, der nasciturus, „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” (Art 2 Abs 2 Satz 1 GG) hat, sondern ob der Staat verpflichtet ist, gerade mit den Mitteln des Strafrechts dieses Leben zu schützen. Das zu entscheidende Problem war somit eindeutig ein rechtspolitisches, eine Frage der Zweckmäßigkeit, und gehörte so-mit nach der eigenen Rechtstradition des BVerfG in die ausschließliche Kompetenz des Gesetzgebers, nicht aber des Verfassungsgerichts. Das ab-weichende Votum der Richter Wiltraut Rupp-von Brünneck und Helmut Simon hat das eindeutig und klar dargelegt. Schon in der Statusdenkschrift des BVerfG vom 27.6.1952 — einem Selbstbestimmungsversuch — heißt es: „Unter politischen Rechtsstreitigkeiten sind solche Rechtsstreitigkeiten zu verstehen, bei denen über politisches Recht gestritten und das Politische selbst anhand der bestehenden Normen zum Gegenstand der richterlichen Beurteilung gemacht wird.“ [9]

Gerhard Leibholz führt als Beispiele politischer Fragen an: die Entscheidung über die künftige Eigentumsordnung, die Einführung der Todesstrafe oder deren Abschaffung, das Ehescheidungsrecht oder die Gestaltung des Prozeßverfahrens.[10] Von ihm stammt auch der Hinweis: „Tatsächlich ist das Bundesverfassungsgericht nicht müde geworden, Regierung und Opposition immer wieder daran zu erinnern, daß ihnen die politische Verantwortung für die von ihnen zu treffenden politischen Entscheidungen nicht abgenommen werden kann, und daß es sich jeder Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit aus politischen Gründen widersetzen müsse.„[11] Im Urteil über die Reform des § 218 StGB hat dagegen der erste Senat des BVerfG in eklatantem Widerspruch zu den eben genannten Grundsätzen ausschließlich Zweckmäßigkeitserwägungen angestellt, indem er die eigenen Vorstellungen denen des Gesetzgebers vorzog.

2. Bindungs­wir­kung des Urteils

Nach § 31 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht binden die Entscheidungen des BVerfG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Diese Bindungswirkung besteht allerdings nicht für das BVerfG selbst. Das Gericht kann seine in einer früheren Entscheidung vertretenen Rechtsauffassungen in einem neuen Urteil wieder aufgeben. [12] Die Gesetzeskraft der Entscheidung bewirkt, daß ein Bundesgesetz desselben Inhalts nicht noch einmal von den gesetzgebenden Körperschaften beraten, beschlossen und vom Bundespräsidenten verkündet werden darf. [13] Gesetzeskraft hat allerdings nur die Entscheidungsformel. [14]

Weder in der Entscheidungsformel noch in den Leitsätzen noch in den Gründen hat das BVerfG jedoch eine Fristenlösung kategorisch abgelehnt. In Leitsatz 4 hat es sogar ausdrücklich festgehalten, der Gesetzgeber könne „die grundgesetzlich gebotene rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruches auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen, als mit dem Mittel der Strafdrohung.” Entscheidend sei auf die Gesamtheit der Schutzmaßnahmen für den nasciturus abzustellen. Nur „im äußersten Falle, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen.” Demgemäß ist es durchaus nicht sicher, daß das BVerfG auch einer modifizierten Fristenregelung widersprechen würde, etwa nach dem Vorbild des französischen Gesetzes Nr. 75-17 vom 17.1.1975 über den freiwilligen Abbruch der Schwangerschaft, das die Strafbarkeit der Abtreibung grundsätzlich bestehen läßt und in einem gesonderten Gesetz die Grundlagen für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch unter kasuistischer Aufzählung bestimmter Voraussetzungen (Antrag, Beratung) regelt.[15] Diese Lösung ist derjenigen eines „modifizierten Indikationenmodells” bei weitem vorzuziehen, würde außerdem der europäischen Rechtsangleichung dienen.

Der Eingriff des BVerfG in die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments wirft allerdings noch ein weiteres schwerwiegendes Problem auf: inwieweit das Urteil vom 25.2.1975 nicht selbst verfassungswidrig und vielleicht unbeachtlich ist. Kommt man zu diesem Ergebnis, tritt allerdings die Verfassungskrise offen zutage. Immerhin sollten diese Konsequenzen zumindest diskutiert werden.

Das BVerfG selbst hat die theoretische Möglichkeit verfassungswidriger Verfassungsnormen jedenfalls dann eingeräumt, wenn durch sie die äußersten Grenzen der Gerechtigkeit überschritten werden.[16] Unter den gleichen Voraussetzungen muß es daher auch denkgesetzlich möglich sein, daß Entscheidungen des BVerfG verfassungswidrig sind. Dies könnte auch dann gelten, wenn eine Entscheidung des BVerfG so sehr sachlich in die Kompetenz eines anderen Verfassungsorgans eingreift, daß damit die Balance der Machtbefugnisse empfindlich gestört wird. Allerdings ergibt sich die Schwierigkeit, wer für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit zuständig sein soll, da nach dem Grundgesetz diese Feststellungsbefugnis ausschließlich dem BVerfG zu-steht.

Es ist unmöglich, im Rahmen dieses Aufsatzes die möglichen Konsequenzen einer materiell verfassungswidrigen Verfassungsgerichtsentscheidung zu diskutieren. Notwendiger ist es, Verfassungskrisen dieser Art zu vermeiden. Das ist nur möglich, wenn das BVerfG sich auf seinen ursprünglichen Grundsatz des judicial self-restraint, der Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber besinnt.

Anmerkungen:

1 In der BRD: Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht.

2 Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl S 188 ff, 254 f.

3 Vgl zB das Urteil zum Vorschaltgesetz zum Niedersächsischen Gesamthochschulgesetz BVerfGE 35, 79 ff, abweichende Meinung S 148 ff; vgl hierzu: Jürgen Seifert in Vorgänge Nr 12/1974,S35 ff.

4 Zitiert nach Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1975, 126 ff (siehe auch gekürzte Dokumentation in diesem Heft der Vorgänge).

5 § 31 Abs 2

6 BVerfGE BVerfGG.  356, 3, 58, 135; 9, 334, 337; 12, 326, 337 f; 13, 
361 f; 18, 121, 124; 19, 354, 367 f.

7 BVerfGE 13, 356, 361 f; 14, 142, 150; 19, 354, 367 f.

8 BVerfGE 36, 1, 14; ebenso das abweichende Votum der
Richter Wiltraut Rupp-von Brünneck und Helmut Simon; vgl auch Statusbericht des BVerfG JöR Bd 6 5 145 und Leibholz, Der Status des BVerfG in: Das BVerfG 1951-1971, S 31 ff.

9 Jahrbuch des öffentlichen Rechts, neue Folge, Bd 6, S 145.

10 Gerhard Leibholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, zitiert nach: Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl, S 176.

11 aa0 S 180.

12 BVerfGE 4, 31, 38.

13 BVerfGE 1, 14, 37.

14 Leibholz/Rupprecht, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, RdNr 3 zu § 31.

15 Journal Officiel de la Republique Francaise — Lois et Decrets — 1975, 739 ff, auszugsweise abgedruckt in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1975, 58 ff (deutscher und französischer Text) (siehe auch Dokumentation in diesem Heft der Vorgänge).

16 BVerfGE 3,225,231 ff; 4, 294, 296.

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