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Warum Deutschland einen gesetz­li­chen Mindestlohn braucht

aus: vorgänge Nr. 191, Heft 3/2010, S. 38-49

I. Einleitung

Während Deutschland lange für seine ausgeglichene Einkommensstruktur bekannt war, ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigung seit Mitte der 1990er Jahre deutlich gestiegen, wie mehrere Studien in den vergangenen Jahren übereinstimmend gezeigt haben (vgl. z.B. Rhein/Stamm 2006; Bosch/Kalina 2007; Bosch u. a. 2008; Kalina/Weinkopf 2008, 2009 und 2010). Umstritten ist hingegen, ob die Zunahme von Niedriglohnjobs politischen Handlungsbedarf signalisiert: Braucht Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn oder sind branchenbezogene Mindestlöhne der bessere Weg? Oder sollte man die Lohnfindung grundsätzlich dem Markt und den Tarifpartnern überlassen und selbst die bestehenden branchenbezogenen Mindestlöhne auf den Prüfstand stellen, wie dies im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vereinbart wurde?

Analysiert wird im Folgenden die Entwicklung der Niedriglohnbeschäftigung zwischen 1995 und 2008. Außerdem wird auch auf die strukturellen Merkmale der Betroffenen sowie die Lohnentwicklung innerhalb des Niedriglohnsektors eingegangen. Vor allem die zunehmende Ausdifferenzierung der Löhne nach unten spricht dafür, dass es dringend einer verbindlichen Lohnuntergrenze bedarf, um der zunehmenden „Unordnung“ im Niedriglohnsektor entgegenzuwirken.

II. Entwicklung der Niedrig­lohn­be­schäf­ti­gung

Analysen zur Niedriglohnbeschäftigung können mit unterschiedlichen Datensätzen durchgeführt werden. Hier wurde das sozioökonomische Panel des DIW (SOEP) verwendet, das Längsschnittanalysen ermöglicht und z. B. im Vergleich zu Daten der Bundesagentur für Arbeit den Vorteil bietet, dass auch Teilzeitbeschäftigte einbezogen werden können. Die Berechnungen beziehen sich auf alle abhängig Beschäftigten (einschließlich sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit und Minijobs). Bestimmte Kategorien von Beschäftigten, für die sich Stundenlöhne nicht sinnvoll berechnen lassen oder für die spezielle Entlohnungsregelungen gelten, wurden aus der Analyse ausgeklammert.[1] Ebenfalls ausgeschlossen wurden Schüler/innen, Studierende und Rentner/ innen, weil diese Gruppen üblicherweise nur einer Nebenbeschäftigung nachgehen. Diese Vorgehensweise führt dazu, dass die Ergebnisse zum Umfang des Niedriglohnsektors in Deutschland diesen eher unter- als überschätzen.

Als Niedriglohnschwelle wird der OECD-Standard von zwei Drittel des Medianlohns verwendet. Wegen der erheblichen Lohnunterschiede wurden für Ost- und Westdeutschland getrennte Niedriglohnschwellen berechnet. Dieser Ansatz stellt sicher, dass die Strukturanalysen nicht durch die Einbeziehung eines großen Teils des ostdeutschen Arbeitsmarktes verzerrt werden.[2] Die Niedriglohnschwellen lagen im Jahre 2008 in Westdeutschland bei 9,50 € und in Ostdeutschland bei 6,87 € brutto pro Stunde. Unsere Berechnungen für 2008 haben ergeben, dass in Westdeutschland 20,8 Prozent und in Ostdeutschland 20,1 Prozent der Beschäftigten Stundenlöhne unterhalb der jeweiligen Niedriglohnschwelle erhielten. Der gesamtdeutsche Niedriglohnanteil betrug somit 20,7 Prozent (im Vergleich zu 21,5 Prozent im Jahr 2006 und 21,0 Prozent im Jahr 2007).[3]

Abbildung 1 gibt zunächst einen Überblick über die zeitliche Entwicklung des Anteils der Niedriglohnbeschäftigten an allen abhängig Beschäftigten zwischen 1995 und 2008. Dabei zeigt sich, dass die Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland bis 2006 deutlich zugenommen hat (vgl. auch Bosch u. a. 2008), aber seitdem stagniert bzw. in Ostdeutschland zuletzt sogar leicht zurückgegangen ist. Die Zahl der betroffenen Beschäftigten hat sich allerdings in den vergangenen zehn Jahren immer weiter erhöht: Im Jahr 2008 arbeiteten 6,55 Millionen Beschäftigte in Deutschland für Niedriglöhne und damit 240.000 mehr als noch 2006. Im Vergleich zu 1998 ist die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten um fast 2,3 Millionen gestiegen, was einer Zunahme um mehr als 50 Prozent entspricht. Gut jede/r fünfte Beschäftigte arbeitet in Deutschland inzwischen für einen Niedriglohn, was auch im internationalen Vergleich ein hoher Wert ist und nur noch knapp unter dem Anteil von ca. 25 Prozent Niedriglohnbeschäftigung in den USA liegt (Mason/Salverda 2010).

II.1 Struktur der Niedrig­lohn­be­schäf­tigten

Grundsätzlich ist bei Analysen zur Struktur der Niedriglohnbeschäftigten zu unterscheiden, welche Personengruppen ein besonders hohes Risiko haben, für Niedriglöhne zu arbeiten, und wie sich der Niedriglohnsektor zusammensetzt. Dies wird in der öffentlichen Diskussion häufig miteinander vermischt, was nicht selten auch zu falschen Schlüssen führt. So wird z.B. oft behauptet, Beschäftigte im Niedriglohnsektor seien meist gering qualifiziert, was aber tatsächlich unzutreffend ist. Zwar haben gering Qualifizierte ein hohes Risiko, für einen Niedriglohn zu arbeiten, aber die große Mehrheit der Niedriglohnbeziehenden hat eine abgeschlossene Berufsausbildung. Tabelle 1 gibt für die Jahre 1995 und 2008 im Vergleich einen Überblick zu beiden Aspekten – der Betroffenheit von Niedriglöhnen nach Beschäftigtengruppen und zur Struktur der Niedriglohnbeschäftigten. In den mittleren Spalten der Tabelle ist dargestellt, wie hoch der Anteil von Niedriglöhnen in der jeweiligen Gruppe war: Hier zeigt sich z.B. für 2008, dass Frauen mit 29,9 Prozent ein wesentlich höheres Niedriglohnrisiko hatten als Männer mit 12,2 Prozent. Die beiden rechten Spalten der Tabelle weisen demgegenüber aus, wie hoch der Anteil der jeweiligen Beschäftigtengruppen am gesamten Niedriglohnsektor ist. Hier wird deutlich, dass ein hohes Niedriglohnrisiko von bestimmten Personengruppen nicht zwingend bedeutet, dass diese Gruppen auch im Niedriglohnsektor die Mehrheit stellen. Z. B. haben Ausländer/innen zwar ein deutlich höheres Niedriglohnrisiko als Deutsche, mit 86,2 Prozent hat aber die große Mehrheit der Niedriglohnbeziehenden die deutsche Staatsbürgerschaft. Wir gehen im Folgenden auf einige zentrale Ergebnisse zur Struktur der Niedriglohnbeschäftigten genauer ein.

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Abbildung 1: Anteil der Niedriglohnbeschäftigten unter abhängig Beschäftigten – differenzierte Niedriglohnschwellen für Ost- und Westdeutschland (inklusive Teilzeit und Minijobs, in Prozent)
Quelle: SOEP 2008, eigene Berechnungen.

Qualifikation
Ein Ausbau des Niedriglohnsektors wird vielfach für notwendig gehalten, um gering Qualifizierten, die ansonsten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen blieben, überhaupt Beschäftigungschancen zu eröffnen. Tatsächlich zeigen unsere Auswertungen, dass gering Qualifizierte von Niedriglöhnen überproportional und auch zunehmend betroffen sind. Unter allen Niedriglohnbeschäftigten stellten gering Qualifizierte 2008 jedoch nur noch gut ein Fünftel und damit auch einen deutlich geringeren Anteil als noch Mitte der 1990er Jahre. Bei der großen Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten handelt es sich demgegenüber um Personen mit beruflicher Ausbildung oder akademischem Abschluss; beide Gruppen zusammen machten 2008 über 80 Prozent der gering Verdienenden aus. Die deutliche Steigerung des Niedriglohnanteils im Vergleich zu 1995 geht dabei allein auf die Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung zurück. Ihr Niedriglohnrisiko hat sich fast verdoppelt und ihr Anteil am Niedriglohnsektor ist von 63,4 Prozent auf fast 72 Prozent deutlich gestiegen.

XXXXX Tabelle
Tabelle 1: Niedriglohnanteil und Anteil am Niedriglohnsektor nach Beschäftigtengruppen (Deutschland, alle abhängig Beschäftigten, getrennte Niedriglohnschwellen für Ost- und Westdeutschland, in Prozent)

Mittlerweile sind also vier von fünf Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland formal qualifizierte Beschäftigte – ein auch im internationalen Vergleich extrem hoher Wert. So haben etwa in den USA rund 70 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten keinen oder nur einen High School Abschluss, also ein Bildungsniveau unterhalb einer abgeschlossenen beruflichen Ausbildung in Deutschland (CBO 2006: 18; Appelbaum u. a. 2003). Dieser markante Unterschied im Qualifikationsprofil der Niedriglohnbeschäftigten dürfte zum einen der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland und den Arbeitsmarktreformen geschuldet sein, die den Druck, eine gering bezahlte Tätigkeit anzunehmen, auch für gut Qualifizierte erhöht haben. Zum anderen ist die Gruppe der formal gering Qualifizierten in Deutschland durch das ausgebaute System der beruflichen Bildung im internationalen Vergleich relativ klein.

Geschlecht
2008 arbeiteten weibliche Beschäftigte mehr als doppelt so häufig für Niedriglöhne wie Männer; fast jede dritte erwerbstätige Frau war von einem Niedriglohn betroffen. Das Niedriglohnrisiko ist im Vergleich zu 1995 für beide Geschlechter gestiegen; besonders deutlich jedoch bei den Männern: Ihr Niedriglohnrisiko hat sich zwischen 1995 und 2008 um mehr als 50 Prozent erhöht (von 8 auf 12,2 Prozent). Dies hat allerdings nicht dazu geführt, dass sich die geschlechtsspezifische Struktur der Niedriglohnbeschäftigung verändert hätte. Nach wie vor sind mehr als zwei von drei Niedriglohnbeschäftigten weiblich – und der Frauenanteil hat sich aktuell (2008) im Vergleich zu 1995 nochmals leicht erhöht. Differenziert nach Ost- und Westdeutschland lassen sich deutliche Unterschiede ausmachen: Während in Westdeutschland Frauen im Zeitraum 2004 bis 2007 sogar 71,3 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten stellten, waren es in Ostdeutschland mit 57,7 Prozent deutlich weniger (Bosch u. a. 2009).

Alter
Niedriglöhne haben zwischen 1995 und 2008 in allen Altersgruppen an Bedeutung gewonnen; am stärksten ausgeprägt war die Zunahme jedoch in der Gruppe der Unter 25jährigen (plus 20,1 Prozentpunkte). Dass dies nicht zu einer merklichen Veränderung in der Altersstruktur der Niedriglohnbeschäftigten geführt hat, liegt vor allem daran, dass der Anteil der Jüngeren an den Beschäftigten insgesamt gesunken ist. Der Großteil der Niedriglohnbeschäftigten stammt aus den mittleren Altersgruppen zwischen 25 und 54 Jahre; sie stellten im Jahr 2008 69,2 Prozent der gering Verdienenden.

Beschäftigungsform
Während im Jahr 1995 Vollzeitbeschäftigte mit einem Anteil von gut 61 Prozent noch die deutliche Mehrheit der Niedriglohnbeschäftigten stellten, ist ihr Anteil bis 2008 auf knapp 45 Prozent gesunken. Entsprechend ist der Anteil von Teilzeitbeschäftigten und Minijobber/innen auf gut 55 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten gestiegen, obwohl ihr Anteil an allen Beschäftigten deutlich niedriger liegt. Besonders stark ist der Anteil der Minijobs, bei denen Niedriglöhne fast die Regel sind, gestiegen. Er hat sich zwischen 1995 und 2008 fast verdoppelt, was vor allem auf die wachsende Zahl der Minijobs zurückzuführen ist. Der Rückgang des Anteils von Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor bedeutet allerdings nicht, dass diese im Jahr 2008 im geringeren Maße als 1995 von Niedriglöhnen betroffen waren. Vielmehr ist auch das Niedriglohnrisiko von Vollzeitbeschäftigten gestiegen.

Insgesamt ist festzuhalten, dass vor allem Minijobber/innen, aber auch Unter-25jährige, befristet Beschäftigte, gering Qualifizierte, Ausländer/innen und Frauen deutlich überproportional von Niedriglöhnen betroffen sind. Gegenüber 1995 ist der Niedriglohnanteil in allen Beschäftigtengruppen gestiegen. Niedriglöhne konzentrieren sich allerdings nicht auf atypische Beschäftigte oder besondere Personengruppen. Vielmehr sind mit qualifizierten Beschäftigten, den mittleren Altersgruppen, Vollzeit- und unbefristet Beschäftigten zunehmend auch die Kerngruppen des Beschäftigungssystems betroffen (vgl. ausführlicher Kalina/Weinkopf 2008).

II.2 Deutliche Lohnsprei­zung nach unten

Während in den meisten EU-Ländern gesetzliche Mindestlöhne der Ausdifferenzierung des Lohnspektrums nach unten Grenzen setzen, ist dies in Deutschland bislang nicht der Fall. Daher können hierzulande Niedrigstlöhne auch weit unterhalb der Niedriglohnschwellen gezahlt werden, die in vielen anderen Ländern unzulässig sind.

Erste Hinweise darauf, dass innerhalb des Niedriglohnsektors besonders geringe Stundenlöhne an Bedeutung gewonnen haben, liefert ein Blick auf die Entwicklung der durchschnittlichen im Niedriglohnsektor erzielten Stundenlöhne. Diese lagen 2008 mit 7,09 € in West- und 5,18 € in Ostdeutschland weit unter den Niedriglohnschwellen. Zudem waren die Durchschnittslöhne im Niedriglohnsektor zwischen 2004 und 2006 deutlich rückläufig und lagen im Jahr 2008 in West- und Ostdeutschland noch unter dem Wert von 2004. Inflationsbereinigt waren die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor 2008 in beiden Landesteilen sogar um rund 0,40 € niedriger als noch 1995 (5,79 € im Vergleich zu 6,16 € in West- und 4,23 € im Vergleich zu 4,67 € in Ostdeutschland).

Ein Absinken des Durchschnittslohns im Niedriglohnsektor kann einerseits bedingt sein durch eine Verringerung der Niedriglohnschwelle und andererseits durch eine Zunahme der Zahl der Beschäftigten, die für besonders niedrige Löhne arbeiten. Da sich die Niedriglohnschwellen in den vergangenen Jahren kaum verändert haben, sind hierfür offenbar eher sinkende Löhne im Niedriglohnsektor maßgeblich.[5] Dass sich auch besonders niedrige Löhne ausgeweitet haben, belegt Abbildung 2, die zusätzlich zur Entwicklung der Jobs unterhalb der Niedriglohnschwelle von zwei Drittel des Medians auch den Beschäftigungsanteil bezogen auf weitere (niedrigere) Schwellen zeigt: Während im Jahr 1995 etwa 5,7 Prozent aller abhängig Beschäftigten weniger als 50 Prozent des Medians verdienten, waren es 2006 und 2007 schon fast 10 Prozent. Im Jahr 2008 ist der Anteil zwar auf 8,8 Prozent gesunken, aber es bleibt abzuwarten, wie sich dies weiter entwickelt hat. Selbst beim Anteil der Beschäftigten, die weniger als ein Drittel des Medians verdienten, ist im Vergleich zu 1998 ein leichter Zuwachs erkennbar. Während für die Analyse der Entwicklung von Niedrigstlöhnen im Zeitverlauf die relativen Werte am geeignetsten sind, haben wir für das Jahr 2008 auch die Verteilung der Stundenlöhne im Niedriglohnbereich nach Stundenlohnstufen ausgewertet, die besser verdeutlicht, um welche Löhne es hierbei konkret geht (Tabelle 2). Ausgehend von der eingangs definierten Grundgesamtheit zeigt diese Berechnung, dass 3,6 Prozent der Beschäftigten (1,15 Millionen) weniger als 5 € brutto pro Stunde und gut 2,1 Millionen (6,7 Prozent) weniger als 6 € verdienten.[6]

XXXXXX Grafik
Abbildung 2: Anteil Niedriglohnbeschäftigte an allen Beschäftigten bei verschiedenen Schwellenwerten (Deutschland, abhängig Beschäftigte, inkl. Teilzeit und Minijobs)
Quelle: SOEP2008, eigene Berechnungen.

XXXXX Tabelle
Tabelle 2: Verteilung der Stundenlöhne im Niedriglohnbereich, Deutschland 2008 (abhängig Beschäftigte, inkl. Teilzeit und Minijobs)

Eine weitere ost-west-differenzierte Auswertung hat gezeigt, dass extrem niedrige Stundenlöhne in Ostdeutschland besonders verbreitet sind: Etwa jede/r achte ostdeutsche Beschäftigte (12,8 Prozent) verdiente 2008 weniger als 6 € . Aber auch in Westdeutschland liegt dieser Anteil bei immerhin 5,4 Prozent der Beschäftigten. Niedrigstlöhne sind also keineswegs ein rein ostdeutsches Phänomen (Kalina/Weinkopf 2010).

Selbst bei einer Vollzeitbeschäftigung liegt der monatliche Verdienst bei solchen Stundenlöhnen unter 1.000 € brutto und netto allenfalls etwas höher als die Hartz IV Leistungen (einschließlich Wohnkosten) für Alleinstehende.

III. Warum Deutschland eine verbind­liche Lohnun­ter­grenze braucht

Unsere Analyse hat gezeigt, dass der Niedriglohnsektor in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Im Jahr 2008 arbeitete mehr als jede/r fünfte Beschäftigte für Stundenlöhne unterhalb der Niedriglohnschwelle, was auch im internationalen Vergleich besonders ausgeprägt ist. In Frankreich war der Niedriglohnanteil im Jahr 2005 mit 11,1 Prozent z. B. nur etwa halb so hoch wie in Deutschland; in Dänemark war noch nicht einmal jede/r zehnte Beschäftigte von Niedriglöhnen betroffen (8,5 Prozent). In Großbritannien war der Niedriglohnanteil 2005 zwar ähnlich hoch wie in Deutschland (Mason/Salverda 2010: 37), aber die Ausdifferenzierung der Löhne nach unten wird hier durch den gesetzlichen Mindestlohn begrenzt, der im Jahr 2009 bei knapp 53 Prozent des dortigen Medians lag.[7] Kein anderes Land hat in den vergangenen Jahren zudem eine derartige Ausdifferenzierung der Löhne nach unten wie Deutschland erlebt.

Als Schutzmechanismen gegen das Ausfransen des Lohnspektrums am unteren Rand wirken in anderen Ländern verbindliche Lohnuntergrenzen in Form gesetzlicher Mindestlöhne oder eine hohe Tarifbindung (bzw. Allgemeinverbindlichkeit tariflicher Standards) oder auch eine Kombination aus beidem. Deutschland hat hingegen weder das eine noch das andere. Die Tarifbindung ist insgesamt in den vergangenen Jahren deutlich rückläufig (Ellguth/Kohaut 2010) und branchenbezogene Mindestlöhne gelten bislang nur für einen kleinen Teil der Beschäftigten. Dies liegt vor allem daran, dass viele Branchen die Voraussetzung für eine Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz – eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent der Beschäftigten – nicht erfüllen oder sich die Tarifvertragsparteien hinsichtlich der Notwendigkeit von Mindestlöhnen nicht einig sind.[8] Mit dem „Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen“ wurde zwar im Jahr 2009 von der damaligen Großen Koalition auch eine zusätzliche Option zur Festlegung von branchenbezogenen Mindeststandards in anderen Branchen mit geringerer Tarifbindung geschaffen, die aber bislang nicht genutzt worden ist. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass die neue Bundesregierung (insbesondere die FDP) eine eher kritische Haltung zu Mindestlöhnen hat und im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist, alle branchenbezogenen Mindestlöhne bis Herbst 2011 auf den Prüfstand zu stellen. Nachteile des Weges, ausschließlich auf branchenbezogene Mindeststandards zu setzen, sind vor allem darin zu sehen, dass zahlreiche weiße Flecken ohne Lohnuntergrenzen verbleiben, was auch die Frage aufwirft, warum in manchen Branchen Mindestlöhne gelten, während für andere (fast) keinerlei Regelungen gelten. Darüber hinaus ist die Durchsetzung und Kontrolle unterschiedlich hoher Mindestlöhne sehr aufwändig – auch weil viele Beschäftigte dann nicht genau wissen, welches ihr Mindestanspruch ist.

Obwohl viele andere Länder gute Erfahrungen mit gesetzlichen Mindestlöhnen haben und selbst in den USA eine (wenngleich im internationalen Vergleich relativ niedrige) Lohnuntergrenze existiert, werden in Deutschland unterschiedliche Argumente gegen einen gesetzlichen Mindestlohn vorgebracht: So wird vor allem von den Wirtschaftsforschungsinstituten auf drohende Beschäftigungsverluste verwiesen, wobei das Spektrum der Prognosen allerdings von ca. 140.000 bis hin zu mehreren Millionen Arbeitsplätzen reicht, was zeigt, wie stark die Ergebnisse dadurch beeinflusst werden, welche Annahmen jeweils zugrunde gelegt werden. Außer acht bleibt hierbei auch, dass die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Großbritannien nicht zu Beschäftigungsverlusten geführt hat. In Deutschland wird zudem auch – selbst von Gruppen, die sich hierum traditionell eher wenig sorgten – auf die Gefahr einer Schwächung des Tarifvertragssystems verwiesen, obwohl branchenbezogene tarifliche Mindeststandards und ein gesetzlicher Mindestlohn sich keineswegs ausschließen, sondern sich gut ergänzen können. Ein gesetzlicher Mindestlohn zöge eine untere Lohngrenze, die in keiner Branche unterschritten werden darf; die Tarifvertragsparteien könnten aber branchenspezifisch höhere Standards vereinbaren.

Gegen Mindestlöhne wird auch vorgebracht, dass man die Lohnfindung alleine dem Markt überlassen müsse, während die Kompensation niedriger Löhne, die nicht ausreichen, um das haushaltsbezogene Existenzminimum zu decken, Aufgabe des Staates sei. In Großbritannien sieht man dies anders: Ein gewichtiges Argument für die Einführung des britischen Mindestlohns im Jahr 1999 war, dass der Staat nicht die Ausfallbürgschaft für Niedrigstlöhne übernehmen kann und will (Bosch/Weinkopf 2006). In Deutschland sind dem bislang hingegen keine Grenzen gesetzt. Die Ausgaben für Bedarfsgemeinschaften, deren Erwerbseinkommen nicht ausreicht, um ihren Bedarf zu decken und die darum Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II haben, lagen im Jahr 2009 bei knapp 11 Milliarden € (Deutscher Bundestag 2010). Obwohl nicht Existenz sichernde Erwerbseinkommen auch an kurzen Arbeitszeiten oder einem hohen Bedarf z.B. aufgrund mehrerer Kinder liegen können, spielen offenbar oftmals auch geringe Löhne eine wichtige Rolle, wie eine Studie des IAB belegt (Dietz u. a. 2009). Danach verdienten fast 30 Prozent der west- und fast 40 Prozent der ostdeutschen Aufstocker/innen weniger als 5 € brutto pro Stunde. Weniger als 7,50 € pro Stunde erhielten knapp 58 Prozent der west- und deutlich mehr als drei Viertel der ostdeutschen erwerbstätigen Hilfebedürftigen. Eine eigene Auswertung der durchschnittlichen und mittleren Stundenlöhne von Aufstocker/innen auf der Basis des SOEP 2008, in der wir auch nach der Art der Beschäftigung differenziert haben, deutet darauf hin, dass vor allem geringfügig Beschäftigte extrem niedrige durchschnittliche und mittlere Stundenlöhne haben. Aber auch bei Vollzeitbeschäftigten liegen diese noch (teils deutlich) unter der westdeutschen Niedriglohnschwelle. Dies spricht dafür, dass sich der finanzielle Aufwand für aufstockende Leistungen zweifellos deutlich reduzieren ließe, wenn es auch in Deutschland eine verbindliche Lohnuntergrenze gäbe. Selbst wenn viele Teilzeitbeschäftigte auch bei höheren Stundenlöhnen nicht gänzlich aus dem Bezug von aufstockenden Leistungen des SGB II ausscheiden würden, könnten sie zumindest einen größeren Teil ihres Bedarfes selbst erwirtschaften und hätten damit auch bessere Chancen, durch eine Erhöhung ihrer Arbeitszeit aus dem Hilfebezug herauszukommen.

Zugunsten eines gesetzlichen Mindestlohnes lassen sich noch zahlreiche weitere Argumente anführen (vgl. aus ökonomischer Sicht z.B. Kaufman 2010 und zu neueren empirischen US-amerikanischen Studien, die bislang in Deutschland kaum Beachtung gefunden haben, Bosch u. a. 2009). Die deutsche Bevölkerung muss man hiervon nicht mehr überzeugen; die Meinung, dass zumindest Vollzeitbeschäftigte so entlohnt werden sollten, dass Alleinstehende davon ihren Lebensunterhalt bestreiten können, ohne ergänzende finanzielle Hilfen in Anspruch nehmen zu müssen, findet breite Unterstützung. In mehreren Umfragen hat sich die große Mehrheit für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ausgesprochen (vgl. z.B. Bieräugel u. a. 2010); und selbst Anhänger/innen der Regierungsparteien unterstützen mehrheitlich gesetzliche oder branchenbezogene Lohnuntergrenzen (Infratest dimap 2009). In jüngster Zeit haben sich selbst Institutionen und Persönlichkeiten, die lange Zeit eher zu den Gegner/innen zählten, wie etwa die Bertelsmann-Stiftung (Eichhorst u. a. 2010) und der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ausgesprochen (Frankfurter Rundschau 2010).

Dies wäre ein guter Anlass, sich endlich der Frage zuzuwenden, wie man die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland am besten vorbereiten und ausgestalten kann, statt immer weiter über das „ob“ zu streiten. Hierbei lässt sich zwar viel aus den britischen Erfahrungen lernen, aber es wären auch einige für Deutschland spezifische Aspekte zu klären. Dies betrifft z.B. die Frage, ob es angesichts der nach wie vor erheblichen Lohnunterschiede in Ost- und Westdeutschland zumindest für eine gewisse Übergangszeit differenzierter Lohnuntergrenzen bedarf. Sozialpolitisch wäre das schwer zu rechtfertigen, aber wenn man auf eine solche Differenzierung verzichten würde, würde ein gesamtdeutscher Mindestlohn vermutlich so niedrig festgesetzt, dass in Westdeutschland die Gefahr bestünde, dass es in manchen Branchen eher einen weiteren Sog des Lohnniveaus nach unten gäbe. Und auch über das angemessene Niveau gesetzlicher Mindestlöhne wäre weiter zu diskutieren.

In Großbritannien lag es im Jahr 1999 – sowohl absolut (mit 3,60 £) als auch gemessen am Anteil des Medians (mit 47,5 Prozent) – zunächst vergleichsweise niedrig, wurde aber in den Folgejahren deutlich erhöht. Aktuell liegt der britische Mindestlohn bei 5,80 £ und damit um deutlich mehr als die Hälfte höher als bei seiner Einführung. Relativ zum Median wurde dessen Wert bis 2009 zwar in wesentlich geringerem Maße, aber um immerhin fast 5 Prozentpunkte auf fast 53 Prozent gesteigert (vgl. Grimshaw u. a. 2010). Begründet wurde diese Stufen-Strategie damit, dass Unternehmen die Möglichkeit gegeben werden sollte, sich auf Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns einzustellen – etwa durch eine verstärkte Qualifizierung für die betroffenen Beschäftigten oder auch durch Veränderungen der Arbeitsorganisation.

Was hieße dies für Deutschland? Wenngleich teilweise von einem eher niedrigen Niveau von z. B. 5 €  als Einstiegsniveau für einen gesetzlichen Mindestlohn die Rede ist, verweisen die bisher vereinbarten Mindestlöhne auf Branchenebene darauf, dass Spielraum auch für höhere Mindestentgelte besteht. Die niedrigsten branchenbezogenen Mindestlöhne, die vom zuständigen Arbeitgeberverband und der IG Metall einvernehmlich für Großwäschereien im Objektkundengeschäft festgelegt worden sind, liegen aktuell bei 7,65 € in Westdeutschland und 6,50 €  in Ostdeutschland. Für die Pflege wurden kürzlich Untergrenzen von 7,50 € pro Stunde in Ost- und 8,50 € in Westdeutschland vereinbart, die seit August 2010 verbindlich sind. Die höchsten geltenden unteren Mindestlöhne in anderen Branchen wie dem Bauhauptgewerbe in Westdeutschland (10,80 € ) und dem Dachdeckerhandwerk (10,40 € bundesweit) liegen demgegenüber erheblich höher.[9]

[1] Ausgeschlossen wurden Selbständige und Freiberufler/innen, mithelfende Familienangehörige, Auszubildende, Praktikant/innen, Personen in Umschulung und Rehabilitation, Personen in Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen, Beschäftigte in Behindertenwerkstätten, Wehrund Zivildienstleistende sowie Beschäftigte in Altersteilzeit.

[2] Für einen Vergleich zwischen einer einheitlichen und zwei getrennten Niedriglohnschwellen vgl. Kalina/Weinkopf 2010.

[3] Berechnet man hingegen eine bundeseinheitliche Niedriglohnschwelle, so liegt diese für 2008 bei 9,06 € pro Stunde und der Niedriglohnanteil für Deutschland insgesamt bei 21,5 Prozent. Der Anteil der Niedriglohnbeschäftigung in Ostdeutschland ist hierbei mit 39,3 Prozent weitaus höher als in Westdeutschland (17,9 Prozent).

[4] War keine Information zum Ausbildungsniveau verfügbar, wurde angenommen, dass diese Fälle anteilsproportional auf alle Ausbildungsniveaus verteilt sind (vgl. zu dieser Vorgehensweise auch Reinberg/Hummel 2002 und Reinberg/Schreyer 2003).

[5] Die Niedriglohnschwellen sind seit Mitte der 1990er Jahre nur leicht gestiegen: in Westdeutschland von 8,35 € auf 9,50 € und in Ostdeutschland von 5,77 € auf 6,87 € . Seit 2004 stagnieren die Niedriglohnschwellen in Ost- (zwischen 6,81 € und 7,05 € ) und Westdeutschland (zwischen 9,39 € und 9,58 € ).

[6] Bezieht man Schüler/innen, Studierende und Rentner/innen sowie Nebenjobs ein, ergibt sich noch ein weitaus größerer Anteil von Beschäftigten in den unteren Stundenlohngruppen. Immerhin gut 1,8 Millionen Beschäftigte verdienten weniger als 5 € pro Stunde und mehr als 3,3 Millionen weniger als 6 € . Dies entspricht fast 10 Prozent aller Beschäftigten. Für weniger als 8,50 € arbeiteten 2008 fast 7,9 Millionen Beschäftigte (23 Prozent).

[7] Bezogen auf Westdeutschland entspräche dies einer Lohnuntergrenze von 7,51 € und in Ostdeutschland von 5,43 € .

[8] In einigen Fällen haben sich die Tarifparteien zwar bereits vor längerer Zeit auf Mindestlöhne geeinigt (z.B. in der Zeitarbeitsbranche), aber ihr Antrag ist bislang aus unterschiedlichen Gründen nicht bewilligt worden.

[9] Nicht berücksichtigt wurde hierbei der mit etwa 2.500 Beschäftigten sehr kleine Bereich der Bergbauspezialdienste, in dem ein noch höherer unterer Mindestlohn von 11,17 € für das gesamte Bundesgebiet gilt.

Literatur

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