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Verfas­sungs­pa­tri­o­tismus

Eine systematische Verteidigung,

aus: vorgänge Nr. 191, Heft 3/2010, S. 111-118

Seit nun mehr als einem Vierteljahrhundert wird in Deutschland über Verfassungspatriotismus gestritten. Bekanntlich hat Dolf Sternberger den Begriff als Selbstbeschreibung (und Selbstanerkennung) der Bonner Republik Ende der siebziger Jahre ins Spiel gebracht; Mitte der achtziger Jahre wurde er dann von Jürgen Habermas im Historikerstreit aufgegriffen (und teilweise modifiziert). Seit jenen Zeiten ist der Chor der Kritiker nicht verstummt, die Verfassungspatriotismus als „blutleer“ und „weltfremd“ schmähen. Deshalb verwundert es, dass auch die Verteidiger des Konzepts so gut wie nie versucht haben, jenseits tagesaktueller Auseinandersetzungen um nationale Identität und Integration eine allgemeine Theorie des Verfassungspatriotismus zu formulieren – nicht zuletzt, um das Konzept von „liberalem Nationalismus“ und Leitkultur-orientiertem Integrationsdenken deutlich abzugrenzen.[1] Diese Aufgabe ist nicht zuletzt dringend angesichts der Tendenz, den Streit zwischen Verfassungspatrioten und liberalen Nationalisten als kleinere semantische Scharmützel, oder zumindest als philosophische Scheingefechte darzustellen. Sicherlich gibt es normative Berührungspunkte. Aber ob man bei Nationalkultur anfängt und dann bei liberaldemokratischen Werten landet, oder umgekehrt, wie ich in diesem Essay erläutern möchte, mit universellen liberaldemokratischen Prinzipien beginnt und daraus unter spezifischen historischen Umständen eine partikulare Verfassungskultur gewinnt, ist bei Weitem nicht gleichgültig.

Wozu Verfas­sungs­pa­tri­o­tis­mus?

Eine allgemeine Theorie des Verfassungspatriotismus sollte zuerst einmal den Zweck von Verfassungspatriotismus klären. Mit anderen Worten: Auf welche Frage ist Verfassungspatriotismus die Antwort?

Ein normativ gehaltvoller Begriff von Verfassungspatriotismus geht auf die Frage zurück, wie Bürger, welche sich gegenseitig als Freie und Gleiche anerkennen, eine Form demokratischer Herrschaft etablieren und perpetuieren können. Demokratische Herrschaft heißt, dass die Grundregeln des politischen Zusammenlebens denjenigen gegenüber gerechtfertigt werden müssen (und können), welche kollektiv bindenden Entscheidungen unterworfen sind. Anders gewendet: Die Adressaten des Rechts müssen sich zumindest indirekt als Autoren des „Rechts der Rechtsschaffung“ verstehen und die Kernpunkte einer Verfassung als ihre eigenen betrachten können. Die Prozeduren, welche legitimes Recht erzeugen, dürfen ihnen nicht als etwas prinzipiell Fremdes oder gar Aufgezwungenes gegenüberstehen.

Man kann von den Bürgern nun kaum erwarten, dass sie eine real existierende Verfassung (und schon gar nicht alle Gesetze) als mit ihren eigenen ethischen Grundüberzeugungen völlig deckungsgleich wahrnehmen. Sie können sich mit guten Gründen über einzelne Verfassungskernpunkte streiten – nicht zuletzt weil die Anwendung von Kernprinzipien im Zweifelsfalle immer strittig ist, Anwendungsfragen aber auch wieder Kernprinzipien in neuem, unter Umständen auch problematischem Licht erscheinen lassen.

Es wäre deshalb falsch, anzunehmen, dass in einer stabilen Demokratie die Verfassung der politischen Auseinandersetzung entzogen sein muss. Was hingegen als an sich illegitim ausgeschlossen bleibt, ist ein individueller oder kollektiver Rückzug von der Grundidee der gegenseitigen Rechtfertigung von politischer Herrschaft unter Freien und Gleichen, welche in einer wohlgeordneten politischen Gemeinschaft zusammenleben möchten. Wer diese Idee – oder auch nur geteilte Intuition – aufgibt, will auf die eine oder andere Weise ein System etablieren, in dem einige Bürger andere permanent beherrschen.

Verfassungen kreieren somit eine legitime Bandbreite von Dissens – begrenzt allerdings durch die Idee fairen Zusammenlebens, welche mehr ist als ein modus vivendi, bei dem sich verschiedene zur Koexistenz verdammte Gruppen so gut wie es nun gerade einmal geht arrangieren (und, sollten sich die Machtverhältnisse signifikant verschieben, ohne Weiteres bereit sind, diesen modus vivendi aufzugeben). Verfassungspatrioten (die eben mehr wollen als einen politischen Nichtangriffspakt) müssen deshalb an dieser einen Idee festhalten. Man mag dies als eine höchst abstrakte Annahme abtun – doch ist es keineswegs irrelevant, ob Bürger auf eine solche rekurrieren können.

Denn es ist gerade der Konfliktfall, in dem Verfassungspatriotismus eine entscheidende Rolle spielt. Verfassungspatriotismus motiviert die in der politischen Auseinandersetzung unterlegenen Parteien mit genuin moralischen – und nicht einfach strategischen – Gründen, die Systeme sozialer Kooperation fortzuführen, welche sich auf das Ideal gegenseitiger Rechtfertigung stützen. Mit anderen Worten: Auch politische Verlierer können noch ihre Zustimmung geben. Verfassungspatriotismus stellt den Verlierern aber wiederum auch eine gemeinsame normative Sprache bereit, mit der sich Mehrheitsentscheidungen bei nächster Gelegenheit in Frage stellen und unter Umständen revidieren lassen. In solchen Fällen können Mehrheiten den Einspruch der Unterlegenen nicht einfach mit dem Hinweis abtun, gewisse Interessen hätten eben Vorrang vor anderen – sondern sie müssen wiederum in der Sprache geteilter normativer Ideen und Intuitionen antworten. Dies heißt auch, dass sogar scheinbaren Verfassungsfeinden noch eine Chance eingeräumt wird, ihren Dissens mit Bezug auf geteilte normative Grundideen zu artikulieren – nämlich in Praktiken des zivilen Ungehorsams – statt sie mit einem paternalistisch verstandenen Verfassungsschutz völlig aus der Diskussion auszuschließen.

Dies bedeutet nun nicht, dass möglichst alle Auseinandersetzungen zugespitzt und auf die Ebene von Verfassungskonflikten gehoben werden sollten. Das politische Tagesgeschäft bleibt eine Sache strategisch geführter Verhandlungen und hat nur höchstselten etwas mit dem Appell an tief sitzende geteilte normative Überzeugungen zu tun. Aber die Einsicht, dass begrenzter Konflikt ein Gemeinwesen in seinen Fundamenten stärken, dass Konflikt vor allem auch zur normativen Klärung dieses Fundaments beitragen kann – diese Einsicht geht gerade in harmoniesüchtigen politischen Theorien leicht verloren.

Aus begrenztem (aber eben auch klärendem) Konflikt erwächst, so meine These, schließlich eine spezifische „Verfassungskultur“ – ein Begriff, der ob der Wandelbarkeit und Heterogenität, die er suggeriert, dem der „Verfassungsidentität“ vorzuziehen ist.[2] „Identität“ verweist zu sehr auf die (problematische) Vorstellung von Verfassung als eines über die Zeit hin weitgehend immer mit sich selbst identischen Dokuments; Kultur hingegen suggeriert die Idee einer lebendigen Verfassung und enthält ganz offensichtlich nicht nur ein in einem Glaskasten zu bestaunendes Dokument – sondern Symbole, die Verfassung umgebende und mit zusätzlichen Bedeutungen anreichernde historische Narrative sowie Riten und Rituale (wie beispielsweise Einbürgerungszeremonien). Verfassungskultur kann sich aber auch auf bestimmte Praktiken der Konfliktaustragung beziehen; wie über Grundsätzliches gestritten wird, welche Argumente und Analogien in die normative Waagschale geworfen werden: Alle diese sind im Zweifelsfall kulturell besonders, wenn nicht einzigartig, ohne dass daraus allerdings folgte, sie deckten sich einfach mit der von liberalen Nationalisten ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellten „Nationalkultur.“

Verfassungskultur ist also nichts Harmonisches oder Homogenes; sie ist nicht einfach eine konzentrierte Form von „Nationalkultur“; sie ist aber auch nicht einfach gleichbedeutend mit „politischer Kultur“ – denn die Letztere hat, zumindest im strikten politikwissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs, nur sehr abstrakte Eigenschaften wie Einstellungen der Bürger zur Demokratie ganz allgemein. Verfassungskultur ist hingegen, im Sinne ganz bestimmter Formen (und Stile) von Auseinandersatzung und Konsens, sehr viel spezifischer.

Dies alles heißt nun nicht, dass Verfassungspatriotismus dann doch nur wieder eine Form von Partikularismus wäre: die Unterscheidung von „politischer Kultur“ oder „Verfassungskultur“ auf der einen Seite und „Nationalkultur“ auf der anderen lässt sich kaum präzise mit dem soziologischen Lineal ziehen – aber daraus folgt keineswegs, weil ja alles irgendwie mit Kultur zu tun habe, dass sich spezifisch politischverfassungspatriotische Werte nicht isolieren (und debattieren) ließen. Und umgekehrt bleibt völlig unklar, wie sich eine „Nationalkultur“ eigentlich kommunikativ verflüssigen lässt, obwohl die Vertreter des liberalen Nationalismus immer wieder betonen, bei Nationalkultur hätten sie selbstverständlich auch nichts Homogenes oder Statisches im Sinne.

Wozu „Verfas­sungs­kultur“?

Verfassungskultur vermittelt zwischen universellen Prinzipien auf der einen Seite und den spezifischen Erfahrungen historisch konstituierter Kollektive auf der anderen – denn diese Prinzipien sind nicht einfach eindeutig verfügbar und ohne Rücksicht auf spezifische Kontexte abrufbar, sondern müssen gerade in kulturelle Kontexte erst eingebettet werden. Zweifelsohne prägt das Umfeld einer spezifischen Verfassungskultur die politische Urteilsbildung der Bürger; aber die Normen und Werte, welche im Zentrum einer Verfassungskultur stehen, beeinflussen beispielsweise auch wiederum das Bild, das sich Mitglieder eines Gemeinwesens von ihrer Geschichte machen. „Die abstrakte Idee der Verallgemeinerung von Demokratie und Menschenrechten“ – um Habermas zu zitieren – „bildet „das harte Material, an dem sich nun die Strahlen der Überlieferung brechen.“ Man kann sich das Verhältnis zwischen Verfassungskultur und dem ethischen Selbstverständnis eines Volkes als einen zirkulären Prozess denken, in dem das eine das andere immer wieder neu formt. Anders gesagt: Werte und Normen müssen im Lichte neuer Erfahrungen immer wieder ausgehandelt werden; man muss um ihre bestmögliche Interpretation und Anwendung ringen – denn sie sind nie auf eine solche Weise „gegeben“, dass es keinen Ein- oder Widerspruch geben könnte.

Nur: Ist das, was mit dem Begriff Verfassungspatriotismus an Universalisierungspotential gewonnen wurde, mit der Idee einer „Verfassungskultur“ nicht gleich wieder preisgegeben? Ist Letztere nicht doch eine Art substantieller Konsens über Werte, wie es ihn in komplexen modernen oder postmodernen Gesellschaften eigentlich nicht mehr geben kann? Darf nicht allenfalls ein Konsens über Prozeduren hergestellt werden?

Hier ist die Versuchung groß, alle in irgendeiner Weise auf kulturelle Praktiken rekurrierenden Argumente über einen Kamm zu scheren. Eine Verfassungskultur ist im Fluss begriffen und ebenso sehr von Auseinandersetzung wie Konsens geprägt. Sie ist in der Tat eine Kultur, aber eine Kultur, die sich auf Politik beschränkt, nicht eine amorphe „Nationalkultur“ wie bei den liberalen Nationalisten. Und die Loyalität des Verfassungspatrioten gilt zwar auch kulturellen Praktiken der politischen Auseinandersetzung – aber letztlich doch universalisierbaren Normen und Prinzipien, und weder einer Nationalkultur noch einem Volk.

Umgekehrt darf aber Verfassungspatriotismus nicht auf eine „Anerkennung eines prozeduralen modus vivendi“ (im vermeintlichen Gegensatz zur „Verpflichtung auf gemeinsame Werte“ bei liberalen Nationalisten) verkürzt werden.[3] Habermas hat in diesem Zusammenhang einmal den Begriff einer „demokratischen Sittlichkeit“ ins Spiel gebracht; und diese unterscheidet sich deutlich von einem rein abstrakten Prozeduralismus, der ohnehin eine Fiktion ist, da sich die Verbindung zwischen Moral und liberaldemokratischen Prozeduren nicht kappen lässt.

Das Konzept, das aus der Kälte kommt?

Bewegen sich Verfassungspatrioten unweigerlich in einer Art polit-mentaler Kältezone? Die politische Philosophie ist kaum dazu geeignet (oder auch nur berufen), den Bürgern irgendwelche Haltungen und Gemütslagen vorzuschreiben. Doch kann sie gewisse Grundeinstellungen, die plausibel mit normativen Entwürfen einhergehen, beschreiben und versuchen, diese für die Bürger attraktiv zu machen.

In diesem Sinne lässt sich eine verfassungspatriotische Grundhaltung wohl als kritisch, unter Umständen sogar als ambivalent bezeichnen. Aus der Grundeinsicht, dass universalistische Aspirationen und Verfassungsrealität nie völlig zur Deckung kommen, ergibt sich einerseits ein gewisser Vorbehalt gegenüber allem bisher politisch Geleisteten – und andererseits eine Bereitschaft, die Frage nach der bestmöglichen Verwirklichung von Normen und Werten immer wieder aufs neue anzugehen.

Verfassungspatriotismus ist also primär als ein Projekt zu verstehen – und nicht als eine Art invariante Loyalitätsleistung, welche sich auf ein feststehendes Objekt bezieht. Dieses Projekt speist sich aus kollektiven Lernprozessen. Mit diesem Begriff soll nun keinerlei Teleologie eingeschmuggelt werden: nichts und niemand kann garantieren, dass solche Prozesse glücken oder irreversibel sind; historisches Verlernen ist nicht weniger wahrscheinlich als „die richtigen Lehren aus der Geschichte“ ziehen.

Kein Gemeinwesen kann es sich allerdings leisten, dass seine Bürger in einem Zustand permanenter Ambivalenz gegenüber den Verfassungskernpunkten leben oder diese alle als rein provisorisch betrachten. Insofern darf Verfassungspatriotismus auch nicht als völlig frei schwebende Haltung mit Loyalität immer unter Vorbehalt verstanden werden. Aber ein zu Revisionen bereites Selbstverständnis, das Bürger teilen und von dem sie wissen, dass die anderen Bürger es teilen, unterscheidet sich deutlich von einer Haltung, welche sich auf eine „Verfassungsidentität“ versteift und diese Identität primär als Errungenschaft und nicht als fortzuführendes Projekt betrachtet. Mit den Worten von Lutz Wingert: „Das bürgerschaftliche ‚Wir‘ ist immer das ‚Wir‘ einer Stimme, die sich als anfechtbare Instanz kenntlich macht.“ Diese Selbstkonzeptionen bietet einen ganz anderen Ausgangspunkt als ein liberaler Nationalismus, der seine Bestimmtheit (und seine Dauer) eben im Zweifelsfalle doch aus einer Art ethnischer Kernidentität bezieht.

Folgt nun aus alledem, dass Verfassungspatriotismus eine rein rationale Angelegenheit ist, und bestätigt das eben gezeichnete Bild nicht genau den Vorwurf der „Blutleere“? Es lässt sich kaum bestreiten, dass in jedem plausiblen Entwurf von Verfassungspatriotismus rationale Elemente vorherrschen werden: Gründe für bürgerliche Loyalität aus einer (nicht notwendigerweise kohärenten oder theoretisch tiefen) Hintergrundkonzeption von Bürgern als Freie und Gleich abzuleiten, ist nun einmal eine Verstandessache, und Verfassungspatriotismus ist im Zweifelsfalle ein „unpathetisches Ideal“ (Wingert). Aber daraus folgt nicht, dass Emotionen keine Rolle spielen. Die historischen Erfahrungen, welche zum Ausgangspunkt von Lernprozessen werden, und die symbolisch aufgeladenen Erzählungen, in denen sich diese Prozesse verdichten, rufen selbstverständlich auch Gefühlsreaktionen hervor. Diese Emotionen kommen jedoch auch nicht ohne kognitive Grundlagen – mehr oder weniger wohlverstandene Gründe für Stolz oder Empörung – aus. Es ist deshalb grundsätzlich falsch, Kognition und Emotion gegeneinander auszuspielen.

Dass der hier vorgeschlagene Begriff von Verfassungspatriotismus mit simplem Stolz einhergeht, ist allerdings unwahrscheinlich – aber auch nicht unmöglich. Eher ist jedoch eine gemischte Gefühlslage zu erwarten – was nicht heißen soll, dass beispielsweise Nationalisten ein ganz und gar unkompliziertes politisches Gefühlsleben hätten. Was jedoch bei Verfassungspatrioten nicht denkbar ist – ein unhinterfragbarer Stolz oder ein homogenes nationales Narrativ, das nur von Siegen und Heroen handelt (oder auch von der Nation als permanentem Opfer finstere Mächte) -, ist bei liberalen Nationalisten ohne Selbstzweifel oder emotionale Komplikationen möglich. Ein post-traditionales (das heißt: ein post-traditionalistisches) Selbstverständnis ist immer ein gebrochenes – und insofern auch ein post-heroisches. Auch Erzählungen, die davon handeln, wie Unterdrückung und Ungerechtigkeit überwunden wurden, können das einmal erfahrene Leiden nicht ungeschehen machen.

Was ist nun das konkrete „Produkt“ des Verfassungspatriotismus? Habermas spricht von über Recht vermittelter Solidarität unter Fremden. Dies ist offensichtlich etwas ganz anderes als aristotelische Freundschaft in der Polis oder das Selbstverständnis republikanischer Bürger in Stadtstaaten der Renaissance. Und die hier vertretene Version von Verfassungspatriotismus ist vielleicht noch „dünner“ als es die Habermassche Formel nahe legt: Solidarität im Sinne umfangreicher materieller Umverteilung lässt sich aus dem Begriff Verfassungspatriotismus nicht gewinnen – zumindest nicht ohne eine substantielle Hintergrundtheorie von Gerechtigkeit, welche eine solche Umverteilung rechtfertigen könnte. Doch es wäre auch falsch, nun zu meinen, Verfassungspatriotismus sei eine vertikale Angelegenheit zwischen Bürger und Staat oder Bürger und Verfassung, die mit horizontaler Solidarität unter Bürgern eigentlich gar nichts zu tun hätte. Die Bürger-Bürger-Beziehung – im Sinne gegenseitiger Anerkennung von Freien und Gleichen – bleibt zentral für Verfassungspatriotismus.

Auch wer alle bisher vorgebrachten Argumente für Verfassungspatriotismus akzeptiert, mag nun vielleicht einwenden, dass seine Unfähigkeit, soziale Solidarität zu schaffen oder auch nur zu erhalten, ein gravierender Nachteil im Vergleich zum liberalen Nationalismus ist. Eine Trumpfkarte des Letzteren ist schließlich, dass auch diejenigen, welche dem Prinzip Nationalität keinen intrinsischen Wert verleihen wollen, doch nicht umhin können, seine instrumentelle Rolle anzuerkennen. Denn nur die Nation, so dieses Argument, motiviere Menschen, dauerhafte Opfer zu bringen; nur in Nationalstaaten, so die Verfechter dieser Position weiter, gebe es funktionierende Wohlfahrtsstaaten; und nur Nationalstaaten seien letztlich auch in der Lage, auf legitime Weise das ultimative Opfer – das des eigenen Lebens im Krieg – zu fordern.

Hier dürfen Vertreter des Verfassungspatriotismus keine unnötigen Konzessionen machen. Der konzeptionelle Zusammenhang zwischen Nationalität und Solidarität, den die liberalen Nationalisten voraussetzen, beruht auf der Annahme, dass nur auf irgendeine Weise „Gleichartige“ für einander Opfer zu bringen bereit sind. Dafür spricht einiges an empirischem Beweismaterial, aber auch vieles dagegen; als historische Wahrheit lässt es sich keinesfalls ausgeben. Es lässt sich nicht allgemein ein Zusammenhang zwischen Nationalbewusstsein und starkem Wohlfahrtsstaat konstruieren. Es ist richtig, dass bestimmte Formen von nationalem Selbstverständnis soziale Solidarität implizieren – aber anders als bei der von Verfechtern dieser Position gern bemühten Analogie zum Selbstverständnis von Familien, folgt aus Nationalität an sich nicht automatisch Solidarität.

Es mag durchaus der Fall sein, dass gewisse Formen nationalen Selbstverständnisses eine Verantwortung für andere, einem persönlich unbekannte Mitglieder der stets imaginierten Nation enthalten. Aber Staatsbürger sind nicht immer Mitglieder einer einzigen, homogenen Nation, und, anders als die Vertreter des liberalen Nationalismus dies suggerieren, wissen wir nur von Ersteren, dass sie Steuern zahlen und insbesondere Sozialabgaben leisten, so dass sich zumindest eine stillschweigende Zustimmung zum Prinzip des Einstehens füreinander daraus ableiten lässt. Es bliebe also nach wie vor empirisch zu beweisen (und normativ zu plausibilisieren), dass Nationalismus entweder intrinsisch oder instrumentell wertvoll ist – und das sich (eine gemeinsame materielle Verantwortlichkeit betonende Hintergrundtheorie vorausgesetzt) Solidarität nicht auch ohne geteilte kulturelle Partikularitäten gewinnen lässt.[4]

Völlig außer Acht bleibt bei den liberalen Nationalisten zudem die Möglichkeit, dass auch ein gestärktes Nationalbewusstsein problemlos mit einem Abbau des Sozialstaats einhergehen kann. Es lässt sich schwer bestreiten, dass dies beispielsweise in Großbritannien und in den USA während der achtziger Jahre der Fall war (und, im Falle der Vereinigten Staaten, einmal mehr im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts). Aber, so könnten die liberalen Nationalisten kontern, auch wenn es stimmt, dass Nationalismus nicht direkt soziale Solidarität generiert, braucht es nicht wenigstens ein Quantum gegenseitigen Vertrauens, um sozialstaatliche Einrichtungen dauerhaft zu legitimieren? Sind Bürger nicht nur dann bereit, füreinander einzustehen, wenn dieser implizite Sozialvertrag nicht einfach gebrochen werden kann? Und ist die Nation nicht immer noch der beste Garant gegenseitigen Vertrauens, gerade weil die Mitglieder einer Nation sich sicher sein können, dass ihnen persönlich unbekannte Mitglieder der Nation eben doch in einem relevanten Sinne genau wie sie sind?

So zeigt sich ein weiteres Mal, dass der liberale Nationalismus mehr oder weniger stillschweigend auf einen Begriff von Homogenität rekurriert – wenn er Vertrauen nicht gleich direkt aus der Abstammungsgemeinschaft (oder der geteilten Vorstellung davon) ableitet. Damit ist man aber einmal mehr bei der Feststellung angelangt, dass gewisse nationale Selbstverständnisse Solidarität fördern – und andere vielleicht eher nicht. Zudem kann es bei manchen kulturellen Gemeinschaften gerade die Tatsache sein, dass man die anderen kennt (oder doch zumindest zu kennen meint) und davon ausgeht, dass sie sich wo immer es geht Vorteile verschaffen, die dazu führt, dass man weniger Solidarität übt. Umgekehrt ist es aber nicht weniger plausibel zu argumentieren, dass Vertrauen sich gerade aus gemeinsamer Partizipation an einem reflexiven Projekt wie Verfassungspatriotismus ergeben kann – auch wenn das Verfolgen eines solchen Projekts unter Umständen konflikthaft ist. Es ist gerade kontinuierliche gemeinsame Praxis – nicht die Annahme gegebener gemeinsamer Identität -, welche Vertrauen schafft. Sicherlich sind auch viele Kontingenzen im Spiel, und es wäre naiv zu meinen, dass nicht gerade auch der Streit um Prinzipien zu dauerhaftem Misstrauen führen mag. Aber zumindest ist Verfassungspatriotismus sehr viel spezifischer als die von der philosophischen Gegenseite ins Feld geführte nationale Identität, und ein reflexiver, selbstkritischer Verfassungspatriotismus dürfte für einen Vertrauen dauerhaft zerstörenden Dissens weniger anfällig sein.

Der liberale Nationalismus – als eine Spielart von Kommunitarismus – beruht letztlich auf der Grundannahme, dass ethische Imperative aus geteilten Identitäten folgen: So wie aus dem Selbstverständnis als Eltern Pflichten gegenüber den eigenen Kindern folgen, ergeben sich angeblich aus nationaler Identität Pflichten zu sozialer Solidarität (und, nicht zuletzt, politischer Selbstbestimmung der Nation). Diese Analogie übersieht aber einmal mehr, dass zumindest historisch Sozialstaaten nicht deshalb entstanden sind, weil privilegiertere Schichten plötzlich entdeckten, dass sich aus ihrer Identität ethische Pflichten ergaben. Sozialstaaten sind das Resultat politischer Auseinandersetzungen (oder zumindest der Versuche, diese zu entschärfen); sie ergaben sich nicht aus gemeinsamer nationaler Identität, sondern mussten einigen Mitgliedern der Nation von anderen abgerungen werden. Zweifelsohne haben die geteilten Erfahrungen einer Bedrohung von außen oder auch eines gemeinsam, über Klassengrenzen hinweg geführten Krieges oft eine wichtige Rolle gespielt: der Labour-Politiker Dick Crossman bemerkte einmal, der britische Wohlfahrtsstaat sei ein „by-product of the Blitz“, also eine direkte Folge der gemeinsam erlebten Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland. Aber auch in diesem Fall ist es eben nicht so, dass sich ein Gefühl ethischer Verantwortlichkeit aus dem Vorhandensein nationaler Identität einfach ergeben hätte.

Insofern zeigt sich, dass der liberale Nationalismus ein apolitisches Verständnis von Ethik pflegt. Dass „Identitäten“ eine Rolle in der Geschichte spielen, lässt sich schwer bestreiten, dass sich aus diesen aber an sich – ohne Vermittlungen – auch bestimmte Ethiken ergeben, heißt, von der Wirklichkeit historischer Auseinandersetzungen völlig zu abstrahieren. Was dieser Vision eine gewisse Plausibilität verleiht, ist, dass es natürlich Beispiele für heroische Selbstaufopferung gibt, die sich primär als „national“ verstehen lassen – der Heldentod im Krieg ist immer noch das Bild, das die kommunitaristische Rede von der Opferbereitschaft für die nationale Gemeinschaft am besten zu illustrieren scheint. Nur ist dies immer noch etwas ganz anderes als die alltägliche Bereitschaft, zum Wohle Unbekannter Steuern zu zahlen.

[1] „Liberaler Nationalismus“ ist ein vor allem im englischsprachigen Raum geläufiger Begriff für die philosophische Position, ethische Pflichten – soziale Solidarität mit co-nationals, aber auch der Schutz der Nationalkultur – aus gemeinsamer Nationalität abzuleiten. Siehe vor allem David Miller, On Nationality (Oxford: Oxford University Press, 1995).

[2] Siehe George P. Fletcher, „Constitutional Identity“, in: Cardozo Law Review, Jg. 14 (1993), 737-46. Ein etwas anderer Gebrauch des Begriffs Verfassungskultur findet sich bei Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (Berlin: Duncker & Humblot, 1982).

[3] Tine Stein, „Gibt es eine multikulturelle Leitkultur als Verfassungspatriotismus? Zur Integrationsdebatte in Deutschland“, in: Leviathan, Jg. 36 (2008), 33-53; hier 35.

[4] Empirisches Beweismaterial für die Kompatibilität von multikultureller Politik (allerdings gerade in Verbindung mit einer all Kulturen übergreifenden politischen Identität) und wohlfahrtsstaatlicher Solidarität liefern Keith Banting und Will Kymlikca, Multiculturalism and the Welfare State: Recognition and Redistribution in Contemporary Democracies (New York: Oxford UP, 2006).

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