Editorial
Das Menschenrecht auf Bildung
aus: vorgänge Nr. 163 (Heft 3/2003) – S. 1-3
Chancengleichheit – das war einmal das zentrale bildungspolitische Ziel der deutschen Linken. Auch Kindern aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien sollte endlich der Weg in die oberen Etagen der Gesellschaft geöffnet werden. Verfolgt wurde dieses Projekt vor allem in den reformeuphorischen 1970er Jahren. Klaus von Dohnanyi, damals als Bildungsminister im Kabinett von Willy Brandt für die Bildungsreformen zuständig, resümiert heute ernüchtert: „Was die Chancengleichheit angeht haben wir viel zu wenig erreicht, viel zu wenig. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen: Wir haben drei Jahrzehnte ungenutzt verstreichen lassen.“
Die Zahlen sind tatsächlich ernüchternd: Von 100 Kindern aus der Oberschicht gehen heute 84 aufs Gymnasium und danach 72 zur Universität. Aus den unteren Schichten werden nur ganze 33 auf die höhere Schule geschickt. An eine Universität schaffen es noch acht. Der Soziologe Michael Hartmann veröffentlichte im vergangenen Jahr eine Langzeitstudie über die Berufskarrieren deutscher Eliten (vgl. die Rezension von Regina Vogel in dieser Ausgabe). Sein Fazit: Vier Fünftel der Topmanager, rund sechzig Prozent der hohen Richter und Beamten und gut die Hälfte der bundesdeutschen Professoren stammen aus dem Bürgertum, d.h. den oberen 3,5 Prozent der Gesellschaft. Fast jeder zweite Spitzenmanager entstammt sogar dem Großbürgertum, das nur 0,5 Prozent der Gesamtgesellschaft ausmacht. Dabei sind sich alle Experten einig, dass es nicht das erhöhte Leistungsvermögen dieser Gruppen ist, das sie in die gesellschaftlichen Führungspositionen katapultiert, sondern ihre soziale Herkunft und die damit verbundenen Privilegien.
„Kein Bildungssystem benachteiligt die Benachteiligten und bevorzugt die Bevorzugten so stark wie das deutsche“, schrieb kürzlich der Soziologe Walter Müller. In der Tat leistet sich kein anderes europäisches Land eine so frühe Selektion von Jahrgängen in angehende Professoren und Maurergehilfen wie Deutschland mit seiner beinahe hermetischen Trennung von Gymnasium, Haupt- und Realschule. Institutionen wie die Kinder für immer stigmatisierende Sonderschule sind unseren Nachbarländern ebenfalls weithin unbekannt. Auch überlässt keine andere OECD-Demokratie den Eltern so viel Freiraum bei der vorschulischen Erziehung ihrer Kinder, wie Deutschland dies tut. Kommen die Mädchen und Jungen mit sieben Jahren endlich in die Schule, hat die häusliche Erziehung in Mittelklasse-Familien oft bei den Kindern Fundamente gelegt, die minderprivilegierte Altersgenossen nie wieder einholen können.
Geändert wurde an diesen Ungerechtigkeiten in den vergangenen Jahrzehnten so gut wie nichts. Zudem war das Thema lange von der Agenda verschwunden. Nun kehrt es im Zuge der Gerechtigkeits- und Sozialstaatsdebatte zurück.
Dieses Heft der Vorgänge dokumentiert die Referate des Kongresses Das Recht auf Bildung gilt für alle Menschen, den die Gustav Heinemann-Initiative (GHI), die Humanistische Union (HU) und das Komitee für Grundrechte und Demokratie am 8. und 9. Mai 2003 im Wissenschaftszentrum Berlin veranstaltet haben. Ergänzt wurden sie durch weitere Wortmeldungen zum Thema: Michael Vester zeigt in seinem Grundsatzartikel, wie es um die Bildungschancen und -strategien der verschiedenen gesellschaftlichen Milieus im Deutschland der PISA-Debatten steht. Frank-Olaf Radtke geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie die Qualität der Schule und zugleich der gerechte Zugang zu Bildungsangeboten in Deutschland neu und besser organisiert werden können: In den Schulen vor Ort, also im lokalen Bereich, sollte es eine ständige Überprüfung dieser beiden Ziele geben. Ingo Richter plädiert dafür, die Erwartungen an ein Menschenrecht auf Bildung nicht zu hoch zu schrauben und stattdessen auf den pragmatischeren Weg eines Evaluationsrechts für Bildungsangebote zu setzen.
Dieter Wunder lotet die Chancen aus, welche unserem Bildungssystem durch einen endlich ernst genommenen und selbstbewusst gelebten Föderalismus entstehen würden. Jutta Roitsch fragt sich, warum die Lehrlinge immer noch die Sündenböcke einer falsch konzipierten Bildungspolitik sind. Christoph Butterwegge analysiert den Zusammenhang von Globalisierung und politischer Bildung. Ekaterina Kouli macht konkrete Reformvorschläge für eine Modernisierung der schulischen und beruflichen Bildung. Ulrike Lehmkuhl weist darauf hin, dass die Bildungsreformen schon im Kindergarten beginnen müssen, keinesfalls aber aus diesem eine rein der Leistung verpflichtete Anstalt machen dürfen. Den Stammvater deutscher Bildungsdebatten ruft Teresa Löwe ins Gedächtnis: Sie analysiert, wie Georg Picht in den 1950er Jahren versuchte, Einfluss auf die deutsche Bildungspolitik zu bekommen – was ihm schließlich mit seiner Deutschen Bildungskatastrophe 1964 gelingen sollte. Neben diesen Beiträgen drucken die vorgänge das gemeinsame bildungspolitische Manifest der drei Bürgerrechtsorganisationen Gustav Heinemann-Initiative, Humanistische Union und Komitee für Grundrechte und Demokratie. Aus diesem Dokument geht hervor, was in unserem Land geschehen muss, um unser Bildungssystem gerechter, moderner, flexibler und durchlässiger zu machen. Ein aktueller Literaturbericht beschließt den Thementeil dieses Heftes. Barbara Hahn beschreibt im Essay anhand zweier Fallbeispiele die Wiederbegegnung von Menschen nach der Epochenscheide 1945: Im Deutschland der 1930er Jahre zuvor einander nahe gewesen, mussten die einen emigrieren, während die anderen blieben. War nun, nach Holocaust und Kriegsende, ein Neuanfang möglich?
In den Kommentaren und Kolumnen analysiert Olaf Asbach den aktuellen Zustand des Völkerrechts. Henri Band geht der überraschenden Wiedergeburt der Ostprodukte nach, während Celalettin Kartal nach der möglichen Verbindung von Islam und Menschenrechten fragt. Joachim Perels erinnert an den katholischen Publizisten Eugen Kogon, während Klaus Waterstradt über ein Thema schreibt, das ihn bereits seit 25 Jahren beschäftigt: die Zuzahlung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Buchrezensionen runden das Heft ab.
Allumfassend bildende Lektüre wünschen
Thymian Bussemer und Alexander Cammann