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Am Anfang Kant, am Ende Adorno?

vorgängevorgänge 14412/1998Seite 39-48

Zum philosophisch-politischen Diskurs über Öffentlichkeit und Privatheit

Vorgänge 144, S. 39-48

Unser heutiges Denken über die moralische und politische Bedeutung von Öffentlichkeit ist, wie so vieles andere, Produkt des säkularen Prozesses der Durchsetzung der Moderne, die Hans Blumenberg treffend als Bedingungsverhältnis von Säkularisation und Selbstbehauptung beschrieben hat. Mit dem Zerfall religiöser Welterklärungsmuster und Sinnstiftungen geht eine dramatische Expansion des Wissens und des Wissenwollens als entscheidender Bemeisterungsstrategie von Individuen und Gesellschaften gegenüber ihren jeweiligen Umwelten einher. Das Fehlen der göttlichen Apellationsinstanz zwingt in die Erforschung der äußeren und inneren Natur. Zwangsläufig korrespondiert diese Ausgangslage eines permanenten Bewährungsdrucks der Selbstbehauptung mit einer neuen Bewertung von Kommunikation, und die Verständigung der aktiven Gesellschaftsmitglieder wird zum konstitutiven Bestandteil ihres Wissenserwerbs. In den Lese- und Theatergesellschaften, in den wissenschaftlichen Vereinigungen, in den zahlreichen korrespondierenden Körperschaften pflegt man einen Diskurs unter den Gleichen der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft, dem Publikum, welchem traditionelles Offenbarungswissen fremd geworden ist. Der soziale Dynamis-mus läßt nur noch eine funktional gestützte Hierarchisierung der Kommunikation zu; es gibt keinen durch traditionellen Stand privilegierten Wissensraum. Die Zugehörigkeit zum Publikum beweist sich in der sachlichen Kompetenz und nicht in außerhalb dieser Sachkenntnis liegenden Distinktionsmerkmalen. Man muß „verständig“ sein, dann gehört man dazu. Die großen politischen Theorien des Liberalismus – man denke nur an Arbeiten John St. Mills – setzen dann auch auf Erziehungsprogramme der bisher Minderbemittelten, um sie nach erfolgreicher Bildung und Ausbildung an der Öffentlichkeit teilnehmen lassen zu können. Die Egalität der wissensbasierten Partizipation verlangt nach einer Sphäre, in der diese Kenntnisse artikuliert werden können. Das Wissenmüssen gebiert die Öffentlichkeit als moralische Anstalt.
Damit entwickelt sich eine Neubestimmung des Begriffs von Öffentlichkeit, der als Raum staatlicher Regulierung vorher lange Zeit das politische Denken geprägt hatte. Die Souveränität des Staates zeigte sich in seiner öffentlichen Darstellung und die Legitimität seiner Herrschaft war an diese Veröffentlichung seiner Gewaltausübung gebunden. Letztere Idee ist etwa Hobbes noch so wichtig, daß er ihr im „Leviathan“ gehörigen Platz einräumt. Dem öffentlichen Staat steht als letztes Refugium das private Gewissen gegenüber, das sich aufgrund seiner Verborgenheit zwar der Kontrolle entziehen kann, aber diese Freiheit mit politischer, öffentlicher Wirkungslosigkeit bezahlen muß. Die Privatheit sichert sich nur vor der öffentlichen Herrschaft, in dem sie durch den Verzicht auf Kommunikation ihre Defensivität betont.

Altes Vatikanisches Sprichok.wort:

Denke nicht,
Wenn Du denkst, dann rede nicht,
Wenn Du denkst und redest,
dann schreibe nichts auf,
Wenn Du denkst und redest
und aufschreibst, dann
wundere Dich nicht.

Mit der Aufwertung des Wissens dreht sich dieses Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit um. Die Artikulation der Individuen, die sich ihres Verstandes zu bemächtigen haben, füllt den öffentlichen Raum und setzt das politische Steuerungszentrum unter einen neuen Legitimationsdruck. Der Staat muß sich vor dem Publikum, das die Stellung des passiv Empfangenen längst aufgegeben hat, rechtfertigen. Die Öffentlichkeit wird zum Korrektiv der politischen Ordnung, ja sie konstituiert diese erst. Ohne Öffentlichkeit gibt es keine Demokratie, und John Locke hält sie für einen unverzichtbaren Teil seines Systems der Gewaltenteilung, in dem die veröffentlichte Meinung Verfassungsrang einnimmt.
Keiner hat sich wohl um die Rhetorik dieser Umwidmung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit so verdient gemacht wie Kant. Erst der öffentliche Gebrauch der Vernunft läßt Aufklärung möglich werden. In Anlehnung an Rousseaus Idee einer „volonte generale“ formuliert er als Bedingung für die Rechtmäßigkeit von Gesetzen ihre Bindung an den öffentlichen Willen im Sinne der gedankenexperimentell herzustellenden Zustimmung aller Bürger.
Dabei greift er auch die Doppelbedeutung der Öffentlichkeit als Raum des freien Gedankenaustausches einschließlich der darin zu entbindenden allgemeinen Vernunft und als Subjekt universaler Emanzipation auf. Diese Kongruenz von Raum und Akteur hat Rousseau dazu gebracht, jede Distanz zwischen dem politischen Raum und dem Publikum in Form einer Repräsentation der politischen Einzelwillen abzulehnen. Die Öffentlichkeit als Herrschaftsraum/subjekt erträgt keine Delegation und verlangt nach direkter, unmittelbarer Demokratie. In der Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) präsentiert Kant zwar demgegenüber seine Vorstellung einer möglichen Stellvertretung der Allgemeinheit, aber gleichzeitig heißt es im Begründungszusammenhang der Einhelligkeit von Politik mit der Moral: „Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen. Denn, wenn sie nur durch die Publizität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen Zweck des Publikums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammen
zu stimmen (es mit seinem Zustande zufrieden machen) die eigentliche Aufgabe der Politik ist. Wenn aber dieser Zweck nur durch die Publizität, d.i. durch die Entfernung allen Mißtrauens gegen die Maximen derselben, erreichbar sein soll, so müssen diese auch mit dem Recht des Publikums in Eintracht stehen; denn in diesem allein ist die Vereinigung der Zwecke aller möglich.“ Politische Legitimität können nur noch solche Herrschaftsakte beanspruchen, die die Zustimmung aller Herrschaftsunterworfenen finden können. Zwar kann auf solche Verallgemeinerung zielende Überlegung auch privat vom aufgeklärten Monarchen vorgenommen werden, ihre Veröffentlichung stellt aber den eigentlichen Probierstein dieser Verallgemeinerungsfähigkeit dar. Was nicht vor dem Publikum standhalten kann, gilt als ungerechtfertigt. In selbsteingestandener polemischer Überspitzung geht Kant an anderer Stelle sogar soweit, das Verhältnis von auf den Staat bezogener Öffentlichkeit und Privatheit auch begrifflich umzukehren: Staatliche Verwaltungsakte sind für ihn aufgrund ihrer Distanz zum Publikum privat, während die schon allein in ihrem Räsonnement zum Publikum vereinigten vernünftigen Individuen Öffentlichkeit markieren.
Doch diese Umwidmung setzt sich nicht durch. Nach wie vor verweist Öffentlichkeit auf staatliches Handeln, aber dieses ist jetzt einem Publikum verpflichtet, das die Politik seiner Moral unterwirft. Ganz und gar unannehmbar sind etwa die Arkaden Räume politischer Entscheidungsfindung, und die Geheimhaltung von Parlamentsdebatten, wie sie bis Mitte des 18. Jahrhunderts im britischen Unterhaus üblich war, verliert jede Legitimationsbasis. Der „ewige Friede“, um wieder bei Kant anzuknüpfen, tritt dann ein, wenn es wirklich ein öffentliches Recht gibt, das seinen Namen als Ausdruck der Einheit der differenten einzelnen verdient. Öffentlichkeit trägt damit in sich ein Versprechen des Endes aller Gewalt.
Mit der Aufwertung der Öffentlichkeit zur moralischen Instanz, die in einer merkwürdigen Doppelfigur nicht nur das Forum für die Auseinandersetzung zwischen Wahrheit/Unwahrheit, Richtigkeit/Falschheit, das Gute und das Böse wird, sondern gleichzeitig in diese Unterscheidungen auf der Seite des Wahren, Richtigen und Guten wieder eintritt, entsteht ein politischer Doppelstandard. Neben die öffentliche Sphäre tritt ein geheimer Raum, in dem die eigentlichen Beschlüsse fallen. Parlamente bilden Ausschüsse, Kabinette Küchenkabinette, und wenn es denn gar nicht mehr anders geht, zieht man sich in Clubs zurück. In Großbritannien soll ja die Auswahl der Premierminister bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts im „Carlton“, bei „Whites“ oder -in der egalitären Variante – in Gewerkschaftszentralen erfolgt sein. Doch die Teilnahme an diesen kleinen Gruppen kann allenfalls höhere Effektivität beanspruchen, muß sich aber politisch-moralisch geschlagen geben. Dem Geheimnis haftet in aufgeklärten Zeiten permanent ein gewisser Hautgout an. Alle verhalten sich zuweilen klandestin und feiern gleichzeitig das Prinzip der Öffentlichkeit. Von diesem Doppelstandard lebt die kritische Presse als Wahrerin der prinzipiellen Publizität nicht schlecht. Einerseits ist die ambivalente Einstellung zur Öffentlichkeit für sie nicht akzeptabel und Grund ihrer investigativen Anstrengungen, andererseits profitiert sie vom privilegierten Wissen der Geheimnisträger, die ihr wichtige Informationen zutragen.
Kant hat bereits im schon zitierten „Ewigen Frieden“ implizit darauf aufmerksam gemacht, daß die „Zweizüngigkeit“ der Politik ihre Öffentlichkeitsbejahung als eigene Großzügigkeit und „süßes Wohltun“ ausgebe, während sie doch dabei nur einer letztlich aus dem Sozialvertrag resultierenden „Pflicht“ folge, „welche Hinterlist einer lichtscheuen Politik doch von der Philosophie durch die Publizität jener ihrer Maximen leicht vereitelt werden würde, wenn jene es nur wagen wollte, dem Philosophen die Publizität der seinigen angedeihen zu lassen.“ Gegen die politische Heuchelei hilft nur die Veröffentlichung und Mobilisierung des Publikums, das in seinem Urteil nicht fehlgehen kann, weil sich in ihm die allgemeine Vernunft verkörpert. Die „volonte generale“ kann nicht irren. Kant verkörpert auch den Optimismus einer permanenten Aufklärung, der von der Konstitution von Öffentlichkeit als moralischer Kategorie nicht zu trennen ist. Die Politik muß dem kritischen Geist den Zugang zur Publizität verwehren, will sie ihren Doppelstandard bewahren können. Wäre die Öffentlichkeit informiert über die Dunkelzonen des politischen Handelns, dann brächen sich zwangsläufig Vernunft, Wahrheit und Moral bahn. Defizite in der rationalen Gestaltung der politischen Ordnung können in einem solchen Denken immer auf die Verhinderung von Öffentlichkeit geschoben werden. Damit trägt die Hoffnung auf Veröffentlichung aber eine Meßlatte zur Bewertung des Politischen in sich, mit deren Hilfe sie flexibel ihr eigenes Scheitern auf die pervertierte öffentliche Debatte projizieren kann. Die Forderung nach wahrer, bisher noch nicht erreichter Öffentlichkeit, immunisiert das Selbstbewußtsein der moralischen Überlegenheit vor Reflexion: Die Dunkelmänner und Geheimnisträger versperren den Weg zu Vernunft, Wahrheit und Glück.
Mit der „öffentlichen Meinung“ differenziert sich semantisch ein Bereich heraus, der je nach Standpunkt der Öffentlichkeit voraus ist und quasi als Avantgarde dieser die Richtung vorgibt, oder manipulativ auf das Publikum einwirkt und dieses vom Wege der deliberativen Vernunft abbringt. Öffentliche Meinung ist Ferment, Substrat oder böser Geist der Öffentlichkeit. Semantik begleitet hier einen gesellschaftlichen Prozeß der funktionalen Differenzierung, in der auch die Vorstellung einer einheitlichen Vernunft den pluralen Interessenkämpfen gegenüber wenigstens soweit aufgeben muß, daß nur von der Durchsetzung bestimmter Partialinteressen eine solche Vereinheitlichung noch erwartet werden kann. Paradigmatisch steigt im 19. Jahrhundert die „proletarische Öffentlichkeit“ zu einer solchen Teilöffentlichkeit und Utopie einer wahren, authentischen Öffentlichkeit auf. Einen rhetorischen Höhepunkt erlebt diese Vision in Lenins „Dekret über den Frieden“, dieser Programmschrift der Oktoberrevolution. Dort heißt es: „Die Regierung schafft die Geheimdiplomatie ab, sie erklärt, daß sie ihrerseits fest entschlossen ist, alle Verhandlungen offen vor dem ganzen Volke zu führen …“. Dieses Versprechen richtet sich an die revolutionäre Öffentlichkeit Rußlands und verweist gleichzeitig über sich hinaus und universalisiert das Publikum. Damit wird die letzte Zitadelle des politischen Geheimnisses, die internationale Politik, wenigstens semantisch geschliffen. Auch der zwischenstaatliche Status hobbesienne kann sich damit dem Prinzip der Öffentlichkeit nicht mehr entziehen. Bezeichnenderweise reagiert das bürgerliche Publikum darauf in Form der „Vierzehn Punkte“ Woodrow Wilsons, die zwei Monate nach Lenins Erklärung veröffentlicht werden. Danach soll in die internationale Politik „soziale Kontrolle“ einziehen, die auf dem Prinzip umfassender Demokratisierung der politischen Systeme der internationalen Akteure basiert. Diese Demokratien werden aber deshalb als grundsätzlich pazifistisch eingestellt, weil sie durch die jeweiligen Öffentlichkeiten kontrolliert werden. Wilson setzt auf die „word public opinion“ als universales und binnengesellschaftliches Organisationsprinzip. Nur am Rande sei vermerkt, daß dieses Vertrauen ohne gewisse institutionelle Stützungen nicht auskommt, denn unter Woodrow Wilson wird in der Administration die Öffentlichkeitsarbeit als staatliche Aufgabe entdeckt. Kritiker sprechen von Propaganda.
Die Utopie einer herzustellenden Beteiligung aller lädt zur Parusie ein. So können Enttäuschungen über das Versagen der Öffentlichkeit in Hoffnungen umgeformt werden, die auf eine Verallgemeinerung der Gegen- oder Modellöffentlichkeit zielen. Wobei immer wieder der Zusammenhang von Information und Rationalität betont wird. Könnte nur die Wahrheit bekannt gemacht werden, dann würde vieles gut. Gegenöffentlichkeiten hängen dann auch besonders der bestimmten Details hinterherspürenden, etwas krampfhaft wirkenden Aufklärungsgeste an.
Solche Suche nach Wahrheit in den Tatsachen findet in der Politik ein reichliches Betätigungsfeld, weil in dieser die Herstellung passender Tatsachen mitunter zum Geschäft gehört. Man denke nur an die Klitterung der Geschichte der KPdSU je nach politischer Großwetterlage. Da gerät Leo Trotzky zur Unperson, verschwindet einfach aus den einschlägigen Historiographien. Fotografien, die ihn zeigen, werden retuschiert. Ein anderes Beispiel aus einem anderen politischen System: Auch nach der „Wehrmachtsausstellung“ findet bis heute in Deutschland eine Debatte über die von Wehrmachtseinheiten (und nicht von SS-Einsatzgruppen) begangenen Greueltaten an der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete eher verschämt statt. Offensichtlich ist hier, daß die Konstruktion von Wirklichkeit und Wahrheit politisches Kampffeld ist. Das ruft ja gerade die Öffentlichkeit und ihre Anwälte auf den Plan. Doch die Beispiele zeigen auch, daß sich diese scheinbare, das Publikum antreibende Sicherheit der Fakten bei genauerem Nachdenken verflüchtigt. Auch wenn alles bekannt ist, hört die Lüge nicht auf, sich als Wahrheit zu drapieren.
Konversionen sind selten. Tatsachen wirken als Tatsachen nur innerhalb eines Bedeutungsrahmens, der sie umgibt. Als solche bedeuten sie nichts; erst im Kontext von Sinnzuschreibungen werden sie brisant. Deshalb verpuffen sehr oft die Bemühungen investigativer Journalisten, die immer zur Tatsachenwahrheit vorstoßen wollen und dann feststellen müssen, daß diese ihre Wahrheit, daß ihre Aufklärung nichts ändert. So gelangte während des Golfkriegs zur Befreiung Kuwaits ein deutscher Reporter nach Bagdad. Dort entlarvte er die Behauptung, die von den USA geführten Streitkräfte nähmen sogenannte „klinische“ Bombardierungen vor, unter denen die irakische Zivilbevölkerung nicht sehr zu leiden hätte, als Propaganda. Selbstverständlich stimmte diese Behauptung nicht; wie in vielen modernen Kriegen gehörte die Bevölkerung auch im Irak zu den Hauptleidtragenden. Dem Reporter war es gelungen, Tatsachen festzustellen, die bisher geleugnet worden waren. Aber diese Recherche hat die Stellung der Öffentlichkeit zu diesem Krieg nicht verändert. Wer der Aktion am Golf vorher kritisch gegenüberstand, hatte jetzt neues Argumentationsmaterial erhalten, wer ihn befürwortete, hatte das ohnehin schon getan mit dem Wissen um die vielen Opfer eines Bombardements. Tatsachen gewinnen ihre Relevanz erst, wenn sie für die jeweilige Öffentlichkeit etwas bedeuten. Das Konzept einer Öffentlichkeit, die aufgrund von mehr Wissen als moralisches Korrektiv konstruiert wird, erleidet hier Schiffbruch. Wahrheit kann Öffentlichkeit nicht vereinheitlichen, und doch kann Öffentlichkeit auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit als Kern ihrer Existenz nicht verzichten. In der Wahrheit setzt sich die räumlich und sozial zersplitterte Öffentlichkeit wieder zum Ganzen von Vernunft und Moral zusammen. Ohne eine solche Wahrheitsontologie verlöre gerade der emanzipatorische Begriff des öffentlichen Räsonnements seine Kraft und würde zur regulativen Idee ohne inhaltliche Füllung. Der gedankenexperimentellen Herstellung eines Konsenses der Subjekte zum Kollektivsubjekt Öffentlichkeit wäre die Grundlage entzogen. Weil die Öffentlichkeit an Wahrheit gebunden bleibt, steht sie in kritischer Distanz zum Politischen, das eine eigene Räson ausbildet, die nicht aufgrund der Unterscheidung von Wahrheit/Unwahrheit, Moral/Unmoral arbeitet, sondern eher die Differenz von Klugheit/Unklugheit operationalisiert. Wer politische Auseinandersetzungen zu Wahrheitsfragen stilisiert und damit die Legitimität anderer, abweichender Meinungen bestreitet, ist in der Regel verhandlungs- und kompromißunfähig. Wahrheit ist nicht aushandelbar; Aushandeln ist aber der Kern des Politischen.
Mit der Erfindung der öffentlichen Meinung, die noch weiter in „veröffentlichte Meinung(en)“ unterschieden und relativiert werden kann, bewahrt sich die Rede von der Öffentlichkeit als Lenkungsinstanz der Moderne ihre Unschuld. Allenfalls schwächt sich die Hoffnung auf Öffentlichkeit als Sphäre der moralischen Politik ab und konvertiert bei dem einen oder anderen gar zum kulturkritischen Skeptizismus angesichts der universellen, industriellen Manipulationszusammenhänge. Theodor W. Adorno schreibt einhundertsechsundsechzig Jahre nach Kants „Ewigem Frieden“ einen Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Meinung, Wahn, Gesellschaft“ und konstatiert, daß die Kontrolle der veröffentlichten Meinung durch eine Wahrheit in den westlichen Ländern angesichts der sozialen Partikularismen unmöglich geworden ist: „Soll öffentliche Meinung legitim jene Kontrollfunktion ausüben, welche … die Theorie einer demokratischen Gesellschaft zuschreibt, dann muß sie selber in ihrer Wahrheit kontrollierbar sein. Statt dessen ist sie kontrollierbar nur als der statistische Durchschnittswert der Meinungen aller einzelnen. In diesem Durchschnittswert müssen notwendig die Irrationalitäten jener Meinung, das Moment ihrer Beliebigkeit und sachlichen Unverbindlichkeit, wiederkehren; sie wäre also gerade nicht jene objektive Instanz, die sie dem eigenen Begriff nach, als Korrektiv fehlbarer politischer Einzelhandlungen, zu sein beansprucht.“
Die „Dialektik der Aufklärung“ läßt auch den Optimismus der Publizität nicht ungeschoren und so wie die unaufgeklärte Rationalität sich selbst zum Opfer fällt, sich zur halbierten instrumenteilen Vernunft versehrt, gerät auch der Begriff der Öffentlichkeit unter Druck. Der Rhetorik der nur noch scheinhaften Deliberation, die in der durchkalkulierten Welt der technischen S achzwänge ohnehin keine Entscheidungen mehr mög-
lich, sondern nur noch akzeptabel machen soll, weil es angeblich nichts mehr zu entscheiden gebe und alles berechnet werden könne, hat Adorno ja in seiner Kritik am „Jargon der Eigentlichkeit“ die negative Utopie der Authentizität durch Diskursverweigerung entgegengehalten. In der in authentischen Gesellschaft kann es danach keine authentische Repräsentation unversehrter Individualität geben. Der Vorstellung einer Bindung politischer Legitimität an den freien Willen der einzelnen wird eine deutliche Absage erteilt, weil vom Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft nur noch in Form der „Festrede“ gesprochen werden kann, in Wirklichkeit sei diese Idee einer entfalteten Individualität nur noch Schein. Hinter dieser Kritik steht aber eine Bejahung der Legitimationsgrundlagen. Eigentlich müßte es so sein, aber die gesellschaftlichen, ökonomisch fundierten Machtverhältnisse verhindern, daß dieser Anspruch Wirklichkeit werden kann. Der „Mensch“ ist für Adorno „das Wahre“ und damit auch die entscheidende Instanz zur Legitimation/Delegitimation der politischen Verhältnisse, aber der Kapitalismus läßt eine solches Zu-Sich kommen der Individuen nicht zu. So vegetieren sie als „verdammte Anhängsel“ des „Unwahren“. Doch vom „Unwahren“ kann nur reden, wer über einen Begriff des „Wahren“ verfügt. Öffentlichkeit ist hier aber weder Raum noch Subjekt dieser Wahrheit. Statt dessen soll sich die Vernunft im Kunstwerk der Nichtidentität, im Schweigen gegenüber dem haltlosen Gerede der Öffentlichkeitsindustrie artikulieren. Trotzdem erkennt Adorno in dieser Schrumpfform von Öffentlichkeit noch einen Sinn: „Wollte man indessen … den Begriff der öffentlichen Meinung einfach ausstreichen, auf sie ganz verzichten, so fiele damit doch wieder ein Moment weg, das noch in einer antagonistischen Gesellschaft, solange sie nicht zur totalitären übergegangen ist, das Schlimmste verhindern kann.“ Die Instanz von Wahrheit und Moral ist zum kleineren Übel degeneriert.
Dieses beachtliche Maß an Klugheit lassen zeitgenössische Positionen vermissen, in denen der Abstand zum öffentlichen Betrieb als eigentliches Distinktionsmerkmal gilt. Der Abscheu der Schweigenden heftet sich insbesondere an eine vermeintliche doppelte Verzerrung der Öffentlichkeit. So werden zwar immer mehr Informationen zur Verfügung gestellt, aber diese Flut überschwemmt die Einordnungsmöglichkeiten des Publikums. Immer mehr Wissen korrespondiert mit immer weniger Sinn. Darüber hinaus besteht dieser Informationsüberfluß aus Nichtigkeiten trivialer Unterhaltung. Befürchtete Martin Waiser in seiner jüngst anläßlich der Auszeichnung mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels gehaltenen Rede eine Diktatur der allgegenwärtigen „Meinungssoldaten“ des politisch korrekten Neusprech, so drückte sich in dieser Larmoyanz noch die Angst vor einer bestimmten politischen Gleichschaltung der Öffentlichkeit aus. Waiser artikulierte sich innerhalb des klassischen Bezugsrahmens eines auf vernünftigen Diskurs eingestellten Publikums, das er vor bestimmten Manipulationen warnen möchte. Ein solcher Kampf um Öffentlichkeit gehört in diese hinein und versandet doch angesichts einer Verstümmelung der öffentlichen Rede zum banalen Gestammel von Krethi und Plethi über ihre gegenwärtigen Befindlichkeiten, wie Botho Strauss vor Jahren – übrigens in einem für den „Spiegel“ verfaßten Beitrag – feststellte. Die berüchtigte „Talk-Show“ gilt als Symbol dieses Inhalts-, Funktions- und Strukturwandels
von Publizität. Über alles und jeden wird gefaselt, und in der selbstgewählten Distanz zu diesem Unfug entsteht ein neues soziales Distinktionsmittel. Sachverstand und Vernunft verrät jetzt gerade derjenige, der sich dieser Öffentlichkeit entzieht. Das Private erfährt hier eine Aufwertung, die ihre Kraft aus der im Schweigen artikulierten Unterscheidungsfähigkeit des Sinns vom Unsinns bezieht. Das „wahre“ Publikum besteht aus den einzelnen, die nicht zu ihm gehören wollen.
Neben diesem weißen Rauschen der Kommunikation als solcher macht den Medienskeptikern besonders zu schaffen, daß damit innerhalb des politischen Diskurses eine Neuformierung des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit verbunden ist. Die moralische Instanz beschäftigt sich heute vor allem mit dem Privatleben der einzelnen. Die öffentliche Kontrolle der Politik konzentriert sich auf den „human touch“, wobei die individuelle Moral im Mittelpunkt steht.
Die Affäre um Präsident Clinton kann für diesen Zusammenhang als Ausgangspunkt der Beschreibung eines Idealtyps gelten. Stand am Beginn des Wirkens von Sonderanwalt Starr noch der Versuch, politische Korruption zu untersuchen, veränderte sich dieses Ziel langsam zur Charakterüberprüfung Clintons. Die Legitimationsinstanz der amerikanischen Öffentlichkeit wurde dann auch vor allem mit den Details der Lewinsky-Affäre konfrontiert. Nichts schien für die Verbreitung via Internet und Fernsehen so relevant zu sein, wie die intimen Geständnisse. Der Hinweis der Clinton-Gegner, es gehe nicht um Sex, sondern um Straftaten wie Meineid, Verleitung zu Falschaussagen, Behinderung der Justiz usw. klingen hohl, denn diese Vorwürfe hätte man auch klären können, ohne die sexuellen Details dem Publikum gegenüber ausbreiten zu müssen. Sicherlich spielt der politische Machtkampf zwischen Demokraten und Republikanern für die Art und Weise wie Clinton ans Licht gezogen wurde eine gewisse Rolle, entscheidender für die Untersuchungsführung und die Präsentation ihrer Ergebnisse ist aber ein Begriff von Öffentlichkeit, der einerseits das demokratische Pathos der Aufklärung weiter transportiert und andererseits gleichzeitig auf Talk-Show-Niveau abgestiegen ist.
Gegen diese unangenehme Mischung aus moralischem Überlegenheitsdünkel und schmatzender Unterhaltungssucht wäre nun das Schweigen vielleicht gar keine schlechte Strategie, wenn nur nicht die vermeintlichen Opfer solcher Hypokrisie selbst freiwilliger Teil des Spektakels wären. Denn immerhin hat Clinton seinen politischen Siegeszug ins Oval Office als Charakterwahlkampf gegen Bush und Dole begonnen, und die Intimisierung der Politik gehörte dazu. Die vehementen Kritiker des Vorgehens der Republikaner, die ganz in der aufklärerischen Tradition vor einer neuen Inquisition warnten, die Trennung von öffentlichem Amt und privatem Leben betonten und für eine Rückkehr zur Vernunft im politischen Diskurs warben, verteidigten nicht die verfolgte Unschuld gegen Machenschaften und Verschwörung. Denn Sex scheint doch gar nicht der Anlaß zur Empörung zu sein; in den unvermeidlichen Meinungsumfragen schneidet der Präsident nicht nur bei Männern gut ab. Das Publikum bringt also nicht moralische Empörung zum Ausdruck, sondern verfügt offenbar über keine anderen Kategorien als die von Privatheit und Intimität, um politisch räsonnieren zu können. Dazu paßt, daß Clinton sich in diese Thematik fügt und als reuiger Sünder auftritt, Entschuldigungen an
Frau und Tochter öffentlich abgibt und sich privat jede Woche zur Buße mit drei Pfarrern trifft, die die moralische Therapie des Patienten natürlich öffentlich machen. Das gehört zur gewollten Demütigung.
Richard Sennett hat ähnliche in seiner epochalen Studie zum „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität“ vor Jahren untersucht. Er beschreibt die Veränderung der Formen und Inhalte des öffentlichen Diskurses als Verfallsgeschichte: „Heute dominiert die Anschauung, Nähe sei ein moralischer Wert an sich. Es dominiert das Bestreben, die Individualität im Erlebnis menschlicher Wärme und in der Nähe zu anderen zu entfalten. Es dominiert ein Mythos, demzufolge sich sämtliche Mißstände der Gesellschaft auf deren Anonymität, Entfremdung, Kälte zurückführen lassen. Aus diesen drei Momenten erwächst eine Ideologie der Intimität… Diese Ideologie verwandelt alle politischen Kategorien in psychologische. Sie definiert die Menschenfreundlichkeit einer Gesellschaft ohne Götter: Menschliche Wärme ist unser Gott. Aber die Geschichte von Aufstieg und Fall der öffentlichen Kultur stellt diese Menschenfreundlichkeit in Frage“. Traditionelle, kantsche Öffentlichkeit verträgt diese Nähe nicht. Die Vernunft verabschiedet sich aus dem politischen Diskurs und macht Glaubwürdigkeitsdebatten Platz. „Read it on my lips“ gehört zur Standardformel derer, die auf diese Privatisierung des Politischen setzen. Der Leviathan menschelt.
Diese Intimisierung des Publikums steht in einem merkwürdigen Verhältnis zum Auseinanderfallen dieses Publikums. Auch dafür können die Vereinigten Staaten als Beispiel gelten. Die Segmentierung der Gesellschaft führt zu Einhegungen bestimmter Lebens-, insbesondere Wohnbereiche, die sich umzäunen, mit vielfältiger Überwachungstechnologie ausgestattet sind und von privater Polizei (eigentlich ein Widerspruch in sich) kontrolliert werden. Binnengesellschaftlich bilden sich exterritoriale Zonen, dazu gehören auch die staatlich aufgegebenen Slums, die ihre Exklusion nun allerdings mit Technologie und „Polizei“ besonderer Art organisieren. Diese räumliche Auflösung einer einheitlichen Öffentlichkeit korrespondiert mit einer entsprechenden Ideologie der Fragmentierung der Bürgergesellschaft in spezifische, geschlechtliche, ethnische, gesundheitliche usw. Gruppenidentitäten, die sich über Quotierungsstrategien ihren Anteil an den ökonomischen und politischen Ressourcen sichern. Das Publikum gibt es nicht mehr als Selbstbild einer moralischen Kontrollinstanz gegenüber dem Staat.
Räumliche und ideologische Auflösung der Öffentlichkeit werden begleitet von Diskussionen über den Anstieg der Kriminalität und das Einbunkern derjenigen, die außer ihrem Leben noch anderes zu verlieren haben, drückt massive Ängste aus. Verfügten 1970 gerade l % der amerikanischen Haushalte über eine Alarmanlage, so stieg dieser Anteil bis 1998 auf 20 %. Pro Jahr werden inzwischen 80 Milliarden $ für private Wachmannschaften, Sicherheitstechnologien etc. ausgegeben. Das ist eine Verzehnfachung seit 1975. Eine solchermaßen im Hochsicherheitstrakt lebende Bevölkerung kann wohl nur noch schwer einen Begriff von Öffentlichkeit pflegen, der den fremden Anderen in die Deliberation einbezieht. Die Klagen des Kommunitarismus und seine Versuche, eine neue Gemeinschaftlichkeit zu begründen, zielen genau in diese Richtung der Monadisierung. Erfolge bei der Rekonstruktion von Öffentlichkeit sind allerdings nicht zu vermelden. So bleibt es bei der Intimisierung und der Konstruktion von Nähe, die nur in der Einhegung noch sicher erreicht werden kann. Diese Nähe allerdings führt nicht zu neuer Verallgemeinerung einer Gefühlskultur, sondern bleibt konsequent räumlich und ideologisch eingehegt. Das Internet ist ihr Medium. Es ist – auch das zeigen die USA – die Zukunft der Öffentlichkeit, aus deren „chats“ die einzelnen mit Knopfdruck aus- und einsteigen können, ohne die Risiken der Sozialität in Kauf nehmen zu müssen.
Was von der öffentlichen Meinung als Sicherung gegen Totalitarismus und Uniformierung bleiben wird, steht dahin. Vielleicht war Adorno doch noch zu optimistisch, aber was war dann Kant?

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