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Die insti­tu­ti­o­nelle Refor­m­un­fä­hig­keit

vorgängevorgänge 16309/2003Seite 35-39

Deutschlands Schulwesen braucht einen ernst zu nehmenden Föderalismus

aus: vorgänge Nr. 163 (Heft 3/2003) , S. 35-39

Ungeduldige Zeitgenossen verzweifeln regelmäßig, weil die Bildungsreformen nicht vorankommen. Bildungsreformen stehen zum Zeitgefühl von Medienmenschen offensichtlich in einem Spannungsverhältnis. Für sie braucht man den langen Atem, der zum Beispiel jenem Journalisten fehlte, der im Januar 2002 nach dem PISA-Schock vom 4. Dezember 2001 klagte, die Kultusminister hätten noch keine Ergebnisse vorzuweisen. Neue Regeln für den Straßenverkehr kann und muss man von einem auf den anderen Tag in Kraft setzen; Bildungsreformen verlangen Änderungen bei Menschen, und diese lassen sich nicht einfach herumkommandieren (der Soldat, der Lehrer wurde, gehört ins 18. Jahrhundert – und selbst damals kam man mit Kommandieren nicht viel weiter); sie haben ihren eigenen Kopf, ungewollte Wirkungen und unerwartete Widerstände gibt es zuhauf.

Trotzdem kann man mit gutem Recht nach dem Stand der Bildungsreform und ihren Hindernissen fragen. PISA hat gezeigt, dass die Benachteiligten der deutschen Gesellschaft – vor allem Kinder von Arbeitern und Migranten – in Deutschland besonders schlecht gefördert werden. Dies ist ein Skandal. Dennoch steht dieses Problem nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion; der deutschen Gesellschaft fehlt bisher die Einsicht, dass die Ungleichheit der Lebenschancen nicht nur die Betroffenen, sondern die gesamte Gesellschaft gefährdet. Solidarität als gesellschaftlicher Grundwert gilt als Wert der Vergangenheit. Dieses Klima ist nicht dazu angetan, die Minderheit der „Kellerkinder“ (Klaus Klemm) prioritär zu fördern; Politikern fehlt daher der Mut, eine entsprechende Politik zu wagen.

Sucht man nach Hemmnissen, die Bildungsreformen hier zu Lande erschweren oder unmöglich machen, so stößt man auf die spezifisch deutsche Gestalt des Föderalismus. Dieser ist für das reformfeindliche Klima in Deutschland maßgeblich mitverantwortlich. Wenn sich sechzehn Landesminister ständig auf einen Minimalkonsens einigen müssen, werden Eigenwilligkeit und Besonderheiten fast unmöglich gemacht. Schon die Ahnung, wie andere Bundesländer auf ungewöhnliche Vorschläge und Problemlösungen reagieren könnten, lässt viele Fachleute eines Landes resignieren, bevor sie überhaupt ihre Phantasie spielen lassen. Sicherlich hat dieser auf dem. Verhandlungswege hergestellte Zentralismus Deutschland in der Vergangenheit manchen Irrweg erspart, aber mindestens ebenso viele gute Möglichkeiten versperrt. Man male sich nur einmal aus, die neuen Bundesländer hätten nach 1990 in der Bildungspolitik eigene Wege beschreiten dürfen und wären nicht gezwungen gewesen, das DDR-System pauschal aufzugeben. Sie wären in der Lage gewesen, aus eigenen Erfahrungen zu lernen und entsprechende Reformen ihres Systems vorzunehmen. Wir hätten in den neuen Ländern vermutlich eine andere Schulstruktur (z. B. eine reformierte Polytechnische Oberschule), eine andere Lehrerbildung (stärker praxisbezogen und ohne Trennung von erster und zweiter Phase), eine auch offiziell sehr leistungsbezogene Lernkultur, die überall in zwölf Jahren zum Abitur führt, und eine andere Gewichtung von Fächern, vor allem mehr Naturwissenschaften: Mancher Westdeutsche wäre darüber nicht begeistert, aber die Mehrheit der Menschen in den neuen Ländern würde sich vielleicht mit diesen Traditionen wohler fühlen als mit westdeutschen Importlösungen.

Nicht der Födera­lismus ist das Problem, sondern seine deutsche Gestalt

Wenn der Föderalismus ein Hindernis für Reformen ist, dann liegt dies allerdings nicht am System als solchem, sondern an der Ausprägung, die wir in Deutschland entwickelt haben. Die Beseitigung des Föderalismus wäre schädlich. Deutschland ist geschichtlich gesehen immer ein föderalistischer Staat gewesen, denn es gab – mit Ausnahme des NS-Regimes – Deutschland nie in anderer Form. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich aufgrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur aus guten Gründen für die Aufrechterhaltung der nach Kriegsende wiederbegründeten Länder entschieden. Ihre Argumente gelten auch heute noch, gerade angesichts der sich herausbildenden Europäischen Union.

Zentralistische Staaten ersticken jede Partizipation. Ein zentralistisches Land von achtzig Millionen Menschen kann unmöglich ein fruchtbares Bildungsklima schaffen; die übermächtige Zentralgewalt behindert Initiativen von unten, ist schwerfällig-bürokratisch und letztlich antidemokratisch. Wir kennen in Deutschland den bildungspolitischen Zentralismus – in den einzelnen Ländern. Welche Erfolge wir damit haben, hat PISA gezeigt. Dieser Zentralismus ist selbst ein Reformhindernis: immer wieder konnten Maßnahmen einer Landesregierung mit dem angeblichen Zwang gerechtfertigt werden, sich an andere Länder anpassen zu müssen. Solches selbstherrliche Denken ist bequemer als der Ausbau von Mitsprachemöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger oder auch nur der Landtagsabgeordneten. Zentralistische Tendenzen zeigten sich übrigens auch im schulpolitischen Kampf der A- und B-Länder miteinander. Letztlich wollte jede Seite ihre Wahrheit auch in den anderen Ländern durchsetzen; man versuchte etwa über Anerkennungsregelungen die eigenen Vorstellungen von Schulstruktur zur Geltung zu bringen – Zentralismus unter der Decke des Föderalismus.

Dieser Konsens- und Scheinföderalismus hat in der Schulpolitik Nachteile beim Zusammenwirken der Parteien gefördert. Parteien müssen sich gegeneinander profilieren. Da die Form des KMK-Föderalismus (in dem die Kultusministerkonferenz der zentrale Aushandlungsort für alle bildungspolitischen Entscheidungen ist) jeder Partei die Möglichkeit gibt, ihre Vorstellungen zumindest zu Teilen auch in Ländern durchzusetzen, die sie nicht regiert, entsteht ein negativ geprägter Konsens: nicht die Suche nach der besten gemeinsamen Lösung beherrscht Denken und Politik, sondern die Durchsetzung der eigenen Linie. Die derart ausgebildete KMK-Politik beruht auf der Abgleichung der spezifischen landespolitischen Ziele: das Gemeinsame ist zum einen das Minimum, zum andern das für jede Regierung gerade noch Akzeptable. Insofern können KMKBeschlüsse nie Begeisterung auslösen, sie sind immer nur Erlösung von Streit, nicht ein politisches Konzept, das nach vorn weist. In zentralistischen Staaten wird dagegen entweder eine Mehrheitskonzeption gegen die Opposition durchgesetzt, hat also eine Regierung die Möglichkeit, ihre Vorstellungen mehr oder weniger deutlich zur Geltung zu bringen, oder Regierung und Opposition einigen sich auf ein gemeinsames Vorgehen. In jedem Fall gibt es ein positives Konzept, sei es auf schmaler, sei es auf breiter Grundlage – anders im deutschen KMK-System: hier kann es immer nur zu einem negativen Konsens kommen.

Nun gibt es allerdings scheinbar einleuchtende Argumente für den Zwang zum Konsens: das Zeugnis eines Landes muss deutschlandweit gültig sein – dies gilt für Schülerinnen und Schüler ebenso wie für Lehrpersonen. Die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse innerhalb eines Staates ist lebensnotwendig, Freizügigkeit im Arbeitsleben muss tatsächlich gegeben sein und darf nicht durch bürokratische Verfahren (zum Beispiel das Nachprüfen von Zeugnissen) behindert werden. Art. 12 GG (Freiheit der Berufswahl) in Verbindung mit Art. 72 Abs. 2 (Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse) garantieren dies.

Die bisherige Antwort auf diese Aufgabe heißt: Angleichung der jeweiligen Bedingungen, zum Beispiel der Schulfächer, der Stundenzahlen, der Prüfungen, der Lehrerausbildung. Genau hier liegt aber ein Fehlschluss vor. Welcher Wert liegt in der Einheitlichkeit? Einheitlichkeit ist ein ästhetischer Wert – zwar überholt, aber tief im deutschen Gemüt verankert, wie der Blick auf die Grabsteine vieler Dorffriedhöfe zeigt; Unterschiedlichkeit wird als beunruhigend empfunden. Einheitlichkeit schafft zudem Sicherheit – man kennt sich aus: Schnitzel im Urlaub, ob in Berchtesgaden, Tokio, Lima oder Kapstadt. Dagegen ist eine andere Sicht zu setzen. Freizügigkeit ist ein unabdingbares Ziel, in Art. 11 GG auch abgesichert, aber Einheitlichkeit sollte nur dann ein Mittel zu diesem Ziel sein, wenn es gar nicht anders geht. Vielfalt in den Lebensverhältnissen ist vorzuziehen. Der Euro erleichtert manches in der EU, aber er muss doch nicht zu einheitlichen Essgewohnheiten von Sevilla bis Helsinki führen. Nicht Einheitlichkeit ist wünschenswert, sondern Vielfalt.

Vielfalt hat Grenzen, wenn sie das Leben in Deutschland tatsächlich erschwert. Wollen Eltern von Niedersachsen nach Berlin umziehen, so müssen sie die Sicherheit haben, dass ihre Kinder dieselbe Klassenstufe wie bisher besuchen, dass sie die beabsichtigten Abschlüsse erreichen können und nicht gezwungen sind, einen Berliner Lehrplan nachzuholen. Dieses unabdingbare Ziel kann durch zwei Vorkehrungen gewährleistet werden. Zeugnisse müssen bedingungslos als gleichwertig anerkannt werden und für die Behebung von Defiziten sind nicht die Schüler, sondern die aufnehmenden Schulen zuständig. Die EU macht uns dies vor: Europaweit müssen Zeugnisse und Abschlüsse gegenseitig anerkannt werden, ohne dass die Bildungssysteme angeglichen wurden.

Chancen und Perspek­tiven eines Neubeginns

Ein erneuerter, wirklicher Bildungsföderalismus wäre auf jeden Fall auch grundgesetzkonform. Rechtlich hat schon heute jedes Land die Möglichkeit, sein Schulsystem nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Nähme man dieses Recht endlich ernst, so könnte der schulpolitische Föderalismus Grundprinzip in Deutschland werden. Denn nirgendwo – weder im Grundgesetz noch in den Länderverfassungen – ist die Wirklichkeit des Konsensföderalismus festgeschrieben. Es bedarf allein zur politischen Sicherung des neuen Föderalismus des Übereinkommens aller Länder, in Zukunft Einzelheiten des Schulwesens regelnde Staatsverträge und Vereinbarungen durch ein Abkommen zu ersetzen, das die bundesweite Anerkennung aller Zeugnisse und Abschlüsse ohne Nachprüfung gewährleistet und das von allen Länderparlamenten zu beschließen wäre. Das Hamburger Abkommen von 1964, welches die Schulformen festlegt, wäre beispielsweise aufzuheben. Im neuen Abkommen müsste gerichtsfest verankert werden, dass jede Benachteiligung wegen der Herkunft aus einem anderen Land nicht nur verboten ist, sondern im Verletzungsfall auch finanziell bestraft wird.

Dieser neue Bildungsföderalismus braucht nur wenige Regeln, die für das Schulsystem aller Länder vereinbart werden. Was ist wirklich notwendig? Ein Minimum an Schulpflicht (neun Jahre), an Qualität der Lehrerausbildung (Universitätsstudium) – aber keine Vorschriften über die Zahl der Schuljahre bis zum Abitur, keine Regeln über Schulfächer, keine Übereinkunft über Lehrämter und Studienanforderungen? Oder soll man auf Aufnahmeprüfungen der jeweils anschließenden Einrichtungen setzen? Über die unerlässlichen gemeinsamen Regeln müsste man schon deswegen genauer nachdenken, weil unsere Denkgewohnheiten dem vorgeschlagenen Föderalismus widersprechen.

Neuerdings gibt es ein Argument, das gegen den Föderalismus zu sprechen scheint. Jürgen Kluge, Deutschland-Chef der Unternehmensberatung McKinsey, fordert zwar mehr Bildungsföderalismus, gleichzeitig aber bundeseinheitliche Bildungsstandards. Er kombiniert also Zentralismus mit Dezentralisierung – letztere ist allerdings in Kluges Konzeption zahnlos, weil die zentral festgelegten Standards verpflichtend für alle sind. Ich sehe darin die Aushöhlung jedes wirklichen Föderalismus. Standards scheinen der einfachste Ausweg aus der PISA-Misere zu sein, daher jubelt jeder ihnen zu. Schon wieder geht es um Einheitlichkeit, mit dem Argument, unsere Kinder müssten doch wohl dasselbe lernen, die Zeugnisse dasselbe bedeuten. Wieder ist Einheitlichkeit ein Wert an sich.

Wer unerträgliche Unterschiede zwischen den Ländern befürchtet, sollte sich die Potenziale des neuen Föderalismus klarmachen. Jedes Land könnte im Bildungssystem seine eigenen Wege gehen. Die einen könnten ihr System auf Ganztagsschulen umstellen, die andern verblieben bei Vormittagsschulen. Die einen könnten neue Schulstrukturen – etwa die Gesamtschule für alle – ausprobieren, die anderen das gegliederte System pflegen. Bayern mag Latein hochhalten, das Saarland Französisch. Hamburg könnte sein Schulsystem zentralistisch aufbauen, Rheinland-Pfalz dezentral. Es käme ein Wettbewerb der Länder zustande, der neue und unkonventionelle Lösungen ermöglicht. Die Unterschiede würden Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Eltern und Lehrpersonen erhielten Gestaltungsmöglichkeiten. Der Wettbewerb würde konstruktives Denken entfesseln. Ängstlichen Gemütern wäre zu sagen, dass die soziale Wirklichkeit radikalen Lösungen abgeneigt ist, daher der Wettbewerb nur enge Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen würde. Aber der bislang praktizierte und allzu bequeme Ausweg, mit Hinweis auf die rechtlichen Grenzen dem kreativen Denken Einhalt zu gebieten, wäre endlich am Ende. Auch den beliebten Beschimpfungen der Kultusministerkonferenz wäre der Boden entzogen. Zwar waren diese immer unberechtigt, denn die Kultusminister taten nichts anderes, als den Erwartungen von Öffentlichkeit und Politik zu entsprechen. Das Verhandlungssystem der Kultusminister in der uns bekannten Form wäre allerdings überflüssig. Bisher war es ein Veto-Gremium: was man durch die KMK nicht durchbekam, hatte keine Chancen – oder nur dann, wenn ein Land mit vielen phantasiereichen Verrenkungen seiner Ministerialen einen ‚Dennoch-Weg‘ fand, den niemand beanstanden konnte. Die KMK war und ist aber auch ein undemokratisches Gremium. Ihre „Beschlüsse“ sind rechtlich gesehen Empfehlungen, deren Einhaltung allerdings gemeinsamer politischer Wille aller Kultusminister ist. Kein Landtag diskutiert über die Entscheidungen vorher, noch werden sie nachträglich beschlossen; denn ein solches Verfahren würde eine Einigung fast unmöglich machen. Die Landtage sind somit von vielen wesentlichen Entscheidungen der Schulpolitik ausgeschlossen und damit sind es auch die Wählerinnen und Wähler. Der neue Föderalismus würde den Ländern wieder einen politischen Sinn geben. Die Landtage könnten über alle wichtigen Fragen der Bildungspolitik frei diskutieren und entscheiden. Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Wählerinnen und Wählern zöge in die Amtsstuben ein; jede Landesregierung müsste für den Zustand ihrer Schulen und die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler einstehen.

Die neue KMK wäre dann nur noch ein Gremium, in dem man sich von Zeit zu Zeit trifft, um sich über neue Entwicklungen in den Ländern informieren zu lassen. Bildungswissenschaftler würden Forschungsergebnisse vorstellen. Das Gremium könnte die Länder wie bisher an nationalen oder internationalen Vergleichsstudien beteiligen. Die öffentliche Diskussion würde zu bildungspolitischen Innovationen in den Ländern führen, in Verantwortung der jeweiligen Landesregierung, aber ohne KMK-Beschlüsse. Demokratie muss auch heißen, den Politikern und Wählern in jedem Bundesland zu vertrauen – mehr Fehler als in der Vergangenheit können dabei kaum gemacht werden. Aber bessere Lösungen als jene, die wir heute haben, könnten schnell ansteckend wirken.

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