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Lehrlinge - die (noch immer) vergessene Majorität?

vorgängevorgänge 16309/2003Seite 40-48

Freie Berufswahl und Chancengleichheit: Seit dreißig

Jahren eine uneingelöste Herausforderung

aus: vorgänge Nr. 163 (Heft 3/2003) , S. 40-48

Vom gesellschaftspolitischen Standpunkt aus wirken [… ] die meisten Reformen der vergangenen Jahre fatal: zwar ist begonnen worden, das Bildungswesen in seiner Spitze zu verbessern und auszubauen, an der breiten Basis der Berufsausbildung ist jedoch kaum etwas geschehen. Es besteht somit ein Widerspruch zwischen dem grundgesetzlichen Gleichheitsgebot und der sozialen Realität, in der die Ungleichheit in der Qualität und der finanziellen Förderung der beruflichen Bildung der Bevölkerung noch erheblich verstärkt wird.

Wolfgang Dietrich Winterhager, Lehrlinge – die vergessene Majorität, Weinheim 1970

Unternehmer und Unternehmen tragen auch gesellschaftliche Verantwortung. Diese Verantwortung zeigt sich zunächst und vor allem im Engagement für diejenigen, die am Anfang des Berufslebens stehen. Das ist ein zentrales Gebot der Wirtschaftsethik, aber auch der blanken Nützlichkeit für unsere Gesellschaft. Der Wirtschaft kann nicht erlaubt werden, sich zurückzuziehen, sondern sie muss zu der getroffenen Verabredung zurückkehren. Diese lautet: Jeder, der einen Ausbildungsplatz sucht und ausbildungsfähig ist, muss einen Ausbildungsplatz bekommen. Davon können wir nicht abweichen. [… ] Wenn nicht, werden wir auch in diesem Bereich zu einer gesetzlichen Regelung kommen müssen. [… ] Junge Menschen haben ein Recht auf neue Chancen, auf Ausbildung und dieses Recht muss ihnen die Gesellschaft gewähren. Diesem Recht – das muss genauso klar festgestellt werden – entspricht allerdings die Pflicht, zumutbare Angebote auch an-zunehmen. Geschieht dies nicht, wird dies zu Sanktionen führen müssen. Wir werden dafür sorgen, dass das funktioniert.

Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 vor dem Deutschen Bundestag

Wie kann das sein? 1970 und 2003 wird das „Recht auf Ausbildung“ für die Mehrheit der Jugendlichen beschworen, die nicht studieren, und gleichzeitig seine Verletzung im praktischen Alltag dieser Republik beklagt. Dreiunddreißig Jahre und kein Fortschritt? Ist diese Gesellschaft immer nur auf dem Königsweg der Bildung marschiert, der mit Abitur und Studium gepflastert ist? Sind über drei Jahrzehnte lang die Rechte der Jungen und Mädchen, die mit einer Lehre ihren Start in den Beruf beginnen wollen, sträflich missachtet worden? Fehlte den Jugendlichen eine stimmmächtige Lobby, obwohl sie zur Mehrheit in dieser Bevölkerung gehören, sind sie doch die Kinder der ungelernten Arbeiter, der Facharbeiter, der Angestellten in Wirtschaft, Handel und Handwerk, der Eltern mit kleinen Betrieben in Handwerk, Handel und Landwirtschaft? Haben sich Politik, Medien, Gewerkschaften, die Öffentlichkeit insgesamt, einlullen lassen von den Versprechungen der Wirtschaft, von Jahr zu Jahr für ausreichend Ausbildungsplätze zu sorgen? Oder interessiert sich niemand ernsthaft für jene Jugendlichen, die in der allseits beschworenen Wissensgesellschaft mit Informationstechnik und globaler Vernetzung nicht viel im Sinn haben, sondern bodenständig und ortsgebunden Maurer, Gärtnerin, Elektriker, Bürokauffrau, Koch oder Friseurin werden möchten? Und schließlich: Wieso kreisen dreißig Jahre lang die Fragen noch immer nahezu ausschließlich um Zahlen – um die Zahl der Ausbildungsplätze und um ihre Finanzierung?

I.

Es lohnt sich ein Rückblick auf die erste Phase der Berufsbildungsdebatte, als Ende der 1960er Jahre zum ersten Mal Bildungsforscher wie Friedrich Edding und Wolfgang D. Winterhager im Deutschen Bildungsrat auf die Misere der bundesrepublikanischen Lehrlingsausbildung aufmerksam machten. Sie durchleuchteten im Auftrag des Bundes-tags Kosten und Finanzierung der beruflichen Bildung und erstellten für den Bildungsrat Gutachten zu einer grundlegenden Reform. Für sie gehörten die Lehrlinge zu der „vergessenen Majorität“. In dem schmalen Büchlein, das 1970 als Band 12 der Beltz Bibliothek erschien, deckte Winterhager schonungslos auf, was die Deutschen mit ihrem gängigen Spruch „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ nicht wahrhaben wollten: die damals 1,5 Millionen Lehrlinge waren billige Arbeitskräfte zum Bierholen, Putzen, Fegen, Feilen. Lehrzeit als Leerzeit, nicht als Lernzeit. Ältere Lehrlinge zeigten den jüngeren, was zu tun sei, dann und wann gesellten sich Gesellen zu den Jugendlichen, die gerade erst die Kindheit hinter sich gelassen hatten. Der Meister, der eigentlich als einziger über die Berechtigung zur Ausbildung verfügte, ließ sich in der Ausbildung nicht blicken.

Arbeits- und Schutzgesetze galten für die meist 14- bis 16 jährigen nicht. Pädagogik in der Berufsausbildung blieb ein Fremdwort. Niemand unterband es, wenn namhafte Hotels ihren Küchenbetrieb von einem Koch und zehn Lehrlingen „schmeißen“ ließen oder Lokalzeitungen neunzehn Volontäre “ ausbildeten“, die ohne jegliche journalistische Grundbildung täglich eine Regionalseite zu verantworten hatten. Das Handwerk bildete weit über den eigenen Bedarf hinaus für die Industrie und den Öffentlichen Dienst aus. „Wer ist die größte Bäckerei in Hessen?“, lautete in den frühen 1970er Jahren eine Rätselfrage. Antwort: Opel in Rüsselsheim. Nur in den Großunternehmen ging es schon damals mit Lehrwerkstatt, pädagogischer Betreuung durch Ausbildungsmeister und Einhaltung des Jugendarbeitsschutzgesetzes geordneter zu. Doch die Zahl der jährlich angebotenen Plätze blieb klein – im Vergleich zum Handwerk.

Aber woher kam der plötzliche Anstoß von Wissenschaftlern, sich um die vergesse-ne Majorität zu kümmern und Reformen einzuklagen? Friedrich Edding, der damals einzige deutsche Wissenschaftler mit einem Lehrstuhl (in Berlin) für Bildungsökonomie, setzte auf seine Art einen ersten Schlusspunkt unter die Debatte, die Georg Picht 1964 mit der „deutschen Bildungskatastrophe“ begonnen und Ralf Dahrendorf ein Jahr später mit dem „Recht auf Bildung“ fortgesetzt hatte: Alle drei Professoren drangen auf eine Modernisierung des gesamten Bildungs- und Ausbildungssystems. Mehr Lehrer, Mobilisierung der Begabungsreserven, mehr Mädchen mit Abitur, mehr Studenten, mehr Qualität in der Berufsausbildung, eine gesicherte, von Konjunktur und einzelbetrieblichen Interessen unabhängige Finanzierung. Ihre Appelle richteten sich an Wirtschaft und Politik, den Anschluss an die technische Entwicklung, die zunehmende internationale Wirtschaftsverflechtung und die veränderten Anforderungen einer neu entstandenen Dienstleistungsgesellschaft nicht zu verpassen. Nicht die uneingelöste Chancengleichheit von Mädchen und Jungen, Katholiken und Protestanten, Landkindern und Städtern stand im Vordergrund, sondern die Nutzung von Begabungsreserven und die Verbesserung der eigenen Chancen im weltweiten Konkurrenzkampf. Bei Georg Picht taucht das Recht auf Bildung oder die Chancengleichheit nach dem Grundgesetz nicht auf. Auch Winterhager argumentierte in seiner Streitschrift für eine verbesserte Berufsausbildung vor allem mit der drohenden Qualifikationslücke und einem „Altersproletariat“ im Jahr 2000. Immerhin waren die Lehrlinge und ihre Vernachlässigung für ihn auch ein demokratisches Problem: „Die heutigen Lehrlinge, das heißt mehr als die Hälfte der Jugendlichen, bleiben […] bei allen Bemühungen mündige Staatsbürger zu erziehen und ein, Bürgerrecht auf Bildung‘ zu verwirklichen, für einen entscheidenden Abschnitt ihres Lebens außer acht.“ Als der Bildungsforscher dies schrieb, gab es rund 1,5 Millionen Lehrlinge und 300.000 Studenten.

Blieb die massive Einmischung der Wissenschaftler, als deren Nachhall die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats im Februar 1970 mit dem immer noch wegweisenden Strukturplan für das Bildungswesen ein schlüssiges Konzept vorlegte, folgenlos? So folgenlos, wie es die „Agenda“-Rede des Bundeskanzlers im März des Jahres 2003 nahe legt? Mitnichten.

Zehn Jahre lang stand die Reform der Lehrlingsausbildung auf der Tagesordnung von vier Bundesbildungsministern, die alle der Sozialdemokratischen Partei angehörten (Klaus von Dohnanyi, Helmut Rohde, Jürgen Schmude, Björn Engholm), und zwei Bundeskanzlern (Willy Brandt und Helmut Schmidt). Im Berufsbildungsgesetz und im Ausbildungsplatzförderungsgesetz, das 1976 nach erheblichen Auseinandersetzungen mit dem wirtschaftsliberalen Koalitionspartner FDP verabschiedet wurde (mit Mehrheit im Bundestag, gegen die Mehrheit im Bundesrat), ging es im Kern um zwei Fragen. Erstens: Ist die Berufsausbildung ein Teil des Bildungssystems, das in der Verantwortung des Staates liegt, oder ist sie Teil des Arbeitsmarktes und wird nach „dem Recht der Wirtschaft“ (Artikel 74 Grundgesetz) allein von den Interessenvertretungen der Wirtschaft (Industrie, Handel und Handwerk) über ihre Kammern gesteuert? Und zweitens: Wenn es ein Recht auf Ausbildung gibt, muss es nach Artikel 12 des Grundgesetzes auch eine Freiheit der Berufswahl geben. Logisch leitet sich daraus ab, dass nicht nur das Angebot an Lehrstellen, welches der einzelne Betrieb für sich von Jahr zu Jahr neu festlegt, Ausschlag gebend sein kann, sondern auch die Nachfrage. Damit war seit den 1970er Jahren die Frage nach der Finanzierung der Berufsausbildung auf dem Tisch.

Beide Kernfragen wurden in den harten Auseinandersetzungen der siebziger Jahre nur halbherzig beantwortet. Die Berufsbildungsplanung und -forschung sowie der jährliche Berufsbildungsbericht lagen in der Verantwortung des Bundesbildungsministeriums, die Federführung für die Ausbildungsordnungen, in denen mit Gesetzeskraft über die nationalen Standards in der Ausbildung entschieden wurde und immer noch wird, blieben beim Wirtschaftsminister. Strittige Fragen wie die Qualifizierung der Ausbilder gingen jahrelang zwischen den Ressorts hin und her, die Lösungen zum Beispiel in der Ausbildungseigner-Verordnung bewegten sich stets am untersten Rand eines Kompromisses. Die Idee, die gesamte Durchführung der Lehrlingsausbildung in einem Bundesamt für Berufsbildung zu bündeln und der Bundesanstalt für Arbeit einen Teil der Zuständigkeiten zu nehmen, scheiterte nicht zuletzt an den Gewerkschaften, die die Nürnberger Selbstverwaltung, in der sie mit Sitz und Stimme beteiligt waren, zäh verteidigten.

Die zweite Frage entschied das Kabinett von Helmut Schmidt politisch: Eine Ausbildungs-Umlage sollte erhoben werden, wenn sich jeweils im Frühjahr abzeichnen sollte, dass das Angebot an Lehrstellen zu Beginn des Ausbildungsjahres im September bundesweit nicht 12,5 Prozent über der Nachfrage läge. Die Zahl 12,5 war gewürfelt: Berufsbildungsforscher waren von einem Angebotsüberhang von 20 Prozent ausgegangen, die Bildungspolitiker ließen sich auf 15 herunter handeln. Doch in der sozialliberalen Koalition setzte die FDP ihren Widerstand gegen jede Form der Umlage fort, bis der Bundeskanzler entschied. Die Formel freilich blieb eine politische Drohgebärde: Welche Regierung beschließt schon im April, dass das Angebot an Lehrstellen im September nicht reicht und bittet für den folgenden Winter zur Kasse, um dann Ausbildungsplätze zu bezahlen? Dennoch landete das Gesetz beim Bundesverfassungsgericht. Die bayerische Staatsregierung beharrte in einem Normenkontrollverfahren darauf, dass die „Sonderabgabe“ eine Steuer und daher in der Länderkammer zustimmungspflichtig gewesen sei.

Am 10. Dezember 1980 entschied der zweite Senat des Gerichts (2BvF 3/77) und erklärte die Sonderabgabe für verfassungsgemäß. Das Gesetz kippte der Senat dennoch, weil Umsetzung und Durchführung, also das Verwaltungsverfahren, der Zustimmung des Bundesrates bedurft hätten. Zur Ausbildungs-Abgabe formulierten die Richter einen weitreichenden Satz: „Die Aufgabe, die mit Hilfe des Abgabeaufkommens erfüllt werden soll, muss […] ganz überwiegend in die Sachverantwortung der belasteten Gruppe, nicht in die der staatlichen Gesamtverantwortung fallen. Andernfalls würde es sich bei der Verfolgung des Zwecks um eine öffentliche Angelegenheit handeln, deren Lasten nur die Allgemeinheit treffen dürfen und die deshalb nur mit von der Allgemeinheit zu erbringenden Mitteln, das heißt im wesentlichen mit Steuermitteln finanziert werden darf.” Vor über zwanzig Jahren entschieden die Richter, dass die Lehrlinge und der „Fragenkreis der praktischen beruflichen Ausbildung“ traditionell und strukturell “ von den in der Wirtschaft tätigen Arbeitgebern wahrzunehmen ist.“ Bei ihnen sahen sie die „Sachverantwortung“. Die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt strich nach dem Urteil die Berufsausbildungsabgabe aus dem Gesetz.

II.

„Wer nicht ausbildet, wird umgelegt“. Mit diesem grobschlächtigen Slogan begannen die Jungsozialisten in der SPD und die Gewerkschaftsjugend Ende der 1990er Jahre eine erneute Debatte über die Abgabe. Sie zogen im Vorwahlkampf 1998 den damaligen Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine und in der SPD-Bundestagsfraktion die bildungspolitische Sprecherin Edelgard Bulmahn auf ihre Seite, schließlich drehte sich seit Jahren die gesamte Berufsbildungsdiskussion um nichts anderes als um Zahlen. Wieder und wieder handelten Bundeskanzler Helmut Kohl und seine häufig wechselnden Bildungsminister der Wirtschaft Versprechen ab, die weder im Westen noch im Osten Deutschlands je eingelöst wurden. Der Versuch, nach dem Fall der Mauer in den neuen Bundesländern die traditionelle Lehrlingsausbildung mit Betrieb und Berufsschule zu verankern, scheiterte. Ohne Ersatz wurden die volkseigenen Betriebe, die in der DDR die Berufsausbildung in Theorie und Praxis organisiert hatten, abgewickelt. Für die Übernahme der Berufsschulen fehlte den Kommunen nahezu alles: Lehrer, Managementkenntnisse, Geld, kleine und mittlere Unternehmen zur praktischen Ausbildung. Den (wenigen) neuen Betrieben standen schließlich genügend gut ausgebildete Männer und Frauen zwischen dreißig und vierzig zur Verfügung. Warum also noch ausbilden und sich den Wust an Vorschriften zumuten?

Doch auch im Westen schlug der dramatische Stellenabbau in der gewerblichen Industrie und im Handwerk auf das Angebot an Ausbildungsplätzen durch. Wie in kaum einem Jahrzehnt zuvor mussten die Jugendlichen in Ost und West, in den Großstädten und auf dem Land die Ausbildungsplätze annehmen, die ihnen geboten wurden: in der Gastronomie in Bayern, in den Bau- und Baunebenberufen in den neuen Bundesländern. Dass die Freiheit der Berufswahl auch Jungen und Mädchen mit Haupt- oder Realschulabschluss zusteht, war in den 1990er Jahren kein Thema, das Partei- oder Gewerkschaftstage bewegte. Auch bei der Wiederbelebung der Debatte über die Abgabe ging es um den symbolischen Akt, sich von den gut verdienenden Unternehmen und den globalen Spielern, für die gesellschaftliche Verantwortung ein Fremdwort ist, Geld zu holen: „Von oben“ umzuverteilen statt von unten. Wofür das Geld eingesetzt werden soll, wenn es denn in einem Fonds läge, ist bis heute unklar: Bekommen die Unternehmer Geld, wenn sie zusätzlich ausbilden, oder erhalten die Jugendlichen ihr Lehrgeld aus dem Fonds und suchen sich selbst einen Ausbildungsplatz? Oder werden mit dem Geld Ausbildungszentren gebaut und unterhalten? Und wenn ja: in welchen Branchen?

Diese Fragen waren bald ohnehin obsolet: In der ersten rot-grünen Regierungsperiode verschwand die Forderung nach der Umlage in der tiefsten Schublade der inzwischen zur Bundesbildungsministerin aufgestiegenen Edelgard Bulmahn. Stattdessen begann eine üppige staatliche Finanzierung über das Programm „Jugend mit Perspektive“ (Jump-Programm), über direkte und indirekte Prämien an Ausbildungsbetriebe (vor allem im Osten), über die Errichtung und den Ausbau von außerbetrieblichen Zentren, die eine vollständige Ausbildung anboten. Im Westen schlossen große Unternehmen ihre Lehrwerkstätten und übertrugen die Aufgaben Ausbildungsverbünden, Kompetenzzentren oder Ausbildungs-Serviceagenturen (zum Beispiel ABB). Das Volkswagenwerk gliederte Aus- und Weiterbildung in ein eigenständiges Unternehmen aus. Den Nachwuchs im Handwerk förderte das Bundesministerium mit einer Ausweitung der staatlichen Ausbildungsförderung auf die Gesellen. Nach großen Anlaufschwierigkeiten etablierte sich in den letzten Jahren das so genannte Meister-Bafög als eine staatlich geförderte Aufstiegsmöglichkeit im Handwerk. Eine grundlegende Neuordnung und damit verbunden auch eine Aufwertung der Handwerksberufe nach Branchen, eine Reform der Kammern und des großen Befähigungsnachweises (besser bekannt als Meisterprüfung) scheiterten an den Zünften und ihren Interessenvertretungen.

Ohne Ausbildungsabgabe schritt in den letzten fünf Jahren mit einer Fülle von Einzelmaßnahmen die „heimliche“ Verstaatlichung der Berufsausbildung fort. In den neuen Bundesländern sprechen die Berufsbildungsexperten schon längst nicht mehr von einem „dualen System“, höchstens von einem „trialen System“ von Ausbildungszentrum, Berufsschule und Betrieb. Zumindest bei der Finanzierung mischt der Staat im Osten kräftig mit: siebzig bis achtzig Prozent der Ausbildungsplätze sind subventioniert – aus Steuermitteln (vgl. Berufsbildungsbericht 2003 und das dazugehörige Minderheitsvotum der Arbeitnehmervertreter). Die Maßnahmen, in denen Jugendliche zwischen dem Schulabgang und einer möglichen Lehre „Warteschleifen“ drehen, ihre fehlende Ausbildungsreife oder Schulabschlüsse nachholen, werden über die Bundesanstalt für Arbeit oder Sonderprogramme der Länder finanziert und summieren sich auf über 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Ein reibungsloser Übergang von der Schule in die Berufsausbildung gelingt vielen Jugendlichen schon lange nicht mehr: Rund 35.000 Schulabgänger landeten im vergangenen Jahr in Auffangmaßnahmen. Seit der Hartz-Kommission sind diese Maß-nahmen schöngetauft worden und nennen sich jetzt „Ausbildungsvorbereitung“, ohne dass Lehrern wie Jugendlichen klar wäre, auf welche Ausbildung sie denn vorbereiten. Die Jugendlichen gehören zu den Abgestempelten, Ausgegrenzten und durch das deutsche Schulsystem Aussortierten. Je niedriger und je schlechter ihr Schulabschluss ist, umso größer sind die Probleme der Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. In Großstädten und den Stadtstaaten häufen sich die Probleme: Je schlechter das Image eines Stadtteils ist, umso größer sind die Schwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen, gefördert und gefordert zu werden, die gleichen Chancen in der Schule und der Berufsausbildung zu haben wie die Kinder aus „besseren“ Stadtteilen. Die „Sachverantwortung“, die die Verfassungsrichter 1980 noch klar bei „der Wirtschaft“ sahen, ist in der Verfassungswirklichkeit des 21. Jahrhunderts für einen Teil der jungen Generation längst an Bund, Länder und Kommunen, an die Bundesanstalt für Arbeit sowie die zahllosen Träger der Jugend- und Sozialhilfe übergegangen.

Das gilt nicht nur für die Auffangmaßnahmen des Bundes. Auch in den Ländern hat sich die „Sachverantwortung“ verschoben. Der Weg in den Beruf ist nicht mehr zweigleisig: Lehre oder Studium – das galt noch 1970, als Winterhager an seine vergessene

Majorität erinnerte und mehr Qualität auch für die nichtakademischen Berufswege einklagte. Seit dem Urteil der Karlsruher Richter, verstärkt aber seit den 1990er Jahren, haben sich in den Ländern vielfältige Haupt-, Neben- und Seitenwege etabliert, die auch zu Berufen führen. Die unterschiedlichen Wege entfernen sich von dem traditionellen „dualen System“, in dem ein Jugendlicher mit einem Unternehmen einen Ausbildungsvertrag abschließt. Die Zahlen sprechen eine eigene Sprache. Von 1970 bis 2000 sind die offiziell registrierten Lehrverhältnisse mehr oder weniger bei rund 1,5 Millionen geblieben. Aus den damals rund 300.000 Studenten wurden 1,8 Millionen; die unübersichtlichen vollschulischen Ausbildungsangebote dürften weit über einer halben Million liegen. Die Größenverhältnisse zeigen vor allem, was sich gesellschaftlich verschoben hat. Zwar versucht auch heute noch die Mehrheit der Schulabgänger, den Start in den Beruf über ein Ausbildungsverhältnis zu organisieren, aber Lehre wie auch Schulausbildungen sind häufig nur Durchgangsstationen: an den Fachhochschulen bringt heute nahezu jeder dritte Student einen Ausbildungsabschluss mit. In der Praxis entfernt sich die Entwicklung immer weiter von der klassischen Lehrlingsausbildung.

Jenseits aller parteipolitischen oder ideologischen Bekenntnisse zum dreigliedrigen Schulsystem und dem „dualen System“ verfügt derzeit Baden-Württemberg über die vielfältigste Bildungs- und Ausbildungslandschaft: Berufliche Gymnasien, Berufsakademien, berufliche Vollzeitschulen, Schulen für die Gesundheitsberufe, „duale Ausbildung“ auf dem Niveau der Fachhochschule. Vollgültige Berufe (wie die Altenpflegerin) werden in Schulen gelehrt und gelernt, zwischen Hochschulen und Unternehmen gibt es Verträge über praktische Studienabschnitte und Austauschsemester: der Auszubildende ist allerdings Student. Die Vielfalt der Wege führt im Land von Daimler und Bosch, von Handwerkstradition und Kleinbetrieben zu Konsequenzen. Als „modern“ gelten in den Augen der Jugendlichen die Angebote in den Schulen, Akademien und Hochschulen. Eine Ausbildung im Handwerk ist selbst für Hauptschüler nur zweite Wahl, wie eine Befragung des Baden-Württembergischen Handwerkskammertages belegt. Wer es sich von den Noten her leisten kann, wagt den Sprung in weiterführende, berufsqualifizierende Schulen, nicht in die Lehre. Das Handwerk ist für den „Rest”, nicht sehr geachtet und beliebt. Damit verliert das Handwerk nicht nur seinen goldenen Boden, sondern auch seine bisher unangefochtene und einflussreiche gesellschaftliche Stellung. Eine ähnliche Entwicklung ist im Übrigen (trotz einer zentralen Umlage) im Nachbarland Frankreich zu beobachten, wo in der Provinz Tischlereien, Bäckereien, Gaststätten wegen Nachwuchsmangel verschwinden und eine Kultur der kleinen Geschäfte und Betriebe wegbricht.

Folgenreich ist die schleichende Verstaatlichung auch für die Gewerkschaften. Ihnen rutscht quasi unter der Hand ein wesentliches Argument für ihr Engagement zu Gunsten der traditionellen Berufsausbildung weg: Bisher warben sie mit der Ausbildungsvergütung, die in den jährlichen Tarifverhandlungen oft eine wichtige Rolle gespielt hat und für viele Jugendliche ein Anstoß zum Eintritt in die Gewerkschaft war. Zwar spielt bei den jugendlichen Bewerbern die Ausbildungsvergütung noch immer eine wichtige Rolle, weil sie damit „eigenes Geld“ verdienen. Aber nicht um jeden Preis und um jeden Lehr-Vertrag. Vor allem die jungen Frauen gehen seit rund zehn Jahren eigene Ausbildungswege in (fach)schulischen Systemen. Die aufwändigen Modellversuche Ende der 1970er Jahre „Mädchen in Männerberufe“ blieben einmalig, neue Perspektiven öffneten sich dadurch kaum. Im Gegenteil: Alle Versuche, das auf den männlichen Facharbeiter ausgerichtete Ausbildungssystem gleichberechtigt auf beide Geschlechter auszuweiten, sind gescheitert. Die gesamte Breite der neuen Berufe im Gesundheitswesen, eine weibliche Domäne, ist „der Wirtschaft“ und damit auch den Tarifvertragsparteien entzogen. Käme es in Deutschland (mit Zustimmung der Länderkammer) je zu einem Ausbildungsfonds, stünde die Ausbildungsvergütung zur Disposition, denn ein Anrecht auf eine Finanzierung der Berufsausbildung oder ein Anrecht auf ein Ausbildungsgeld hätten alle jungen Männer und Frauen, welchen Weg in den Beruf sie auch wählen. Bedacht worden sind diese Folgen weder von den Gewerkschaften noch von den Jusos oder der SPD insgesamt.

III.

Nun also, im Jahr 2003, erneut ein Aktivitätsschub einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung. Die Zahl der Bewerber um Lehrstellen steigt und steigt, zumindest bei den Arbeitsämtern, die Zahl der Ausbildungsbetriebe nimmt ständig weiter ab. Nur die Hälfte der Unternehmen und Betriebe, die über eine Ausbildungsberechtigung verfügen, stellt tatsächlich Lehrlinge ein, im Schnitt sind es 2,6 Lehrlinge je Betrieb im Alter von rund 19 Jahren (Berufsbildungsbericht 2003). Jugendliche mit Migrationshintergrund haben immer geringere Chancen, einen Ausbildungsvertrag zu bekommen. Ihre Zeugnisse und Schulabschlüsse sind in den 1990er Jahren ebenfalls schlechter geworden. Vierzig Prozent der 15 jährigen, die an dem weltweiten PISA-Test teilgenommen haben, lagen unter jener Kompetenzstufe III, die Wissen, Fähigkeiten und Kenntnisse für eine Ausbildungsreife misst. Die soziale Herkunft entscheidet in Deutschland nach wie vor über Chancen und Karrieren, in der Schule, beim Berufsstart und auf dem Arbeitsmarkt. In keinem vergleichbaren Industrieland funktioniert die soziale Selektion und der Ausschluss von der gesellschaftlichen Teilhabe so nachweisbar wie in Deutschland, urteilten die Bildungsforscher des Max-Planck-Instituts in ihren Studien zu den PISA-Tests.

Und die Antwort der rot-grünen Bundesregierung auf diese undemokratischen Tat-bestände? Sie setzt für fünf Jahre (und damit dauerhaft) die Ausbildungseignungsverordnung aus und hebt die ohnehin nicht sehr hohen Qualitätsstandards für die Eignung der Ausbilder auf; für die Breite der Handwerksberufe soll der Meisterzwang nicht mehr oder nur noch freiwillig gelten. Damit durchkreuzt die Regierung ihren eigenen Schritt zu einer gleichberechtigten Ausbildungsförderung von Schülern, Studenten und erfolgreichen Lehrlingen: Wozu dient das in der letzten Legislaturperiode erst eingeführte Meister-Bafög noch, wenn der bisherige Aufstieg zum Ausbilder und Meister (politisch wie gesetzlich) nicht mehr gefragt ist? Und das mühselige Geschäft, über eine pädagogische Qualifizierung der Ausbilder auch Verantwortlichkeit zu wecken und zu stärken, ist als gescheitert zu betrachten. Am 1. Juli dieses Jahres ist mit 300 Millionen Euro ein weiteres „Jump plus“-Programm für 100.000 benachteiligte Jugendliche angelaufen, gleichzeitig wurden mit der Umsetzung des so genannten Hartz-Konzepts die ausbildungsbegleitenden Programme der Arbeitsämter für ebendiese Gruppe von Jugendlichen drastisch gekürzt. Und schließlich noch die doppelte Drohgebärde des Kanzlers in seiner „Agenda“-Rede: Gesetzliches Handeln, wenn die Wirtschaft bis zum 30. September 2003 nicht genügend Plätze schafft, Sanktionen für die Jugendlichen, wenn sie vorhandene Angebote nicht annehmen. Aus dem Mund des Kanzlers tönt der strafende Staat: „Wir werden dafür sorgen, dass das funktioniert.“

Aber was eigentlich soll funktionieren? Die reibungslose Unterbringung der Jugendlichen in irgendwelchen Unternehmen, die eigentlich überhaupt nicht ausbilden wollen und es auch nicht können? Das Einsammeln von Geld aus kleinen und mittleren Unternehmen mit bis zu fünfzig Beschäftigten? Sie sind es schließlich, die sich in den letzten fünfzehn Jahren vor allem aus der Ausbildung zurückgezogen haben, während über neunzig Prozent der großen Betriebe mit über 500 Beschäftigten nach wie vor ausbilden — wenn auch zahlenmäßig weniger. Soll die Entfernung der Jugendlichen aus der Bewerberstatistik „funktionieren“, weil es Jungen und Mädchen, die oft ein robustes Selbstwertgefühl haben, ablehnen, irgendein Angebot in einem Betrieb anzunehmen, der möglicherweise in der eigenen Zunft schief angesehen ist, weil er keinen Meisterbrief über der Tür hängen hat?

Hat denn niemand im Bundeskanzleramt zur Kenntnis genommen, dass schon jetzt jeder vierte Ausbildungsvertrag wieder gelöst wird, weil es zu Auseinandersetzungen zwischen Ausbilder und Auszubildendem gekommen war? Um wen und um was geht es der Bundesregierung eigentlich bei ihrem Aktivitätsschub? Um die Chancen und Rechte der Jugendlichen? Mit Strafen und Sanktionen werden sie nicht eingelöst. Die Politik für die Mehrheit der Jugendlichen, die sich erst in der Schule, dann zwischen Schule und Arbeitsmarkt irgendwie durchwursteln müssen, ist Flickwerk geblieben: Ein Krisenmanagement ohne System. Also doch seit Jahrzehnten eine vergessene Majorität?

Die jungen Frauen und Männer, die ihren mühselig gewordenen Weg in die Berufs-und Arbeitsgesellschaft suchen, tauchen Jahr für Jahr als statistische Größe in der öffentlichen Auseinandersetzung auf. Was fehlt, wird kurzatmig und eher schlecht als recht mit Geld verwaltet. Eine Politik der nachhaltigen Ermutigung, der Unterstützung und der Zuwendung bleibt der Majorität versagt. Vom Vergessen zur Lieblosigkeit. Zu verantworten hat diese Entwicklung ausgerechnet eine Generation, die weder in der eigenen Schulzeit, noch in der Ausbildung oder im Studium von Ängsten vor Arbeitslosigkeit geplagt worden ist. Welch‘ eine Ignoranz oder gar Arroganz der politischen Klasse.

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