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Editorial

aus: vorgänge Nr. 191, Heft 3/2010, S. 1-3

Allen Prognosen eines Endes der Arbeitsgesellschaft zum Trotz ist die Arbeit nach wie vor ein bestimmender Faktor der gesellschaftlichen Lebenswelt. Über sie definiert sich die soziale Identität des Einzelnen, sie ist die zentrale Arena, in der sich Normen des Zusammenlebens verwirklichen, an der Politik gemessen wird. Arbeitsleistung ist gleichermaßen gesellschaftliche Anforderung wie individuelle Selbstverwirklichung, prekäre Beschäftigung wird als Stigma empfunden, Arbeitslosigkeit als Ausgrenzung wahrgenommen. Im letzten Jahrzehnt ist der Arbeitsmarkt in Deutschland einem rasanten Wandel unterworfen gewesen. Er ist charakterisiert durch den Rückgang des einst dominierenden Modells der lebenslangen Vollerwerbsstelle des male breadwinner, durch eine Segmentierung nach Beschäftigungsformen, wachsende Disparitäten bei Einkommen und Beschäftigungssicherheit, einer Abkehr vom Leitgedanken der Statussicherung bei der Arbeitslosenversicherung und einer Hinwendung zu Formen der Aktivierung, Flexibilisierung und des Selbstmanagements. Für diesen Wandel steht emblematisch das Kürzel „Hartz IV“. Die Einführung der entsprechenden Gesetze hat nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die politische Landschaft nachhaltig verändert. Und so kam es bereits wenige Monate nach dieser Einführung zu ersten Reformen der Reformen. Mittlerweile werden auch die Parameter, an denen seinerzeit Erfolg oder Misserfolg gemessen wurden, in Frage gestellt und zuletzt verfügte das Bundesverfassungsgericht Änderungen bei der Ausgestaltung des Gesetzes. Doch ein einfaches Zurück zum Status quo ante wird es nicht geben. Grund genug, auszuloten, welche Richtung die weitere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nehmen soll. Dazu will diese Ausgabe der vorgänge Denkanstöße geben.

Martin Dietz und Ulrich Walwei werfen einen Blick auf den gespaltenen Arbeitsmarkt der Zukunft. Das Wachstum der Industrie und des Dienstleistungssektors wird im Zusammenspiel mit einer abnehmenden Erwerbsbevölkerung eine verstärkte Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften zeitigen. Dem wird ein Überangebot an Niedrigqualifizierten gegenüberstehen.

Olaf Struck, Roland Back, Matthias Dütsch und Verena Liebig ziehen eine kritische Bilanz der bisherigen Arbeitsmarktpolitik. Auch wenn sich das Beschäftigungsniveau erhöht hat, so könne nicht davon gesprochen werden, dass die strukturellen Probleme überwunden wurden. Die Mängel bestehen vor allem bei der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik sowie in einer seit Langem ungenügenden schulischen und beruflichen Erst-und Fortbildung.

G. Günter Voß erkennt in der rapiden Zunahme psychosozialer Erkrankungen das Ergebnis eines entgrenzten Arbeitsprozesses, der den Einzelnen verhaltensstabilisierender Sicherheiten beraubt und ihn zu einem permanenten Selbstmanagement nötigt.

Claudia Weinkopf untersucht die Ausformungen und Gründe des wachsenden Niedriglohnsektor. Diese liegen nicht allein in den niedrigen Qualifikationen der Betroffenen, auch Arbeitnehmer mit Berufsausbildung haben mit schlechter Entlohnung zu kämpfen. Ein wirksames Gegenmittel, das sich bereits in anderen europäischen Staaten bewährt hat, ist ein verbindlicher Mindestlohn.

Claudia Heintze widerlegt die Mär, dass geringe Entlohnung und ein schlanker Staat den Standort stärken und Beschäftigung sichern. Sie verdeutlicht am Beispiel der skandinavischen Länder, dass vielmehr ein starker staatlicher Sektor Bedingung einer hohen Beschäftigungsrate, guter Qualität der Arbeit und gute Bezahlung ist und dies keinesfalls mit einer hohen Staatsverschuldung einhergehen muss.

Günther Schmidt sieht den Einzelnen in seinem Erwerbsleben multiplen Risiken ausgesetzt, auf welche die bisherige Arbeitslosenversicherung nur noch ungenügende Antworten gibt. Gefragt sei deshalb eine Neuordnung des Arbeitsmarktes hin zu einer Beschäftigungssicherung, die nicht nur Arbeit, sondern auch riskante Arbeitsübergänge belohnt: Etwa Übergänge zwischen Vollzeit und Teilzeit, abhängiger und selbständiger Beschäftigung, Bildung und Arbeit, bezahlter Arbeit und gesellschaftlich notwendiger, aber unbezahlbarer Erziehungs- oder Pflegearbeit.

Oliver Nachtwey sieht die Gewerkschaften durch die neuen Beschäftigungsformen vor Herausforderungen gestellt, auf die sie noch keine passenden Antworten gefunden haben. Eine organisationspolitische Wende, die mit neuen Konzepten das Schwinden gewerkschaftlicher Macht stoppen könnte, sei bislang nicht absehbar. In der Gesellschaft grassiere die Kritik an der Marktwirtschaft, aber den Gewerkschaften gelinge es bislang noch nicht, sich als Gegenmacht zur Marktmacht zu präsentieren, die über die Neubelebung der sozialen Marktwirtschaft der Vergangenheit hinausgeht.

Klaus Dörre kennzeichnet die Dynamik kapitalistischer Entwicklung als einen fortwährenden Prozess der Landnahme, bei dem brachliegende Potenziale der Verwertung unterworfen und nicht mehr profitable Bereiche abgestoßen werden. Diese Dynamik stößt mit der sich verschärfenden ökologischen Krise an ihre Grenzen.

Alexandra Manske und Norman Ludwig belegen am Beispiel der Kommunikationsbranche, dass auch hohe Qualifikationen nicht vor Niedrigeinkommen und prekärem Status schützen.

Für Volker Neumann wurde mit dem Hartz IV-Urteil des BVerfG ein neues Grundrecht für Arme geschaffen, das allerdings nicht, wie manche gehofft haben, deren Existenzminimum substanziell festlegt, sondern lediglich die Verfahrensweise zu seiner Bestimmung normiert.

In seinem Essay verteidigt Jan-Werner Müller den Verfassungspatriotismus als integrativen Modus demokratischer Willensbildung, der in der durchaus

streitbaren Vermittlung zwischen universellen Prinzipien und den spezifischen Erfahrungen historisch konstituierter Kollektive eine für alle annehmbare Verfassungskultur hervorbringt und sich darin von dem Loyalität fordernden nationalen Liberalismus abhebt.

Markus Holzinger analysiert die Gründe und Funktionen der in Folge von Globalisierung und Transnationalisierung zunehmenden Informalisierung der Politik und betrachtet theoretische Ansätze, die dies als Kosmopolitismus und Ausdruck einer Weltgesellschaft betrachten, eher skeptisch.

Für Ulrich Finckh sind die Möglichkeit des Stimmen-Splittings bei Wahlen und die damit einhergehenden Überhangmandate ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und Anlass, über eine Reform des Wahlrechts nachzudenken.

Ich wünsche Ihnen zu dieser Ausgabe der vorgänge wie immer eine anregende Lektüre.

Ihr

Dieter Rulff

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