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Neue Landnahme?

Der Kapitalismus in der ökologisch-ökonomischen Doppelkrise,

aus: vorgänge Nr. 191, Heft 3/2010, S. 80-91

Eben noch von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gebeutelt, scheint das „Modell Deutschland“ derzeit in neuem Glanz zu erstrahlen. Trotz des tiefsten wirtschaftlichen Einbruchs seit 1949 konnte ein dramatisches Ansteigen der Massenarbeitslosigkeit verhindert werden. Mehr noch, seit die Konjunktur sich belebt, sinkt die Arbeitslosigkeit, Wachstumsprognosen werden nach oben korrigiert und mitunter ist gar von Vollbeschäftigung die Rede. War die globale Wirtschafts- und Finanzkrise also doch nur ein Sturm im Wasserglas? Kam sie zur rechten Zeit, um gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu korrigieren? Und hat der „gute Kapitalismus“[1] nun doch wieder eine Chance? Um es vorab zu sagen: Ich hege Zweifel. Zwar kann progressive Reformpolitik zumindest in für sie günstigen historischen Phasen in einen besseren Kapitalismus münden, doch das Leitbild eines „guten Kapitalismus“ führt analytisch wie politisch in die Irre. Stattdessen gilt, dass selbst Reformpolitiken im Kapitalismus nur dann eine Chance besitzen, wenn ihnen eine Kritik den Weg ebnet, die den expansionistischen „Urtrieb“ des Kapitalismus ins Visier nimmt.

I. Was bedeutet kapita­lis­ti­sche Landnahme?

Zur Begründung dieser Sichtweise sei zunächst das Theorem kapitalistischer Landnahmen skizziert. Nach der hier vertretenen Auffassung lässt sich der Kapitalismus nicht auf ein gesellschaftliches Teilsystem, auf die Wirtschaft reduzieren. Es handelt sich um eine Gesellschaftsformation in der das ökonomische Funktionssystem allen anderen Sektoren eine spezifische social order, eine Basisregel aufherrscht.[2] Auf die Formel GW-G‘ gebracht, drückt diese Basisregel aus, dass es sich beim Kapitalismus im Grunde um ein „absurdes System“ handelt, in welchem die große Masse der Produzenten ihre Eigentumsrechte an den erzeugten Produkten verloren hat, während die vergleichsweise kleine Zahl von Kapitalisten an einen abstrakten, von konkreten Konsumbedürfnissen und Gebrauchswerten vollständig abgekoppelten Prozess gekettet bleibt, der ausschließlich auf die Selbstverwertung von Wert, auf die Mehrung von Kapital um seiner selbst Willen zielt.[3] Dennoch gelingt es immer wieder, nicht nur die Kapitalisten, sondern die breite Masse für eine Beteiligung an diesem System zu motivieren. Offenbar stattet ein besonderer „Geist des Kapitalismus“ die Erwerbsarbeit wie auch andere systemfunktionale Aktivitäten mit Sinn aus. Individuen und soziale Gruppen eignen sich jene Motivationen, Techniken, Denk- und Handlungsschemata an, die sie in ihrer konkreten Lebenssituation überhaupt erst handlungsfähig machen. Dies kann gelingen, weil zwischen Handlungsmotiven der gesellschaftlichen Akteure und den systemischen Erfordernissen der Kapitalreproduktion Institutionensysteme und Regulationsweisen vermitteln, die den kapitalistischen Akteuren unter den Bedingungen spezifisch-historischer Kräfteverhältnisse bestimmte Handlungsstrategien nahe legen und andere eher unwahrscheinlich machen.

Diese Minimaldefinition kapitalistischer Gesellschaftsformationen wäre jedoch unvollständig, wenn nicht eine weitere Bestimmung hinzugefügt würde: Kapitalismus kann sich nicht entwickeln, ohne fortwährend „neues Land“ in Besitz zu nehmen und soziale Akteure in diesen Landnahmeprozessen zu systemfunktionalem Handeln zu motivieren.[4] Kapitalistische Entwicklung ist somit beständig auf die Okkupation eines „Außen“, eines nichtkapitalistischen Anderen angewiesen. Diese Dialektik, die Marx in seiner Skizze zur ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zu einem historisch begrenzten Übergangsphänomen erklärte, ist von so unterschiedlichen Theoretikerinnen wie Rosa Luxemburg und Hannah Arendt als konstitutives Merkmal jeglicher kapitalistischer Entwicklung beschrieben worden. Danach besitzen Landnahmeprozesse stets ein Doppelgesicht. Die eine Entwicklung setzt sich in den Produktionsstätten des Mehrwerts, in den Fabriken, der durchkapitalisierten Landwirtschaft und auf den Warenmärkten durch. Hier reproduziert sich der Kapitalismus weitgehend auf seinen eigenen Grundlagen. Die andere Entwicklung bricht sich in Austauschbeziehungen zwischen der Kapitalakkumulation einerseits und nichtkapitalistischen Produktionsweisen und Territorien anderseits Bahn. Landnahme ist nach dieser Auffassung ein ständiger Prozess, der darauf zielt, die Grenzen kapitalistischer Akkumulation, die durch „äußere“ Märkte, durch menschliche und außermenschliche Natur gesetzt werden, zu verschieben und zumindest zeitweilig zu überwinden. Kapitalistische Entwicklung beinhaltet somit einen strukturellen Wachstumszwang. Der einzelne Kapitalist kann nur bei Strafe seines eigenen Untergangs darauf verzichten, seine Produktionsmittel beständig zu verbessern und seinen Output zu erweitern. Die Gesamtproduktion tendiert permanent dazu, der zahlungsfähigen Nachfrage vorauszueilen und die stoffliche Produktfülle eilt der Wertsteigerung wegen des Produktivitätsfortschritts tendenziell voraus. Die daraus erwachsenden Spannungen erklären für Luxemburg die „widerspruchsvolle Erscheinung“, wonach „die alten kapitalistischen Länder füreinander (einen, KD) immer größeren Absatzmarkt darstellen, füreinander immer unentbehrlicher werden und zugleich einander immer eifersüchtiger als Konkurrenten in Beziehungen mit nichtkapitalistischen Ländern bekämpfen“.[5] Sie sind die Ursache für imperialistischen Expansionismus.

Problematisch ist vor allem die zusammenbruchstheoretische Implikation dieser Version der Landnahmethese. Die Durchkapitalisierung „äußerer Märkte“ erscheint bei Luxemburg als ein Prozess, der an einem fernen Fluchtpunkt zum Ende kommen muss, denn ohne ein okkupierbares „Außen“ kein Kapitalismus. Es gibt jedoch eine alternative Lesart des Landnahmetheorems. Danach sind die kapitalistischen Akteure in der Lage, strukturelle Entwicklungsblockaden zeitweilig zu überwinden, weil sie sich in konkreten Raum-Zeit-Relationen stets auf ein „Außen“ beziehen können, das sie teilweise selbst mit produziert haben: Der „Kapitalismus kann entweder ein bereits bestehendes ‚Außen‘ nutzen (nichtkapitalistische Gesellschaften oder ein bestimmtes Gebiet innerhalb des Kapitalismus – wie etwa die Bildung -, das noch nicht kommodifiziert worden ist) oder ein solches aktiv herstellen.“[6]

Aktive Herstellung eines „Außen“ bedeutet, dass die Kette der Landnahmen prinzipiell unendlich ist. Die „Sprengung rein ökonomischer Gesetzmäßigkeit durch politisches Handeln“[7] kann und muss sich auf erweiterter Stufenleiter beständig wiederholen. Ja, die Dynamik des Kapitalismus beruht geradezu auf der Fähigkeit zur Produktion und Zerstörung von Raum in der Zeit. Mit Investitionen in Maschinen, Fabriken, Arbeitskräfte und Infrastruktur geht das Kapital räumliche Bindungen ein, die es nicht lösen kann, ohne Kosten und Reibungen zu verursachen. Dabei fällt Investitionen, die der ökonomischen Erschließung von Räumen dienen – z. B. Finanzmittel für Verkehrsverbindungen und Trassen, zur Erschließung von Rohstoffen oder auch Investitionen in Aus- und Weiterbildung, Arbeits- und Gesundheitsschutz – eine besondere Funktion zu. Solche Investitionen amortisieren sich nur über längere Zeiträume, d. h. sie werden dem primären Kapitalkreislauf (unmittelbarer Konsum) zeitweilig entzogen und in den sekundären (Kapital für die Produktionsmittel, Bildung von Mitteln für den Konsum wie z. B. Wohnungen) oder den tertiären Kreislauf (z. B. Ausgaben für Forschung, Entwicklung, Soziales) umgeleitet. Dabei ist keineswegs sicher, dass sich solche Investitionen überhaupt rentieren. Deshalb springt häufig der Staat als ideeller Gesamtkapitalist ein, wenn es darum geht, entsprechende Langzeitinvestitionen vorzunehmen. Auf diese Weise entsteht für die molekularen einzelkapitalistischen Operationen ein „Außen“, eine Sphäre, die für private Akkumulation unzugänglich ist, aber zur Verbesserung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit genutzt werden kann. In dem Maße, wie solche Einhegungen der Marktvergesellschaftung zum Hindernis der Kapitalverwertung werden, provozieren sie indessen Versuche zur Lockerung oder gar zur Beseitigung zuvor realisierter raum-zeitlicher Fixierung von Kapital. Wo die Beseitigung solcher Fixierungen, etwa im Gefolge von Internationalisierungsprozessen, zu Deindustrialisierung, zu wirtschaftlichem Niedergang, Massenarbeitslosigkeit und Armut führt, entsteht wiederum ein „Außen“ – verwüstete Regionen und brachliegende Arbeitskraft, die sich in einer späteren Entwicklungsphase als Objekte langfristiger Reparaturinvestitionen eignen.

Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kann allerdings zur Konservierung und Institutionalisierung von sekundärer Ausbeutung genutzt werden. Sekundär meint in diesem Fall keineswegs weniger schmerzhaft, weniger brutal oder weniger wichtig. Symptomatisch für Formen sekundärer Ausbeutung ist vielmehr, dass die Rationalität des Äquivalententauschs, die primäre kapitalistische Ausbeutung strukturiert, nicht oder nur mit Einschränkungen gilt. Die Funktionalisierung der Reproduktionsarbeit von Frauen oder die Installierung eines transitorischen Status für Migranten sind klassische Beispiele für die Funktionsweise sekundärer Ausbeutung. Von sekundärer Ausbeutung kann somit immer dann gesprochen werden, wenn symbolische Formen und staatlich politisch vermittelter Zwang eingesetzt werden, um Innen-Außen-Differenzen mit dem Ziel zu konservieren, den Preis für die Arbeitskraft bestimmter sozialer Gruppen unter ihren Wert zu drücken oder diese Gruppen aus dem eigentlichen kapitalistischen Ausbeutungsverhältnis auszuschließen.

Dies vor Augen, lässt sich der Stellenwert von Prekarisierungsprozessen für die ökonomische Rationalität des Kapitalismus präziser fassen. Der Reservearmeemechanismus, den Marx im ersten Band des „Kapitals“ analysiert[8], ist gewissermaßen eine der staatlichen De-Kommodifizierung entgegengesetzte Form der aktiven Herstellung eines „Außen“. Die industrielle Reservearmee in ihren verschiedenen Erscheinungsformen lässt sich in Phasen anziehender Konjunktur nutzen, um zusätzliche Arbeitskräfte zu mobilisieren. Besonders in Krisenzeiten stellen die von der kapitalistischen Produktion Ausgeschlossenen ein Druckpotential dar, das eingesetzt werden kann, um die Arbeitskosten möglichst gering zu halten.[9] Die soziale Frage kennt in der Marxschen Lesart somit immer schon ein „Innen“ und ein „Außen“. „Innen“ steht Ausbeutung, die private Aneignung eines kollektiv erzeugten Mehrwerts im Zentrum; „außen“ geht es um das Herabdrücken von Einkommen und Lebensbedingungen unterhalb von Standards der Klasse, um Überausbeutung und im Extremfall um vollständige Brachlegung des Arbeitsvermögens, um den Ausschluss von Erwerbsarbeit und Lebenschancen.

II. Die finanz­ka­pi­ta­lis­ti­sche Landnahme …

Wie lässt sich das Landnahmetheorem für eine Analyse des zeitgenössischen Kapitalismus fruchtbar machen? Meine These ist, dass mit den 1970er Jahren ein finanzkapitalistisch getriebener Landnahmezyklus eingesetzt hat, der in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 an sein (vorläufiges) Ende gelangt ist.[10] Die Besonderheit dieses Landnahmezyklus lässt sich herausarbeiten, wenn man ihn mit seinem Vorläufer kontrastiert. Als Folge des fordistischen Landnahmezyklus[11] war es nicht nur zu einem historisch einmaligen Anstieg der Löhne gekommen; erstmals in der Geschichte hatte sich in den Zentren ein „Kapitalismus ohne Reservearmee“[12] herausgebildet. Die damit verbundene Marginalisierung von Armut und Prekarität forderte allerdings ihren Preis. Die fordistische Landnahme verdrängte Produkte und Leistungen des traditionellen Sektors sukzessive aus den Lebensbedarfen der Lohnabhängigen, und sie mobilisierte Arbeitskräfte aus dem nichtkapitalistischen Bereich für die Industrie und die moderne Dienstleistungsproduktion. Sich wechselseitig verstärkend, bewirkten beide Prozesse eine „fortschreitende Zerstörung der bisher für den traditionellen Sektor konstitutiven Strukturen, Produktionsweisen, Lebensformen und Verhaltensorientierungen“. Diese „innere Landnahme“ kann durchaus mit der „äußeren Landnahme“ des Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts verglichen werden“.[13] Da die Absorption des traditionalen Sektors irreversibel war, musste das Ende dieses Landnahmezyklus jedoch unweigerlich zu systemischen Instabilitäten führen.

Burkart Lutz, der dies prognostizierte, konnte allerdings noch nicht jene Selbststabilisierungskräfte antizipieren, die die dominanten kapitalistischen Akteure in den Transformationskrisen der späten 60er und früher 70er Jahre mobilisierten. Dazu zählten nicht allein technologische (Informations- und Kommunikationstechnologie) und organisatorische Innovationen (Dezentralisierung von Unternehmen). Es gelang vor allem, neue soziale Bedürfnisse und Lebensformen, wie sie zunächst in den oppositionellen Bewegungen nach 1968 artikuliert wurden, für einen „neuen Geist des Kapitalismus“, eine Angriffsideologie ökonomisch-politischer Eliten, zu vereinnahmen, die sich unmittelbar gegen jene Formen institutionalisierter Lohnabhängigenmacht richteten, wie sie in unterschiedlichen nationalen Ausprägungen die social order des expandierenden Wohlfahrtskapitalismus bestimmt hatten.[14] Grob verkürzt kann man von einer dreifachen Landnahme sprechen. Außerhalb der kapitalistischen Zentren war der neue Landnahmezyklus (1) mit Durchsetzung und Expansion des Kapitalismus vor allem in Osteuropa und den so genannten BRIC-Staaten (Brasilien, China, Indien, Russland) verbunden. Innerhalb der Zentren wurde die Durchdringung zuvor nichtkapitalistischer Räume und Territorien (2) genutzt, um die raum-zeitlichen Fixierungen von Kapital aus der Ära des sozial-bürokratischen Kapitalismus aufzubrechen. Während die Expansion außerhalb der Zentren teilweise auf einer Adaption „fordistischer“ Praktiken und Institutionen beruhte, erfolgte die Restrukturierung innerhalb der kapitalistischen Zentren (3) über die Durchsetzung primär konkurrenzbasierter Normen und Leitbilder. Als finanzgetrieben lässt sich dieser Landnahmezyklus bezeichnen, weil sich seine InnenAußen-Dialektik unter den Bedingungen einer zunehmenden Verflechtung, informationstechnologischen Durchdringung und relativen Verselbständigung verschiedener Finanzmarktsegmente vollzog.15 Überliquidität auf den Finanzmärkten wurde zum Humus, auf dem die Verwandlung von Finanz-(Synthese von Sach- und Geldkapital) in fiktives (allein auf zertifizierten Forderungen von Gläubigern beruhendes) Kapital gedieh. G, ausgedrückt in Wertpapieren, wurde vom Zahlungs- und Kreditmittel mehr und mehr zu einem reinen Spekulationsobjekt, eingesetzt mit dem Ziel, G‘, mehr Geld, zu realisieren. Das freilich unter Ausblendung von komplexen Arbeitsprozessen, die, gemeinsam mit der außermenschlichen Natur, alleinige Quelle von Gebrauchswerten sind.

Von Landnahme kann gesprochen werden, weil diese Entwicklung, deren Ausgangspunkt strukturelle Überkapazitäten in den exportorientierten Leitbranchen waren, über eine Fülle von Transfermechanismen auf die Realwirtschaft zurückwirkten. Als Transfermechanismen fungierten z. B. der Markt für Unternehmenskontrolle, Fusionen,Übernahmen, die Shareholder-Value-Steuerung von Unternehmen, Gewinn- oder Renditevorgaben als Hebel organisationsinterner Finanzialisierung oder auch permanente Standortkonkurrenzen. Über eine Vielzahl molekularer Operationen und Veränderungen wurde ein Rationalitätsprinzip hegemonial, das ökonomische Operationen einem finanzkapitalistischen Kalkül (Priorisierung von Höchstrenditen und Maximalprofiten, Intensivierung der Konkurrenz auf vermachteten Märkten und innerhalb von Unternehmen) unterwarf. Neue Eigentümer wie Investment- oder Pensionsfonds, die selbst in scharfer Konkurrenz zueinander standen, motivierten das strategiefähige Management weltmarktorientierter Unternehmen, kurzfristigen Gewinnerwartungen zu entsprechen. Doch das war nur ein Teil des Problems. Der Markt für Unternehmenskontrolle, wie er in Deutschland erst auf Grund der Finanzmarktgesetzgebung der Regierung Schröder entstanden war, konstituierte einen Möglichkeitsraum, den das Top-Management international agierender Konzerne nutzte, um Unsicherheit in Kontroll- und Verhandlungsmacht zu transformieren. Mitunter genügte bereits die Androhung einer feindlichen Übernahme, um Belegschaften und Manager gefügig zu machen. Das Ziel, eine hohe Eigenkapitalrendite zu erwirtschaften, wurde mit Verweisen auf Eigentümer-Interessen legitimiert, zugleich aber auch für die Durchsetzung von Partialinteressen des Unternehmensmanagements genutzt. Im exportorientierten Sektor bildete sich auf diese Weise eine Wirtschaft heraus, in der Rendite und Gewinn nicht mehr als Resultate ökonomischer Leistungsfähigkeit betrachtet, sondern als Planungsgrößen vorausgesetzt wurden. Belegschaftsstärken, Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen hatten sich fortan dieser Zielsetzung unterzuordnen. Damit gerieten auch solche Werke, Betriebe und Betriebsteile unter Druck, die, obwohl profitabel, der Konkurrenz um hohe Eigenkapitalrenditen nicht standhalten können. Solche Einheiten waren fortan rasch von Verkauf, Schließung oder zumindest von harschen Kostensenkungsprogrammen bedroht.

Landnahme bedeutete in diesem Kontext aber auch, dass eine auf das Konkurrenzprinzip und die Gewinnmaximierung reduzierte Rationalität tendenziell auf die gesamte Gesellschaft übertragen wurde. In der Konkurrenz um staatliche Fördermittel traten Mikroregionen als kollektive Unternehmer gegeneinander an, um günstige Voraussetzungen für die Abfederung des wirtschaftlichen Strukturwandels zu schaffen. Über die Kreditierung und die Bilanzierungsverfahren strahlte die finanzkapitalistische Logik auf den klein- und mittelbetrieblichen Sektor aus. In den Betrieben sollten Beschäftigte zu Managern ihrer eigenen Gesundheit werden, um die Unternehmen von Kosten zu entlasten. Arbeitsverwaltungen machten aus Langzeitarbeitslosen „Kunden“, die unter dem Druck strenger Zumutbarkeitsregeln ein unternehmerisches Verhältnis zu ihrem Arbeitsvermögen entwickeln sollten.

Nicht einmal die Hochschulen blieben von der Wettbewerbsorientierung verschont. Längst hat sich das Leitbild der unternehmerischen Universität, die nach Zielvereinbarungen geführt und an ihrer Outputeffizienz gemessen wird, als verbindlicher Maßstab für Hochschulreform etabliert. Damit hielt auch in Deutschland ein Academic Capitalism Einzug, der im Ergebnis die akademische Gesamtarbeitskraft tief greifend veränderte. Häufig noch innerhalb der überkommenen institutionellen Hüllen ereignete sich auf diese Weise in Deutschland ein zunächst gradueller, in seinen längerfristigen Konsequenzen jedoch qualitativer Wandel des Gesellschaftsmodells.

Das wird deutlich, wenn man den Blick auf den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbeziehungen richtet. Den Druck geplanter Rendite- und Gewinnmargen gaben marktbeherrschende Unternehmen nicht nur an Führungskräfte und Belegschaften weiter, auch Zulieferunternehmen und mit ihnen abhängige Segmente kleinerer und mittlerer Betriebe wurden erfasst. Um ein an den Konjunkturverlauf angepasstes „Atmen“ von Unternehmen zu ermöglichen, gewannen flexible Beschäftigungsformen wie Befristungen, Werkverträge und Leiharbeit in den Wertschöpfungssystemen zunehmend an Bedeutung. Um geplante Eigenkapitalrenditen in Größenordnungen um 25 Prozent (Deutsche Bank) zu ermöglichen, suchten Unternehmen aus der Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeit Extragewinne zu ziehen. Da entsprechende Wettbewerbsvorteile leicht zu kopieren und daher nur flüchtig waren, musste der „Motor“ dieser Art von Landnahme beständig durch neue Unterbietungskonkurrenzen, Ausgründungen, Auslagerungen, Deregulierungen, durch Lohndumping und mittels Verrohung der Arbeitsmärkte in Gang gehalten werden. Die – planmäßig vorausgesetzte – Stabilität von Aktionärseinkommen und Gewinnen zog so eine wachsende Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse nach sich.

Staatliche Politiken haben den Re-Kommodifizierungsdruck, der von den Flexibilisierungsstrategien der Unternehmen ausging, zusätzlich verstärkt. In Deutschland hat ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung dieses Projekt besonders vehement vorangetrieben. Auf mindestens zwei Feldern hat sie, gleichsam als politischer Wegbereiter und Verstärker flexibler Akkumulation, Weichenstellungen vorgenommen, die bei einer konservativen Regierung möglicherweise auf weitaus größeren Widerstand gestoßen wären. Gemeint sind die Pionierarbeiten bei der Deregulierung der Finanz- und der Arbeitsmärkte. Zwar mündete die Entfesselung der finanzkapitalistischen Wettbewerbslogik nicht in einen Vermarktlichungsautomatismus. Gerade in Deutschland rieben sich Politiken, die auf eine Stärkung der Marktkoordination zielten, an sperrigen institutionellen Filtern und konkurrierenden Teilrationalitäten. Dennoch wurde die gesellschaftliche Regulationsweise tief greifend umgeformt.

III. … ihre sozialen Auswir­kun­gen…

Die politisch-gesellschaftliche Legitimation der Veränderungen beruhte nicht zuletzt darauf, dass sie als Befreiungsprojekte präsentiert wurden, die patriarchale Herrschaft, ständische Privilegien und bürokratische Kontrolle zu attackieren vorgaben. Zu Recht hat Wolfgang Streeck darauf hingewiesen, dass der nachfordistische Landnahmezyklus auch an der Familie und den Geschlechterbeziehungen ansetzte. In Westdeutschland wurden diskriminierende Strukturen geschliffen, die Dominanz des Ein-Ernährer-Haushaltes aufgebrochen und Partnerschaftsmodelle liberalisiert. Das ermöglichte eine bessere Integration von Frauen in das Bildungs- und Beschäftigungssystem. Diese von der Frauenbewegung maßgeblich geförderte Entwicklung ging jedoch auch mit nicht-intendierten Effekten einher. Unter den Bedingungen der finanzkapitalistischen Landnahme ließen sich emanzipatorische Anliegen der feministischen Bewegung für eine Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse instrumentalisieren. Das weibliche Erwerbspersonenpotential konnte und kann bis heute trefflich dazu genutzt werden, jenen Reservearmeemechanismus zu reinstallieren, der in den kapitalistischen Zentren mit ihren organisierten Arbeitsmärkten außer Kraft gesetzt schien.[16]

Letzteres war möglich, weil die dominanten kapitalistischen Akteure(Unternehmen,Eigentümer, Top-Manager) die Option, Konkurrenzfähigkeit mittels Überausbeutung und Verrohung des Arbeitsmarktes herzustellen, offensiv nutzten. Sie konnten dies, weil Frauen sich vergleichsweise leicht mit prekären Arbeitsverhältnissen arrangierten. Und sie wählten diese Option auch, weil rekommodifizierende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken einen solch asymmetrischen Aufbau weiblicher Beschäftigung begünstigten. Als Folge (nicht nur) der Feminisierung von Erwerbsarbeit ist eine Arbeitsgesellschaft mit zuvor unbekannten sozialen Spaltungen entstanden. Dies nicht allein wegen der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Auch innerhalb und zwischen sozialen Gruppen, die – sei es unmittelbar, sei es indirekt – auf eine abhängige Arbeit angewiesen sind, wachsen die Ungleichheiten. Ein wesentlicher Faktor ist die unterschiedliche Verfügbarkeit von „Sozialeigentum“[17].

So ist die Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland weitaus stärker expandiert ist als in jedem anderen europäischen Land. Inzwischen sind ca. 23 Prozent der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor tätig, d. h. sie verdienen weniger als zwei Drittel des Medianlohns. Insgesamt 42,6 Prozent der Niedriglohnbezieher arbeiten in einem Normalarbeitsverhältnis (sozialversicherungspflichtig, über 20 Wochenstunden). Die höchsten Anteile weisen Frauen und gering Qualifizierte auf. Doch rund drei Viertel aller Niedriglohnbezieher verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder gar über einen akademischen Abschluss. Trotz solcher Qualifikationen zeichnet sich der deutsche Niedriglohnsektor im internationalen Vergleich durch eine geringe Aufwärtsmobilität und eine enorme Lohnspreizung aus.[18] In Extremfällen sind die Stundenlöhne auf 1,50 bis zwei Euro (Toilettenfrauen an Autobahnen, Stuhlmieter im Friseurgewerbe) gesunken.

Letzteres erklärt, weshalb die Zahl der Bedarfsgemeinschaften und der Bezieher(innen) von Arbeitslosengeld II trotz zurückgehender Arbeitslosigkeit kaum abnimmt. Die Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (SGB II) ist zwischen 2005 und 2009 von ursprünglich 4.981 Mio. nur leicht auf 4.907 Mio. Personen zurückgegangen. Zugleich sind immer mehr Beschäftigte auf zusätzliche Transfers angewiesen. Im März 2010 verzeichnet die Bundesagentur für Arbeit (BA) insgesamt 1.359 Mio. Erwerbstätige mit zusätzlichem Leistungsbezug aus dem ALG II., von ihnen waren 339.000 Vollzeiterwerbstätige. 2005 hatte die Zahl dieser so genannten „Aufstocker“[19] im Jahresdurchschnitt noch bei 880.000 (17,5 Prozent aller Leistungsbezieher im SGB II) gelegen. Seither wächst deren Zahl beständig. Allein seit 2009 lässt sich eine Zunahme um 5 Prozent (71.000) verzeichnen Würden alle Berechtigten tatsächlich ALG-II-Leistungen in Anspruch nehmen, läge die Zahl der „Aufstocker“ nach Schätzungen noch einmal um ca. zwei Mio. Personen höher.[20]

Solche Daten verweisen darauf, dass sich die Realentwicklung in Deutschland jenem „Zonenmodell“ annähert, das Robert Castel zu Beginn des Jahrzehnts noch als eine Arbeitshypothese präsentiert hatte.[21] Die neuen Spaltungen gehen mit einem dramatischen Machtgefälle am Arbeitsmarkt einher. Während das unterste Viertel der Lohnbezieher innerhalb von 10 Jahren (1997-2007) Reallohneinbußen von 14 Prozent zu verzeichnen hatte, konnten Lohnabhängige in noch halbwegs geschützter Beschäftigung trotz durchschnittlich geringer Lohnsteigerungen ihren Lebensstandard halten oder ihre Einbußen zumindest begrenzen. In dem prekären Sektor, der nun entstanden ist, wird der Preis der Arbeitskraft systematisch unter ihren Wert gedrückt, so dass der Staat großzügig Beschäftigungsverhältnisse subventionieren muss, deren Entlohnung die Arbeitenden nicht mehr ernährt. 50 Mrd. Steuergelder sind auf diese Weise während der letzten Jahre in den Niedriglohnsektor geflossen. Das entspricht in etwa der Summe, die nunmehr überwiegend zu Lasten der sozial Schwächsten in den öffentlichen Haushalten eingespart werden soll.[22]

Wenngleich nicht alleinige Ursache, so kann doch kein Zweifel bestehend, dass die aktivierende Arbeitsmarktpolitik diesen Prozess nicht nur beschleunigt, sondern ihn auch in eine bestimmte Richtung gelenkt hat. Die Arbeitsmarktreformen haben einen gesellschaftlichen Status unterhalb einer Schwelle der Respektabilität konstruiert. Das nicht nur, weil die Regelsätze für die Leistungsbezieher zumindest relative Armut bedeuten. Hartz IV, das heißt staatliche Kontrolle des gesamten Alltagslebens. Eigentum, Schonvermögen, Größe der Wohnung, Formen des Zusammenlebens, Kindererziehung und selbst der Umfang eines Geburtstagsgeschenks – alles kann zum Gegenstand staatlicher Bevormundung werden. Wer so leben muss, der steht beständig unter dem Generalverdacht, die Gesellschaft als „Schmarotzer“ zu belasten.

Ein solcher Status schreckt vor allem diejenigen ab, die sich noch in regulärer Arbeit befinden. Wer die Chance dazu hat, unternimmt alles, um Hartz IV zu vermeiden. Exakt das ist gemeint, wenn von wachsender Konzessionsbereitschaft und sinkender Beschäftigungsschwelle die Rede ist. Nicht die Arbeitslosen werden „arbeitswilliger“; vielmehr wächst auch und gerade bei den Noch-Beschäftigten die Bereitschaft, niedrig entlohnte, unsichere, stark belastende Jobs anzunehmen. Die Unternehmen nutzen diese Motivation bereitwillig für Flexibilisierungsstrategien, die de facto zwei Klassen von Lohnabhängigen schaffen. Ohne die Hartz-Reformen wäre z. B. die strategische Nutzung von Leiharbeit, wie inzwischen von stilbildenden Unternehmen praktiziert wird, nicht möglich gewesen. Strategische Nutzung bedeutet, dass die Leiharbeiter bei laufender Konjunktur dauerhaft im Betrieb sind. Sie machen die gleichen Arbeiten wie die Stammbeschäftigten, das jedoch im Durchschnitt für 30 bis 50 Prozent weniger Lohn. Wie die Krise gezeigt hat, ist der Kündigungsschutz für diese Gruppen im Grunde außer Kraft gesetzt. Die entleihenden Unternehmen sparen Entlassungskosten und die großen Zeitarbeitsfirmen verzeichnen exorbitante Gewinne auf Kosten von prekär beschäftigten Lohnabhängigen „zweiter Klasse“.[23]

Die weniger als drei Prozent Leiharbeiter unter den Erwerbstätigen sind indessen nur die Spitze eines Eisbergs. Während der zurückliegenden Dekade ist ein Sektor mit prekären Beschäftigungsverhältnissen entstanden, in welchem sich andere Regulierungsformen von Sozial- und Arbeitsbeziehungen durchgesetzt haben, als es in den durch Tarifverträge und Mitbestimmung noch einigermaßen geschützten Sektoren der Fall ist. In diesem Sektor herrscht ein Klima, das durch Repression und Angst geprägt wird.[24] Ohne die abschreckende Wirkung von Hartz IV wäre die rasche Expansion einer solchen Zone der Verwundbarkeit kaum möglich gewesen. Faktisch erfüllt das Regime strenger Zumutbarkeit – freilich auf einem völlig anderen gesellschaftlichen Reichtums- und Sicherheitsniveau – eine ähnliche Funktion wie die das feudale Bettelverbot oder die Arbeitshäuser während der ursprünglichen Akkumulation. Sie disziplinieren für eine Produktionsweise, in der unternehmerische Flexibilität auf Kosten der Sicherheit und der Lebensqualität vor allem der prekär Beschäftigten und Arbeitslosen hergestellt wird. Und sie erzeugt damit soziale Barrieren für die Ausbreitung ökologisch nachhaltiger Lebensstile, denn je größer die gesellschaftliche Ungleichheit ist, desto heftiger entbrennt der Kampf um positionale Güter und um so schwerer wird es, den kapitalistischen Wachstums- und Expansionsfetisch zu delegitimieren.

IV. … und ihre Grenzen

Dies ist nur ein – freilich markantes – Beispiel für den Wirkungsmechanismus der finanzgetrieben Landnahme. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Grenzen dieses Zyklus bloßgelegt. So hat der finanzkapitalistische Modus operandi, der die Vermögenden begünstigt, die Löhne deckelt und abhängige Arbeit prekarisiert, eine eigentümliche Kombination aus Überakkumulation und Unterkonsumtion hervorgebracht, die in dem großen Crash eklatierte. Nicht zufällig gerieten vor allem solche Länder in die Krise, die darauf gesetzt hatten, schwindende Kaufkraft durch billige Immobilienkredite an bedingt zahlungsfähige Kunden zu vergeben. Dieser „Bastardkeynesianismus“ wurde zu Achillesverse des gesamten Weltfinanzsystems. Die politischen Eliten wurden von dieser Entwicklung überrascht, hatten sie doch lange Zeit auf die Selbststeuerungsfähigkeit der Märkte vertraut. Doch auch wenn das Misstrauen der politischen Klasse gegenüber großen Vermögensbesitzern und Top-Managern geweckt sein mag und die Gewerkschaften bei Krisenmanagement wieder als Partner gefragt sein mögen – das Rad der Geschichte lässt sich nicht einfach zurückdrehen. Wie ihre Vorläufer, so hat auch die finanzkapitalistische Landnahme irreversible Strukturveränderungen hinterlassen.

Das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft hat sich nach China und in den pazifischen Raum verlagert, was anhaltenden Druck auf die exportorientierte Wirtschaft verheißt. Das relativ erfolgreiche Krisenmanagement der deutschen Regierung beruht auch darauf, das ein Exportmodell fortgeführt wird, dass wegen der durchschnittlich geringsten Steigerungen der Lohnstückkosten immer wieder dazu beiträgt, Ungleichgewichte in der EU zu verstärken. Die Risiken im Finanzsystem sind keineswegs gebannt. Noch immer bewegen sich Länder wie Griechenland, Spanien oder Island am Rande des Staatsbankrotts. Marode Kreditinstitute wie die HRE erweisen sich als Milliardengräber und belasten die Staatsfinanzen. Austeritätspolitiken, die einseitig die unteren Klassen belasten, werden soziale Konflikte schüren. Auch die neuen Spaltungslinien am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft lassen sich nicht beseitigen, indem man ein paar „Reformstellschrauben“ etwas schneller dreht.

Entscheidend ist jedoch etwas anderes. Historisch neu ist, dass wir uns mit einer ökonomisch-ökologischen Doppelkrise konfrontiert sehen. Im Unterschied zur ihren seit den 1970er Jahren mehr als 100 Vorläufern kann die ökonomische Krise nicht mehr aus den westlichen Zentren herausgehalten werden. Stattdessen erzeugt jede Anti-Krisen-Intervention offenkundig neue, zusätzliche Krisenherde, die in der Summe dazu führen, dass der Wachstumsmotor der westlichen Ökonomien – anders als der in den BRIC-Staaten – nur bedingt anspringt und wo er anspringt, ist das nicht zwangsläufig mit steigender Wohlfahrt für Bevölkerungsmehrheiten verbunden. Schon niedrige Wachstumsraten bedeuten unter den gegebenen Bedingungen wachsende Ungleichheit und wenn schon nicht Arbeitslosigkeit, so doch eine forcierte Ausbreitung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse.

Von einer Doppelkrise ist aber vor allem deshalb die Rede, weil der finanzgetriebene Landnahmezyklus die Nutzung natürlicher Ressourcen und fossiler Energieträger bis zu einem Punkt vorangetrieben hat, an dem das kapitalistische Wachstumsmodell selbst zur Disposition gestellt werden muss. Deshalb ist mit einer bloßen Wiederbelebung konventionellen Wirtschaftswachstums oder gar dem stürmischen Wachstum der BRIC-Staaten noch nicht viel gewonnen, denn Ressourcenvernutzung, Schadstoffemission und die negativen Folgen des Klimawandels werden weiter forciert. Die Wahrscheinlichkeit eines massiven anthropogenen, also von Menschen verursachten, Klimawandels liegt gegenwärtig bei 90 Prozent. Er wirkt zerstörerisch und zwingt zu Veränderungen innerhalb eines schmalen Zeitfensters. Um die wichtigsten Klimaziele zu erreichen, müsste z.B. allein in den Industrieländern bis 2020 eine CO2-Minderung um 30 Prozent erfolgen. Um nur in die Nähe des Ziels zu gelangen, wäre „der größte, tiefgreifendste Strukturwandel“ nötig, „den eine Ökonomie je bewältigen musste“.[25]

Es scheint für die entwickelten Gesellschaften grundsätzlich nur zwei mögliche Auswege aus der Krise zu geben: Entweder es gelingt, ökonomisches Wachstum nachhaltig zu machen, oder es wird nötig, Nicht-Wachstumsgesellschaften wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch zu stabilisieren. Angesichts einer solchen Alternative steht die Reproduktionsfähigkeit des Finanzmarktkapitalismus und mit ihr der kapitalistischen Landnahmen inhärente Expansionszwang zur Disposition. Es mag durchaus sein, dass ein neuer, staatsbasierter Landnahmezyklus, der die grüne, ressourcenschonende Ökonomie als produktive Anlagesphäre für überschüssiges Kapital entdeckt und durch Umverteilungsmaßnahmen für halbwegs egalitäre soziale Strukturen sorgt, sich als politischer Ausweg aus der ökonomisch-ökologischen Doppelkrise anbietet. Doch die Schwierigkeiten, einem solchen öko-sozialen New Deal zum Durchbruch zu verhelfen, sind gigantisch. Ohne eine wirkliche Herausforderung durch einen politisch wirksamen Antagonisten werden die Machteliten weiter dazu tendieren, ihre Partial- als Allgemeininteressen darzustellen. Deshalb sollte man sich von der vermeintlichen Ruhe in den entwickelten Kapitalismen nicht täuschen lassen. Das Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen vor Augen, warnen auch besonnene Wissenschaftler vor einem „Mehltau aus Apathie und Depression“, einem verbreiteten „Gefühl der Machtlosigkeit, weil die Politik selbst nicht mehr in der Lage zu sein scheint, gestalterisch tätig zu werden“. Möglich sei aber auch, „dass wir durch die Totalität des Scheiterns, durch diese enttäuschende Niederlage der Weltpolitik in eine vor-revolutionäre Situation neuer Art geraten. Wenn nämlich klar(er) wird, dass es von jetzt ab um hohe Kosten der Anpassung, um zunehmende nationale Konflikte, um territoriale und biologische Fortexistenz, ja sogar um Leben und Tod geht. Und Revolutionen bieten dann bekanntlich zweierlei: fundamentale Krise oder Eröffnung realer Chancen, totaler Kollaps oder Suche nach einem neuen Gleichgewicht.“[26]

Das klingt dramatisierend, beschreibt jedoch die möglichen Folgen einer Politik, die ein Bereicherungsprogramm für die Atomlobby ernsthaft als Energierevolution ausgibt, durchaus präzise. Wer ernsthaft gegensteuern und so die Chancen für progressive Reformpolitik verbessern will, kommt nicht umhin, Leitbilder für eine Gesellschaft jenseits des kapitalistischen Landnahme- und Wachstumszwangs zu entwickeln. Die erst in Ansätzen geführte Diskussion um eine neue Wirtschaftsdemokratie könnte zu einem solchen Leitbild führen.

[1] Dullien, Sebastian; Herr, Hansjörg; Kellermann, Christian (2009): Der gute Kapitalismus … und was sich nach der Krise ändern müsste. Bielefeld: transcript.

[2] Streeck, Wolfgang (2009): Re-Forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy. Oxford: Oxford University Press: 232.

[3] Boltanski, Luc; Chiapello, Eve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK Verlag: 42.

[4] Dörre, Klaus (2009): Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarkt-Kapitalismus. In: Dörre, Klaus, Lessenich, Stephan, Rosa, Hartmut, Soziologie. Kapitalismus. Kritik. Eine Debatte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 21-86.

[5] Luxemburg, Rosa (1975/1913): Die Akkumulation des Kapitals. In: Gesammelte Werke Band 5. Berlin: Dietz: 5-412, hier: 316.

[6] Harvey, David (2005): Der neue Imperialismus. Hamburg: VSA: 140.

[7] Arendt, Hannah (2006): Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 11. Aufl. München: Piper.: 335.

[8] Marx, Karl (1977): Das Kapital: I. Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. MEW Bd. 23. Berlin: Dietz: 657 ff.

[9] Harvey 2005: 139.

[10] Dazu instruktiv: Streeck, Wolfgang (2005): Vom „kurzen Traum“ zum langen Alptraum? MPIfG Working Paper 05/5, Juni 2005.

[11] Lutz, Burkart (1984): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt/M./New York: Campus.

[12] Lutz 1984: 186.

[13] Lutz 1984: 213.

[14] Roth, Karl Heinz (2009): Die globale Krise. Band 1 des Projekts ‚Globale Krise‘ – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven. Hamburg: VSA: 148-159.

[15] Vgl. J. Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte, Hamburg 2002; E. Altvater, B. Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung, Münster 1996.

[16] Streeck, Wolfgang (2005): 5; Lutz (1984): 186 ff.

[17] Castel 2005: 42 f.: „Das soziale Eigentum ließe sich als Produktion äquivalenter sozialer Sicherungsleistungen bezeichnen, wie sie zuvor allein das Privateigentum lieferte.

[18] Statistisches Bundesamt (2009): Niedrigeinkommen und Erwerbstätigkeit. Begleitmaterial zum Pressegespräch am 19. August 2009 in Frankfurt a. M. Wiesbaden.

[19] Aufstocker im Sinne der BA sind Personen, die zusätzlich zum Arbeitslosengeld Transfers aus der Grundsicherung benötigen. Hier wird der Begriff, wie in der Debatte üblich, weiter gefasst und auf Beschäftigte angewandt, deren Löhne nicht existenzsichernd sind.

[20] Bruckmeier, Kerstin/Graf, Tobias/Rudolph, Helmut (2007): Aufstocker – bedürftig trotz Arbeit. Erwerbstätige Leistungsbezieher im SGB II. IAB-Kurzbericht 22/2007.

[21] Castel, Robert/Dörre, Klaus (2009): Einleitung. In: Castel, Robert/Dörre, Klaus (2009): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung – Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt/M. [u. a.]: Campus, S. 11-18.

[22] Niedriglöhne kosten 50 Milliarden. Frankfurter Rundschau vom 12. August 2010, S. 1.

[23] Holst, Hajo/Nachtwey, Oliver/Dörre, Klaus (2009): Funktionswandel von Leiharbeit. Neue Nutzungsstrategien und ihre arbeits- und mitbestimmungspolitischen Folgen. OBS-Arbeitsheft 61. Berlin.

[24] Artus, Ingrid/Böhm, Sabine/Lücking Stefan/Trinczek, Rainer (2009): Jenseits der Mitbestimmung. Interessenhandeln in Betrieben ohne Betriebsrat. Frankfurt/New York: Campus.

[25] Machnig, Matthias (2007), „Der Staat als Pionier im 21. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 158, S. 14-18.

[26] Simonis, Udo E. (2010): Klimaschutz ohne Kulturwandel? In: Forum Wissenschaft 1/10: 51-52, hier: 51.

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