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Das Wahlrecht muss geändert werden

aus: vorgänge Nr. 191, Heft 3/2010, S. 129-132

Schon 2008 hat das Bundesverfassungsgericht verfügt, dass das Gesetz zur Wahl des Deutschen Bundestages bis 30. Juni 2011 geändert werden muss. (Urteil vom 3. 7. 2008 2 BvC 1/07 und 2 BvC 7/07) Die beanstandete Regelung wirkte sich nach dem Rücktritt von Bundespräsident Köhler auf die Zusammensetzung der Bundesversammlung aus, die einen Nachfolger für den Bundespräsidenten zu wählen hatte. Die 24 Überhangmandate der Union im Bundestag gaben der schwarz-gelben Koalition eine satte Mehrheit, die sie ohne die Überhangmandate nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nicht mehr hatte. Eine ähnliche Problematik brachte die letzte Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Die CDU errang 11 Überhangmandate, von denen nach einer Entscheidung der Landeswahlleiterin aber drei nicht für die anderen Parteien ausgeglichen wurden. Das führte dazu, dass die CDU/FDP-Koalittion im Landtag eine Mehrheit hatte, die nicht dem Wahlergebnis entsprach.

Das Landesverfassungsgericht hat deshalb mit Urteil vom 30.08.2010 entschieden: Bis zum 31. 5. 2011 muss das Wahlgesetz überarbeitet und bis 30.09.2012 neu gewählt werden. Die Verfassungsgerichtsurteile zeigen, wie nötig die Neuregelung der Wahlverfahren generell ist.

Eine Nachwahl offenbart ein Problem
Die Problematik zeigte eindrücklich die Neuwahl des deutschen Bundestages am 18.09.2005. Im Dresdener Wahlkreis 160 war eine Kandidatin gestorben. Die Wahl in diesem Wahlkreis musste um 14 Tage verschoben werden. Das hatte nicht nur die Problematik des Ausfalls einer Kandidatin mit den hohen Kosten für die Nachwahl und den Unsicherheiten über die Bekanntgabe des Wahlergebnisses gezeigt, sondern auch die Problematik der zwei Stimmen, speziell in Kenntnis des übrigen Wahlergebnisses. Der CDU drohte der Verlust eines Mandates bei gutem Abschneiden, weil das Überhangmandat mit der Liste verrechnet worden wäre. Sie hat deshalb mit Erfolg dafür geworben, FDP zu wählen, was dann bundesweit zu Verschiebungen bei den Mandaten führte. Nicht gewählt brachte ein zusätzliches Mandat!

Die Problematik der Überhangmandate
Bei Wahlen zum Bundestag hat man eine „Erststimme“ im Wahlkreis für den Wahlkreisabgeordneten und eine „Zweitstimme“ für die Parteilisten, nach deren Ergebnis die Mandate berechnet werden. Gibt es mehr Direktmandate, als nach Zweitstimmen der Partei zustehen, bleiben Überhangmandate. Dann sind für ein Mandat unterschiedlich viele Stimmen nötig und im Falle von Nachwahlen Manipulationen möglich, um die Überhangmandate nicht zu verlieren. Die Ungleichheit durch Überhangmandate kann man an vergangenen Bundestagswahlen studieren:

1994 gab es 12 Überhangmandate für die Union. Dadurch reichten ihr für ein Mandat im Schnitt knapp 66.000 Stimmen. Die anderen Parteien benötigten für einen Sitz im Bundestag mindestens 68.000 (SPD mit 4 Überhangmandaten) oder gar 68.500 Stimmen (alle anderen Parteien ohne Überhangmandate).

1998 gab es 13 Überhangmandate für die SPD. Dadurch reichten 67.700 Stimmen für ein Mandat, die anderen Parteien benötigten 70.000 Stimmen.

2005 gab es 7 Überhangmandate für die Union, 9 für die SPD. Beiden reichten knapp 73.000 Stimmen für einen Sitz im Bundestag. Die anderen Parteien benötigten mindestens 75.000 Stimmen.

2009 gab es 21 Überhangmandate für die CDU, 3 für die CSU. Die CDU bekam für knapp 61.000 Stimmen ein Bundestagsmandat, die CSU für knapp 63.000, die anderen Parteien benötigten knapp 68.000 Stimmen.

Was sagt Karlsruhe?
Das Bundesverfassungsgericht hat sich schon einmal mit Überhangmandaten befasst. 1987 ging es nur um ein Mandat, und das hatte weniger Auswirkungen als die unterschiedliche Größe der Wahlkreise, so dass das Überhangmandat nicht beachtet wurde, sondern Karlsruhe auf die gleiche Größe der Wahlkreise drängte. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil dem Europäischen Parlament abgesprochen, demokratisch zu sein, weil in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Stimmenzahlen für ein Mandat ausreichen, und im Fall der Dresdner Nachwahl hat das Gericht auch die fehlende Gleichheit der Wahl beanstandet. In Schleswig-Holstein haben die Überhangmandate sogar das Wahlergebnis umgedreht. Von welchen Unterschieden an die Ungleichheit bei Überhangmandaten problematisch ist, hat das Bundesverfassungsgericht nicht gesagt. Mit der Forderung, dass weniger Stimmen nicht zu mehr und mehr Stimmen nicht zu weniger Mandaten führen dürfen, hat Karlsruhe de facto aber die Überhangmandate generell beanstandet.

Das Problem der zwei Stimmen
Es lohnt sich, die bisherigen Überhangmandate zu analysieren. Dass die SPD 1998 so gut abschnitt, lag an der Erwartung einer rot-grünen Koalition. Die Erststimmen von Grünwählern halfen der SPD, Zweitstimmen von Wählern der SPD den Grünen. 2009 war es umgekehrt. Union und FDP haben von vornherein eine Koalition angestrebt, während diesmal die anderen Parteien für sich allein warben. CDU und CSU erhielten dadurch mit Hilfe der FDP über die Erststimmen 24 Überhangmandate, die FDP über die Zweitstimmen ihr bisher bestes Ergebnis. Natürlich wehrte sich die FDP gegen die Aussage, sie habe ihr gutes Ergebnis Leihstimmen von Unionswählern zu verdanken. Es waren nicht Leihstimmen sondern die Zweitstimmen von Unionswählern, die ihr zugute kamen. Dass es kein ähnliches rot-grünes Stimmensplitting gab, lag am betont getrennt geführten Wahlkampf und wohl auch an der Koalition der Grünen mit der CDU in Hamburg. Wie die Situation der FDP ohne feste Koalitionspläne in Wirklichkeit ist, hat inzwischen die Wahl in Nordrhein-Westfalen gezeigt.

Die Beispiele zeigen die Problematik. Der Wähler, der splittet, kann seinen Einfluss verdoppeln, hat sozusagen zwei Stimmen im Widerspruch zu Artikel 38 Absatz 1 GG, wo gleiche Wahlen vorgeschrieben sind. Wer die Erststimme für die Kandidatin oder den Kandidaten einer Partei, aber die Zweitstimme für die Liste einer anderen Partei abgibt, erreicht diese Verdoppelung. Das kann erhebliche Ausmaße annehmen, wenn Koalitionen zu erwarten sind.

Man kann das an Beispielen aufzeigen. Nehmen wir an, die Parteien haben unterschiedliche Anteile der Wählerschaft hinter sich: Partei A 35 Prozent, Partei B 30 Prozent, Partei C 10 Prozent, Partei D 10 Prozent, Partei E ebenfalls 10 Prozent, Sonstige 5 Prozent. Wirbt jede Partei nur für sich, werden A und B fast alle Direktmandate unter sich ausmachen, C, D und E fast nur Listenmandate bekommen. A und B würden sicher Überhangmandate bekommen. Tun sich aber Parteien zusammen und werben um Erststimmen für die größere und Zweitstimmen für die kleinere Partei, wird der Effekt stärker. Die größere Partei würde dann vermutlich mehr Direktmandate und damit Überhangmandate erhalten, die kleinere dank der Zweitstimmen wesentlich mehr Mandate, als ihrer Größe entspricht. Im Extremfall, wenn alle Anhänger mitmachen, könnten so die Parteien B und C zusammen 2/3 der Direktmandate allein für die größere Partei bekommen. Das ergäbe mindestens eine satte absolute Mehrheit für nur 40 Prozent der Wählenden.

Ausgleichen könnten die anderen Parteien das, wenn sie sich auch verbündeten, immer vorausgesetzt, dass die Wählerinnen und Wähler solche Spielchen mitmachen. Solange keine Koalitionen angekündigt sind, wird das Splitten nicht viel ausmachen, allenfalls bei den größeren Parteien in den Wahlkreisen den besseren Leuten und bei den kleineren Parteien vielleicht den Listen mit den bekannteren Spitzenleuten helfen. Aber wenn offen für eine Koalition geworben wird, während die anderen Parteien getrennt antreten, kann das Splitten durch die getrennt eingesetzten Stimmen zu nicht gerechtfertigten Überhangmandaten führen.

Was ist zu tun?
Das scheinbar so gerechte Wahlsystem, das mit den Listen die Ungerechtigkeit des reinen Mehrheitswahlsystems ausgleichen soll, erfüllt die Forderung nach gleichen Wahlen nicht. Ganz einfach sind die Alternativen aber nicht. Ein reines Verhältniswahlrecht würde den Parteigremien, die die Listen der Kandidatinnen und Kandidaten zusammenstellen, so viel Einfluss geben, dass das auch problematisch ist. Ein reines Mehrheitswahlrecht würde andererseits Mehrheiten an Mandaten bringen, die nicht den Anteilen in der Wählerschaft entsprechen, und würde deshalb als ungerecht empfunden. Die kleinen Parteien hätten dann wie in Großbritannien kaum Chancen. Es geht also um wichtige Entscheidungen bei der verlangten Neuregelung des Wahlverfahrens.

Für ein neues Wahlgesetz sollte m. E. auch die 5-Prozent-Klausel in Frage gestellt werden, die schon immer Gleichheit bei den Wahlen verhindert hat. 1990 war sie für den Osten aufgehoben. Das half den Bürgerrechtlern, denn sie erhielten immerhin acht Mandate, während die Grünen, die noch getrennt antraten, mit der dreifachen Stimmenzahl kein Mandat errangen. Als die PDS 2002 zwei Direktmandate errang, aber unter 5 Prozent der Zweitstimmen blieb, benötigte sie für ein Mandat über 95.800 Stimmen, 20.000 mehr als die anderen Parteien! Bei der Wahl 2009 schließlich hatte die Piratenpartei fast 850.000 Stimmen (= 2 Prozent) erhalten, aber das ergab keinen Sitz im Bundestag, obwohl es für 11 oder 12 Mandate gereicht hätte. Bei über 43 Millionen gültigen Stimmen sind 5 Prozent sehr viel, m. E. zu viel verlangt. Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, bei der Neufassung des Wahlgesetzes wegen der veränderten Situation seit der deutschen Vereinigung auch diese Regelung zu ändern.

Lösungsmöglichkeiten
Die Aufzählung der Probleme ist natürlich noch keine Lösung. Karlsruhe hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es um ein komplexes Problem geht. Der Gesetzgeber muss auf jeden Fall bis 30. 6. 2011 zwei Bereiche neu regeln: Den Ausfall von Direktkandidatinnen/Direktkandidaten und den Ausgleich von Überhangmandaten. Darüber hinaus kann und sollte er m. E. auch eine Überprüfung der 5-Prozent-Klausel aufgreifen.

Denkbar sind verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Beim Ausfall von Direktkandidatinnen/Direktkandidaten könnte es helfen, für die Kandidatur im Wahlkreis (Erststimme) Ersatzleute vorzusehen oder beim Ausfall von Kandidatinnen/Kandidaten vorzusehen, dass auf die Landesliste zurückgegriffen wird. Dann wäre keine Nachwahl nötig.
Gegen Überhangmandate können Ausgleichsmandate für die benachteiligten Parteien helfen oder ein völliges Abgehen von dem derzeitigen komplizierten System (Erststimme im Wahlkreis, Zweitstimme für eine Liste) zu Gunsten einer Listenwahl mit mehreren Stimmen und eventuell sogar der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens. Für Beides gibt es Beispiele in den Bundesländern.

Bei Abschaffung der 5 Prozent-Klausel ist zu prüfen, ob ein geringerer Mindestprozentsatz angesichts der neuen Größenordnung und der gewachsenen Unterschiedlichkeit der Länder seit der deutschen Vereinigung angemessener ist oder ob schon ein einzelnes Direktmandat ausreicht, um die 5-Prozent-Hürde zu überspringen.
Bei der Bedeutung, die das Wahlsystem für die demokratische Repräsentanz hat, sollten die Probleme jedenfalls endlich öffentlich diskutiert werden, im Bund wie in Schleswig-Holstein.

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