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Die HU und der Punitive Turn

Autobiografische Anmerkungen zu einem Kriminalpolitischen Wandel

aus: Vorgänge 194 ( Heft 2/11) S.27-44

Irrita­ti­onen aus den Anfängen der HU

Ich weiß nicht mehr genau, wann mir die HU als Institution erstmalig begegnet ist. Ich kann mich nicht rühmen, zu den „61ern” zu gehören, zu den ersten begeisterten Mitgliedern, die dem Gründungsaufruf ihres Initiators Gerhard Szczesny an zunächst 200 „Persönlichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens” auf der Gründungsversammlung am 28.August sowie der ersten öffentlichen Veranstaltung im Dezember 1961 am Gründungsort München folgten. Welch ein Aufschwung für die damit erste deutsche Bürgerrechtsvereinigung: schon im Februar 1962, nur wenige Wochen nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt, war die Mitgliederzahl auf 1203 geradezu explodiert.[1]

Der Kontext sowie die Gunst dieser Gründung, denen sicherlich ein Stück ihres spontanen Erfolgs geschuldet ist, liegen – trotz der liebevoll gepflegten Legende von einem Augsburger Aufführungsverbot für Mozarts Figaro[2] –wohl eher in der Tatsache des Bundestagswahljahrs 1961 begründet. Nur knapp drei Wochen nach der Gründungsversammlung der HU fand am 17.9.1961 der vierte Urnengang für das Bundesparlament statt. Die politische Adenauer-Dämmerung wurde durch das Wahlergebnis ein-geläutet: in der ersten Bundestagswahl mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt verlor die CDU ihre absolute Mehrheit, die SPD konnte sich um einige Prozentpunkte aus ihrem 30-Prozent-Ghetto heraushangeln.

Die Bundesrepublik hatte den liberalen Pfad westlicher Demokratien eingeschlagen – sichtbar vor allem in der Wirtschaftspolitik und selbst erfahrbar am viel gerühmten Wirtschaftswunder. Der prominente Gesellschaftsdeuter Ralf Dahrendorf, aus einem sozialdemokratisch-bürgerlichem Milieu kommend, durch die Erfahrung der NaziVerfolgung geprägt, hat diesen Prozess frühzeitig auf seinen „pluralistischen” Begriff gebracht: „Liberalität” als das kulturelle und politische Pendant der wieder in ihren früheren Stand zurückkehrenden Welt der Wirtschaft mit ihrer Konsumvielfalt und Konsumfreiheit, der selbst das Erhardsche Konzept einer „formierten Gesellschaft” als ein Bett des griechischen Unholds Prokrustes erschien. Diese aufkeimende Liberalität wurde erbittert bekämpft, davon zeugte nicht zuletzt der Wahlkampf; bis heute erinnere ich, damals dreißigjährig und noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl mit dem roten Parteibuch der SPD ausgestattet, die erste wirkliche (persönliche) Schlammschlacht der Politik: der 85jährige CDU-Kandidat Adenauer sprach in einer Regensburger Wahlkampf-Rede am 14. August 1961 – einen Tag nach dem Mauerbau – von dem damals 47jährigen „Willy Brandt alias Frahm”, Monate zuvor hatte Franz-Josef Strauss, damals Verteidigungsminister, unter Anspielung auf Brandts skandinavischen Emigrationsjahre öffentlich gefragt: „ Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.” Solche Ereignisse waren – neben anderen genuin politischen wie der „Erschwerung der Ehescheidung”, „heimliche Zensur von Literatur und Filmen“[3] – Merkmale eines gesellschaftlichen und politischen Klimas, das zunehmend als repressives Joch restaurativer Richtung empfunden wurde.

Einen weiteren Schlüssel für den frühen Erfolg der HU kann man in den Akteuren und Institutionen erkennen, gegen die sich die Gründer und Mitglieder der ersten Stunde richteten. Es sind keineswegs, wie man vielleicht meinen könnte, die Handelnden auf der politischen Bühne – diese auch, jedoch gleichsam eher nur in der Rolle von Handlangern und Marionetten, nicht von Gestaltern und Waltern der staatlichen Ordnung, die sich die Bundesrepublik nach der nationalsozialistischen Düsternis und Barbarei gegeben hatte. Wem die ersten Akteure der HU, allen voran ihr „spiritus rector” der ersten Jahre, Gerhard Szczesny, als den eigentlichen Widersachern und Feinden Paroli bieten wollten, waren die Vertreter und die Institution der christlichen Kirchen. Als ganz „persönliche Motivation” sagte es ihr Begründer in einem „Interview” mit seinem Enkel im Jahre 2000, zwei Jahre vor seinem Tod und mehr als dreißig Jahre nach dem Verlassen der von ihm gegründeten Bürgerrechtsvereinigung, in diesen Worten: „Meine persönliche Motivation ergab sich aus meinem Einblick in die Einflussnahme der katholischen Kirche und der CSU in die Personal- und Programmpolitik des Bayerischen Rundfunks … „[4] Diese Frontstellung wurde ebenso nachhaltig wie wortgewaltig formuliert. „Wir sind zu Mitläufern einer Verschwörung geworden, die unsere Entmündigung und Gleichschaltung diesmal im Namen der christlichen Heilslehre verlangt”, heißt es im Gründungsaufruf der HU, und weiter wird darin die damalige „christlichkonfessionalistische Regierungspraxis” angeprangert, durch die „(d)ie im Grundgesetz der deutschen Bundesrepublik verankerten Rechte …längst.., ausgehöhlt, wenn nicht außer Kraft gesetzt” seien.[5] Kaum verhohlen wird eine Parallele zum Naziregime gezogen und von einem „christlichen Totalitarismus” gesprochen. Und nicht nur die katholische Kirche, ihre Medien und Kreise klotzten heftig zurück – einschließlich des bis in diese Tage im Politikgeschäft anzutreffenden Kommunismusverdachts –, „…auch das angesehene Sonntagsblatt des evangelischen Bischofs Lilje…” reihte sich in die Front der HU-Kritiker in deren Anfangsjahren ein.[6] [7]

Eine letzte Pointe zur „Einbettung” der HU-Gründungsphase in das damalige gesellschaftliche und politische Geschehen sowie zur eigenen Beziehung zur HU: Nicht schon von Beginn an verstand sich die HU als „älteste deutsche Bürgerrechtsorganisation”, dessen sie sich heute so gerne rühmt – wie der HU-Veteran und Mozart-Kenner, Volkmar Braunbehrens zu Recht „(a)us den Anfängen der HU” berichtet.[8] Obwohl die UNO-Menschenrechtskonvention 1948 und die europäische Menschenrechtskonvention 1950 verabschiedet wurden, Letztere von Deutschland bereits 1952 ratifiziert wurde,gab es in den Anfangsjahren der HU keine Bezugnahme darauf, auch nicht auf die berühmte US-Vorgängerin, der „American Civil Liberties Union (ACLU)”, die weltweit wohl größte Bürgerrechtsvereinigung mit ca. 500.000 Mitgliedern, 200 haupt- und zahlreichen nebenamtlichen Anwälten und regionalen Ablegern in den USA. Nach dem heutigen HU-Selbstverständnis und ihrer Arbeitsweise kommt die ACLU der HU wohl am nächsten.

Ein auf den ersten Blick belangloses Detail verweist auf eine Selbstverständnis-Diskussion in den Anfängen der HU, die die Beziehung zum Raum der Politik ins Licht rückt. Die in Anmerkung 1 erwähnte Dissertation von Jürgen Hofmann ist unter zwei Titeln veröffentlicht: der formellen Version als „Dissertation an der LMU München” und einer verkürzten informellen Version unter der „Herausgabe” der HU – beide aus dem Jahre 1967. Die beiden Texte unterscheiden sich – neben der Weglassung des Anhangs in der HU-Version – in ihren jeweiligen Untertiteln: während dieser in der offiziellen Version.lautet: „Eine Untersuchung über Struktur und Funktion einer neuen kulturpolitischen Vereinigung”, heißt es in der HU-Version: „Ein Beitrag zur Soziologie der Intellektuellen”.

Ohne in eine philologisch-semantische Überinterpretation eintreten zu wollen, drängt sich die Vermutung auf, dass der originäre Dissertations-Untertitel den HU-Herausgebern des Textes – darunter wohl Szczesny selbst, der bekanntlich bis 1969 HU-Vorsitzender war – zu politiknah formuliert war und diese deshalb das semantische Feld der „Intellektuellen” wegen seiner Konnotation zur „freischwebenden” und „über-parteilichen” Existenz für sich beanspruchten. Insbesondere wohl wollte man sich von den „Niederungen” der Parteipolitik fernhalten. Diese Interpretation legt nicht nur ein bei Hofmann zitiertes Referat von Szczesny aus dem Jahre 1963 nahe, in dem dieser der SPD vorwirft, „…kulturpolitisch einen Kurs eingeschlagen” (zu haben), „dessen Pragmatismus kaum noch von nacktem Opportunismus zu unterscheiden sei“.[9] Dies schrieb ein Mitglied der SPD, der Szczesny damals angehörte, der auch ein weiteres SPD-Mitglied in den Gründungsvorstand berief ° und der einer Vereinigung vorstand, deren 192 befragte Mitglieder bei der Bundestagswahl 1965 zu zwei Dritteln die SPD, zu zehn Prozent die FDP und zu zwei Prozent die CDU/CSU als ihre parteipolitische Präferenz nannten. Szczesnys Distanz zur Parteipolitik war wohl mehr als das, es war die politische Attitüde, die in gewisser Weise zum Charakteristikum des typischen „Intellektuellen” gehört und die gerade in dieser Generation anzutreffen war. Diese
Distanz hat Szczesny übrigens bis in sein Alter beibehalten, als er der HU bereits Jahrzehnte den Rücken gekehrt hatte. In dem Interview mit seinem Enkel erklärt der Zweiundachtzigjährige: „Es waren diese Erfahrungen, …, dass sich … die uneingeschränkten Inhalte und Ziele einer weltoffenen Kultur- und auch Rechtspolitik erfolgreich nur in einem außerparteipolitischen Rahmen formulieren und propagieren ließen“.[11]

Diese Bemerkung verweist allerdings nicht auf eine wie immer zu bestimmende Nähe zur APO der sechziger Jahre – dem Modell- und Präzedenzfall einer außerparlamentarischen politischen Bewegung. Im Gegenteil: seine Trennung von der von ihm einst gegründeten Humanistischen Union fiel „…zusammen mit seiner Distanzierung von der APO”, die er für eine „tief greifende Umstrukturierung der Linken” verantwortlich machte, ,,…eine Linke, von der wir uns unmissverständlich distanzieren müssen, weil es mit ihr keinerlei Übereinstimmung geben kann…“[12] Im Altersinterview steigert Szczesny seine Aversion gegen diese Entwicklung: ,,…im Namen der HU (wurden) nur noch neomarxistische oder wirre libertinistische Resolutionen verfasst.“[13]

Das Linke der Studentenbewegung, das Szczesny zuwider war, wurde auch in den eigenen Reihen bekämpft. Als sich die HSU (Humanistische Studenten-Union) an den damaligen Anti-Vietnam-Demonstrationen gegen die USA beteiligten, beeilte sich die HU mit der Feststellung, „dass sie selbst sich nur mit ,kultur- und rechtspolitischen Vorgängen‘ innerhalb der Bundesrepublik befasse. ,Eine Stellungnahme zu außen- und weltpolitischen Geschehnissen liegt außerhalb ihres Aufgabenbereichs und ihrer Kompetenz‘.“[14] Aus heutiger Sicht war das eine wahrlich nicht bürgerrechtskonforme Selbstkasteiung der HU. Man kann diese Haltung deshalb auch als die Sollbruchstelle zwischen dem Gründer der HU und seiner „Gefolgschaft” bezeichnen. Auf jeden Fall lässt sich wohl eine Zäsur innerhalb der Entwicklung der HU feststellen, die Spuren bis heute hinterlassen hat – eine Feststellung, die sicherlich nicht auf einhellige Zustimmung unter den Mitgliedern dieser Bürgerrechtsvereinigung stoßen dürfte.

Wege und Umwege in die HU

Bevor ich zu einer brisanten Kontroverse in der HU, die nicht ohne persönliche Verletzungen und Ämterwechsel vor sich ging, komme, möchte ich kurz in einem Zwischenschritt meine eigene Beziehung zur HU dieser Gründungsjahre skizzieren. Zur Zeit der HU-Gründung befand ich mich noch in meinen wissenschaftlichen Aufbaujahren an der Universität Köln – im Prozess einer soziologischen Dissertation eines Themas, das meiner Promotion, nicht aber meinem späteren Arbeitsfeld den Weg bahnte. Intime Kenner der HU wie der Universität Köln mögen bei dem Adjektiv „soziologisch” aufgemerkt haben: die damalige Kölner Soziologie war identisch mit dem Namen Rene König, ein 1937 in die Schweiz emigrierter Soziologe und Ethnologe, der 1949 nach Deutschland zurückkam und für 25 Jahre an der Universität zu Köln Soziologie lehrte, die deutsche Soziologie nach ihrem fast vollständigen Exodus während der Nazi-Zeit neu begründete und damit zum Wegbereiter der us-amerikanischen empirischen Tradition dieser Disziplin wurde. Er prägte mehrere Generationen von Studenten und nahm auch mich für die Soziologie ein, obwohl mein eigentliches Fach die Betriebswirtschaft war.

Und natürlich war König ein wacher Beobachter des politischen und gesellschaftlichen Wiedererstarkens des Deutschen und der Deutschen in der Bundesrepublik – mit der Sensibilität eines Emigranten für die Wiederkehr dessen, vor dem er geflohen war, und der Courage, sich einzumischen und kaschierte braune Vergangenheiten aufzudecken. Seine Reputation und sein öffentliches Wirken verdankten sich nicht nur seinen wissenschaftlichen Leistungen und „Lesungen” im engeren Sinne, sondern seiner kosmopolitischen Orientierung und Weltläufigkeit, mit einem Schuss ins Bohemehafte – Ausdruck seiner deutsch-französischen Herkunft, seines breiten Studiums sowie seiner vielfältigen kulturellen und literarischen Interessen und Beziehungen: König war Intellektueller als Wissenschaftler.

In manchen Zügen – den anti-christlichen zumal, aber auch in der parteipolitischen Ungebundenheit – waren sich Szczesny und König sehr nahe, vielleicht auch hatte Szczesnys publizistische Tätigkeit im Bayerischen Rundfunk beide zusammen gebracht – jedenfalls war es wohl kein Zufall, dass König sich als Gründungsvorstand der HU bereit fand – ja, sich in seinen autobiographischen Erinnerungen der Titelgebung der Humanistischen Union rühmte – unter Rückgriff auf die holländische Praxis, die religiös ungebundenen Mitglieder der Gesellschaft als „Humanisten” zu bezeichnen.[15] Eine kleine Wegstrecke teilten beide auch das Unbehagen über die in die HU eindringende APO-Flut und den vermeintlichen studentischen Radikalismus, der beide dazu brachte, der HU den Rücken zu kehren: „So traten sowohl Szczesny als auch ich selber und in unserem Gefolge viele andere nach ein paar Jahren wieder aus [16], als die Humanistische Union sich weder humanistisch noch als Union gebärdete, sondern nur noch ein Deckname war für ein recht unklares Sammelsurium politisch-radikaler Sekten.“[17] Allerdings: anders als Szczesny bescheinigte König der Studentenbewegung in seinen Rückbesinnungen eine gewisse Folgerichtigkeit angesichts „eines völlig schrankenlosen Kapitalismus” und immer lauteren „Ruf(es) nach Law and Order.“[18] Der Schlüssel für diese Differenz zwischen den beiden HU-Gründern lässt sich vielleicht auf diese Formel bringen: Szczesny war literarischer, König soziologischer Intellektueller.[19]

Das Stichwort des „Intellektuellen” gibt Gelegenheit, an ein weiteres Gründungsmitglied der HU zu erinnern. Die HU bewegte sich in den Anfangsjahren in einem gesellschaftlichen Klima, in dem viele Menschen noch eher Distanz als Nähe zur Politik pflegten. Umso bedeutsamer waren Faktoren wie „Prestige” und „Reputation” von Personen, die für eine Politik eintraten. Genau deshalb war die Gründungsbeteiligung von Alexander Mitscherlich, dem Schwiegervater des späteren HU-Vorsitzenden Jürgen Seifert, ebenfalls ein Glücksfall für die HU. Auch er gehörte zu den ausgewiesenen Nazi-Gegnern mit Emigrations- und Gestapo-Erfahrungen, und er verschaffte sich als Psychoanalytiker, Gründer des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, als Anhänger der kritischen Theorie sowie mit einer Reihe von in die Gesellschaft hineinwirkenden und die Gesellschaft bloß legenden Publikationen bis weit über die Grenzen seiner Wissenschaft hinaus Resonanz und – nicht immer – Akzeptanz.[20]

Mein Kölner soziologisches Studium verschaffte mir nicht nur einen „anderen” Blick auf die Gesellschaft, sondern formte auch eine bewusste politische Orientierung, die an die Stelle der diffusen ländlichen Mentalität konservativer Prägung eines Bauernsohnes aus den ehemaligen deutschen Ostprovinzen trat. Diese politische Bewusstwerdung führte mich in einer Atmosphäre des „Kennedy“-Aufbruchs, die Willy Brandt verkörperte, zur SPD, der ich – bei aller seitherigen Ernüchterung – bis heute „treu” geblieben bin. Das war nicht immer leicht – als in Köln studentische Demonstrationen die Universität und auch die Stadt durch Sitzblockaden, Sit-ins etc, heimsuchten, ich selbst als damaliger Stadtverordneter nicht einfiel in die Verurteilung meiner Genossen, setzte es manche bösen Worte und regelrechte Schelte.

Mein Eintritt in die Humanistische Union ließ noch einige Jahre auf sich warten – es war das Jahr 1976. Die Umstände hingen mit zwei für mich entscheidenden beruflichen Schritten zusammen. Der erste bestand in meinem weiteren soziologischen Arbeitsfeld, das für die Soziologie weitgehendes Neuland und eine Domäne des Strafrechts einerseits, der Psychiatrie, Psychologie, ja: auch der Biologie anderseits war: abweichendes Verhalten im weitesten Sinne, mit Kriminalität als dem bedeutendsten Teilsaspekt dieses von der deutschen Soziologie bis dahin weitgehend unbeackert gebliebenen Forschungsbereichs, einschließlich der – auch hier weit gefassten – sozialen Kontrolle, mit dem Strafrecht als zentrale Institution der gesellschaftlichen und staatlichen Reaktion auf Normverletzungen aller Art. Für das Beackern dieses Feldes hatte ich mich während eines einjährigen US-Aufenthalts – den größten Teil an der University of California in Berkeley/Cal. – gleichsam aufgerüstet und von dort eine Perspektive importiert, die die deutsche Diskussion in Kriminologie und Soziologie entscheidend erweitert hat, indem sie konsequent Kriminalität und Strafrecht als gesellschaftliche und „politische” Phänomene betrachtete – wie es ein halbes Jahr- hundert zuvor der französische Anthropologe A. Lacassagne auf die plakative Formel gebracht hatte: „Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient”. Kritiker dieser Position nennen das Projekt „kritische Kriminologie”, um es auf Distanz zur „eigentlichen” Kriminologie zu halten – und vergessen dabei, dass Wissenschaft nur als „kritische” eine Funktion besitzt.

Aus den USA brachte ich ein Verständnis des kriminologischen Gegenstands mit, das bis heute auf seine uneingeschränkte Akzeptanz unter Kollegen wartet. Es stammt von dem auch international berühmten „Erfinder” des „white collar crime”, dem Soziologen Edwin H. Sutherland. Er reklamierte als wissenschaftliche Zuständigkeit der Kriminologie drei separate, aber zusammenhängende Forschungsfragen: „The Making of Crime, the Breaking of Crime, and the Reaction to Breaking of Crime” – ein Selbstverständnis der Kriminologie, wie man es in deutschen Lehrbüchern, wie etwa dem auflagenstärksten unter ihnen, dem des früheren niedersächsischen Justizministers Hans-Dieter Schwind, vergeblich sucht. Prozesse der „Kriminalisierung” und die so genannte Erforschung der Instanzen sozialer Kontrolle, wie der Polizei, der Staatsanwaltschaft, der Gerichte, des Strafvollzugs sowie der diversen Dienste der Justiz sind deshalb ergiebige – und brisante – Forschungsfelder.

Und noch eins ist anzufügen: die Soziologie zeichnet eine prinzipielle, vielfach empirisch begründete Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des Strafrechts als alleinigem Instrument der Kontrolle, ja: auch nur der Reduzierung von Kriminalität aus – R. König sah in ihm gleichsam ein überkommenes, „atavistisches” Relikt der Vormodeme, empirische Forscher erkannten in der Todesstrafe ein Instrument der „Brutalisierung” der Gesellschaft[21], nicht der Reduktion von Kapitalverbrechen etc. Ein Buch von Arno Plack aus dem Jahre 1974 mit dem Titel „Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts” fand viel Widerhall, nicht nur bei den so genannten „Abolitionisten” in Strafrecht und Kriminologie, sondern in der kritischen Kriminologie überhaupt, und wenn auch nur als Ausdruck der Überzeugung, dass das Strafrecht und seine Instanzen die eigenen Ansprüche und Erwartungen notwendig und nachhaltig verfehle, zumal in einer Gesellschaft, deren Entwicklung gemäß dem Titel eines bereits 1979, erschienenen Buches zu charaktierisieren ist: „The Rich Get Richer and The Poor Get Prison  [22]

Der zweite berufliche Schritt, der mich der HU näher brachte, war ein universitärer Orts- und Fakultätswechsel. Ich verließ 1974 nach vier Jahren meine erste Professur für Soziologie an der Universität Regensburg und folgte einem Ruf an die neu gegründete rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Hannover. Hannover war in den siebziger Jahren Ausgangspunkt bis heute nachwirkender justizpolitischer Auf- und Umbrüche. Motor dieser Entwicklung war der legendäre Rechtsanwalt Werner Holtfort, der ein entscheidender Initiator sowohl des Republikanischen Anwaltsvereins (RAV) wie der Strafverteidiger-Vereinigungen war – in dessen Büro übrigens auch der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder juristische Kompetenzen erwarb. Holtfort gehörte zur Gründungsgruppe der rechtswissenschaftlichen Fakultät, die allerdings nach wenigen Jahren die nicht-juristischen Elemente ihrer Ausbildung wie krebsartige Fremdkörper wieder abstieß. Dies war für mich ein Anlass, einem Ruf an die Universität Hamburg zu folgen und mich an dem Aufbau der ersten autonomen kriminologischen Ausbildung in der deutschen Universitätslandschaft zu beteiligen. Hannover ist bekanntlich auch der Herkunftsort bedeutender Funktionsträger der HU: zwei ihrer jüngeren Vorsitzenden – Jürgen Seifert und Ulrich Vultejus – kamen aus Hannover, mit Letzterem teilte ich sogar die gleiche Straße, gelegentliche Nachbarschaftstreffen eingeschlossen.

So entstanden Milieu und Gelegenheit, um Ziel und Arbeit der HU kennenzulernen, mit der geradezu „naturwüchsigen” Folge einer Mitgliedschaft. Diese war zunächst eine „Kartei“mitgliedschaft, durch sich zunehmend überlappende Interessen und Aktivitäten wurde ich jedoch vertrauter mit der Arbeit der HU, die ihrerseits kriminologische Themen und Methoden in ihre Interessenschwerpunkte inkorporierte beziehungsweise wieder stärker nach vorne rückte. Hinzu kam die Schaffung eines kriminologischen Studiengangs zur beruflichen Fort- und Weiterbildung von Angehörigen justizbezogener Berufe. Das langjährige HU-Vorstandsmitglied aus Lübeck, die Rechtsanwältin Gunda Diercks-Elsner, Absolventin dieses so genannten Kontakt-Studiengangs, überredete mich schließlich, für den Vorstand der HU zu kandidieren, was denn auch zu meiner achtjährigen Zugehörigkeit zum HU-Vorstand von 1997 bis 2005 führte.

Die HU und das Strafrecht: eine Zäsur?

Ich komme jetzt zu meinen Erfahrungen als kritischer und strafrechtsskeptischer Kriminologe mit dem Umgang der HU mit einem Politikfeld, auf dem ich mich wissenschaftlich zu Hause wähne und das in der Bürger- und Menschenrechtsarbeit der HU eine durchaus wechselvolle Rolle gespielt hat – und bis heute spielt. Von Beginn meiner Mitgliedschaft im Bundesvorstand an begleitete mich die Auseinandersetzung mit der deutschen Kriminalpolitik jener Jahre gleichsam auf zwei Pfaden– dem professionellen und dem bürgerrechtlichen. Es waren nicht nur getrennte, sondern auseinander driftende Pfade. Beide bedürfen der Erläuterung – der professionelle etwas knapper, der bürgerrechtliche wegen des hier zur Debatte stehenden Kontextes ausführlicher.

Um die professionelle Seite kurz zu skizzieren, möchte ich mich auf einige an anderer Stelle veröffentlichte Texte von mir beziehen, in denen ich mich mit dem inzwischen zum geflügelten Wort gewordenen „punitive turn” wissenschaftlich und kriminalpolitisch beschäftige. In einem längeren Aufsatz, den ich zusammen mit einem Historiker in einem Band über „Unsichere Großstädte?“[23]verfasst habe, habe ich in dem von mir verantworteten Part –„Der aktuelle Sicherheitsdiskurs” (S. 28 ff.) – vor allem die „repressive Wende in der Strafrechtspolitik” zum Gegenstand meiner Überlegungen gemacht. Der Aufsatz ist Ende der neunziger Jahre entstanden – die Problematik hat mich seither nicht mehr losgelassen und mich natürlich während der gesamten Periode meiner HU-Vorstandstätigkeit begleitet. Auf einer Tagung der „Konkurrenz“-Organisation der HU, dem „Komitee für Grundrechte und Demokratie”, im September 2000 habe ich meine Überlegungen fortgeführt und später für eine Dokumentation der Tagung ausgearbeitet, deren Hauptakzent auf der präventiven Aufrüstung der Polizei lag,[24] In einer Reihe weiterer Vorträge und Aufsätze habe ich seither diese Entwicklung verfolgt, nachgezeichnet und ihre Generalisierung über die USA hinaus auf andere westliche Länder – so auch auf Deutschland – empirisch ausgewiesen, zuletzt in einer englisch-sprachi~en Publikation unter dem Titel: „Stopping the ,punitive turn‘ at the German border”.[25]

Die internationale Diskussion dieser dramatischen kriminalpolitischen Wende hin zu einer Renaissance des repressiven Strafrechts ist entscheidend durch eine preisgekrönte Monographie des wohl prominentesten gegenwärtigen Kriminologen geradezu explodiert. Der schottische, seit etlichen Jahren an der New York University lehrende Kriminologe David Garland hat 2001 eine Studie mit dem Titel „The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society” publiziert.[26] Darin belegt er an einer Reihe von Einzelerscheinungen aus Strafrecht und Kriminalpolitik für die USA sowie für England die Titelthese – u. a. an der Krise der Resozialisierung, dem zunehmenden Rückgriff auf das Gefängnis, der machtvollen und alles durchdringenden Opferperspektive sowie einer Reihe anderer Merkmale. Insgesamt, so eine Schlussfolgerung Garlands, habe die Kriminalpolitik den dominanten Pfad einer rationalen, humanisierenden, wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung verlassen und eine regelrechte Kehrtwendung um 180 Grad gemacht – nach einem von ihm mehrfach zitierten Motto des konservativen Nachfolgers von Margret Thatcher, John Major, dass es darauf ankäme, „to condemn more and to understand less”.

Mit einiger Verzögerung ist diese Studie auch ins Deutsche übersetzt worden, nach-dem ihre Aufnahme unter deutschen Kriminologen in ihren Rezensionen zunächst auf den Nenner zu bringen war: das mag ja für die USA zutreffen, nicht jedoch für Deutschland. Der Frankfurter Campus-Verlag hat im Jahre 2008 die deutsche Version unter dem Titel „Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart” herausgebracht, einschließlich eines längeren Vorworts von dem Soziologen Axel Honneth und dem Strafrechtler Klaus Günther – beides renommierte Vertreter ihres Faches, die die Einschlägigkeit der Studie auch für die deutsche Situation ohne Vor-behalte ausweisen. Es war der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, der diese Einschätzung bestätigte, als er im Jahr 2000 in einem Vortrag vor Juristen über die repressive Renaissance des Strafrechts gesprochen hat. Die Frankfurter Rundschau hat diesen Vortrag unter dem Titel „Die neue Lust auf Strafe” dokumentiert.[27] Als letztes möchte ich auf die Diskussion um die Entwicklung einer „feindstrafrechtlichen” Sonderbewegung des deutschen Strafrechts hinweisen, die seinem „Erfinder”, dem bedeutenden Strafrechtstheoretiker Günther Jakobs, zwar beträchtliche Kollegenschelte wegen seiner angeblich affirmativen Haltung, jedoch weniger wegen seiner rein tatsächlichen Feststellung eingetragen hat. [28]

Solcherart war mein „kulturelles Vorverständnis” bzw. wissenschaftliches „Kapital” in Bezug auf ein Aktivitätsfeld, von dem ich aus meinen ersten Kontakten zu Repräsentanten und Dokumenten der HU wusste, dass es ein etablierter Themenbereich bürgerrechtlicher Aufmerksamkeit und „Zuwendung” darstellte. Allerdings ist dazu eine wichtige Präzisierung und Konkretisierung erforderlich. Die Beschäftigung der HU mit dem Strafrecht – mit der strafrechtlichen Sozialkontrolle im umfassenden Sinne – ist durchaus selektiver und eher punktueller als grundsätzlicher Art. Weder hat sich die HU zur Diskussion um die Entkriminalisierung, die Entinstitutionalisierung, Entpönalisierung der siebziger und achtziger Jahre sichtbar und nachhaltig hervorgetan, geschweige denn „ketzerischen” Gedanken in Richtung Abschaffung des Strafrechts angehangen, noch hat sie der oben skizzierten kriminalpolitischen Wende Aufmerksamkeit, gar mahnende und Einhalt gebietende Erklärungen oder Einsprüche gewidmet. Sie hat Engagement für Gefängnisarbeit gefordert und gefördert, den Strafvollzug selbst als Institution nicht in Frage gestellt,,die EU-Standards angemahnt – sie hat gerade eine längst fällige und verdienstvolle Tagung zum Strafvollzug organisiert, auf der eine Reihe von ebenso intimen wie kritischen Kennern der Materie zu Wort gekommen sind[29], aber auch hier versäumte sie den Blick über die institutionellen Grenzen des Strafvollzugs hinaus – zugunsten einer im Wesentlichen im Appellativen und im Voluntarismus verharrenden Position [30]Weitgehend taub und unberührt blieb die Humanistische Union in ihrer bisherigen Geschichte gegenüber prinzipiellen Problemen des Strafrechts bezüglich seiner Eignung zur „Lösung” gesellschaftlicher Probleme, seiner „unbeabsichtigten” Nebenfolgen, seiner „populistischen” Instrumentalisierung durch Politik und Medien etc. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen die belegbare intensive Aktivität der HU auf einem Teilgebiet des Strafrechts, dem Sexualstrafrecht, dem im Folgenden die Aufmerksamkeit gilt. Ganz im Gegenteil: im Umgang mit dem Sexualstrafrecht spricht die HU eher mit einer gespaltenen Zunge, nimmt sie das Strafrecht affirmativ und instrumentell in Anspruch, wie wir sehen werden.

Die HU und das Sexual­straf­recht:
im Kreuzfeuer von Moral und Medien

In dem erwähnten Alters-Interview von Szczesny von 2000 erinnert er sich an die frühen Aktivitäten der HU zur „Abschaffung der Paragraphen 175 und 218 des Strafgesetzbuches“, wozu „..,kompetente HU-Mitglieder Dokumentationen … zur Vorlage im Parlament vorbereitete(n)”. Die Abschaffung des § 175 erfolgte bekanntlich schrittweise – zunächst wurden 1969 die homosexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen straffrei gestellt, die vollständige Streichung des § 175 musste noch bis 1994 warten.

Die „Reform” der strafrechtlich bewehrten Regeln zur Abtreibung bzw. zum Schwangerschaftsabbruch nach § 218 war bekanntlich ein Thema des ganzen vorigen Jahrhunderts – seine Umsetzung nach dem letzten Weltkrieg ein Prozess der Aushandlung und der Erprobung zwischen den politischen Parteien und auch dem Parlament und dem Bundesverfassungsgericht, nicht zu vergessen die Anstrengungen dazu von der „Straße” und den nicht-institutionellen Akteuren aus der Zivilgesellschaft, insbesonderen Feministinnen. Die endgültig gefundene Lösung ist regelungstechnisch ein Verbot mit vielen Ausnahmen, faktisch eine Regelung, die etwa im Jahre 2010 zu 110.0001egalen Schwangerschaftsabbrüchen geführt hat – eine Mischung aus den beiden Modellen der Fristen- und Indikationslösung. Zu den Verfechtern der Straffreiheit der Abtreibung gehörte auch die HU – gleichsam „automatisch” angesichts ihrer erbitterten Gegner aus dem Bereich der Kirchen, der katholischen in Sonderheit, und ihren affinen Akteuren aus der Welt der Politik.

Wie kein anderes Deliktfeld sind die Sexualdelikte paradigmatische Chiffren für sittliche und moralische Konflikte und Kreuzzüge. Darin spiegeln sich zugleich elementare und intime Sozialbeziehungen, und sie sind Elemente und Mikroarenen gesellschaftlicher Macht und Auseinandersetzung. Ihr Code ist der von Moral und Werten, deren Potential in der ihnen angesonnenen Kraft ihrer Universalisierbarkeit liegt – moralische Ansprüche treten auf und zielen auf absolute Geltung und sind prinzipiell nicht negotiabel. Sie sind dem Anspruch nach nicht an Interessen gebunden – sie sind nicht „lobbyfähig” bzw. „bipartisan”, wie es in der amerikanischen Politik für politische Entscheidungen heißt, die nicht politikfähig im Sinne alternativer parteipolitischer Positionen sind. Der bedeutende, zu früh verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu hat den Absolutheitsanspruch moralischer Forderungen mal dahingehend charakterisiert, dass dieser bereits dadurch verletzt würde, dass man sich ihn zu begründen oder zu rechtfertigen genötigt sieht. Wer solche Ansprüche gleichwohl in Frage stellt, riskiert Reputation und Ausschluss aus der Gemeinschaft. Diese Erfahrung habe ich in der Zugehörigkeit zum HU-Vorstand in sehr direkter Anschauung und Betroffenheit gemacht.

Dazu ist zunächst eine allgemeine Vorbemerkung über die Entwicklung der straf rechtlichen Regulierung des sexuellen Verhaltens im Kontext der oben skizzierten kriminalpolitischen Wende für das Verständnis des HU-internen heftigen Konflikts hilf-reich. Wiederum sei der Diskussion über die deutsche Situation ein kurzer Blick auf die analoge außerdeutsche Erörterung vorausgeschickt. Der oben erwähnte Stichwortgeber des „punitive turns”, David Garland, hat den sexuellen Kindesmissbrauch als Beispiel und Prototyp einer „dämonisierenden” und eskalierenden Kriminalpolitik identifiziert – ,,…an obsessive focus of media and political discussion, quite out of proportion to the frequency of such offending, or to the amount of harm it does when compared to more structural forms of injury and neglect..“[31] Garland, dessen Befunde sich auf die USA und England beziehen, steht mit seiner Diagnose nicht allein. Drei Jahre nach ihm nimmt sich Steven Angelides, ein in Geschichte und „gender studies” promovierter australischer Forscher von der renommierten Monash University, des Themas der Pädophilie und der Kindersexualität in historischer Perspektive und um die australischen Erfahrungen erweitert an. Er spricht von einer „veritable explosion of cultural panic and alarming media reportage regarding an apparent ,crisis‘ of pedophilia. Und weiter: „Selbst die Frage nach der Irrationalität der Pädophilen-Angst ist vielen schon verhasst“.[32] Eine weitere – aktuelle – Quelle bietet ein Aufsatz, der gerade in der theoretisch besten Zeitschrift der Kriminologie erschienen ist. Darin wird auf interessante Weise auf der Basis einer historischen Analyse von „pädophilen” Filmen – beginnend mit Fritz Langs ersten Tonfilm „M. Eine Stadt sucht einen Mörder” – eine Gegenüberstellung wissenschaftlicher und „populärer” Kriminologie vorgenommen. Dabei wirdder Wandel des „Bildes” der Pädophilie und des pädophilen Täters zum heute vorherrschenden Profil eines „ arguably the most feared and vilified of all ,predatory strangers” [33] nachgezeichnet. Die letzte Stimme zur Bedeutung der Pädophilie in den modernen Gesellschaften ist die in meinen Augen bedeutendste – sie stammt nicht aus der Feder eines kritischen Kriminologen, auch hat sie kein Sexualforscher oder Gender-Spezialist zu Papier gebracht, sondern es ist die Beobachtung des international renommierten polnisch-englischen Soziologen Zygmunt Bauman, der den Umgang der Gesellschaft mit der Pädophilie zum Signum der Sicherheitsgesellschaft gemacht hat. Zustimmend zu einer im „The Guardian” am 24. April 1998 erschienenen Reportage über mehrtägige „Belagerungen einer Polizeistation in einer nordenglischen Kleinstadt, in der einem entlassener Missbrauchstäter Schutz gewährt wurde, schreibt Bauman: „ Es gibt nur noch sehr wenige Gruppen von Menschen, die man auf ehrenhafte Weise hassen darf. Pädophile sind genau das Richtige“[34]

Die für die verschiedenen angelsächsischen Länder ermittelten Befunde lassen sich auch für die Bundesrepublik konstatieren. Die Richtung und Bewegung der deutschen Kriminalpolitik spiegelt sich paradigmatisch in der strafrechtlichen Behandlung des Sexualverhaltens – über die Beispiele der Homosexualität und des Schwangerschaftsabbruchs hinaus. Sowohl in der Periode der Liberalisierung des Strafrechts, die erst mit den so genannten Anti-Terrorgesetzen der siebziger Jahre zur Umkehr kam, standen die Sexualstraftaten – neben Teilen der politischen Straftaten – für eine weitgehende „Entkriminalisierung”, wie sie umgekehrt die kriminalpolitische Verschärfung des Strafrechts in den Jahren danach ganz entscheidend beflügelten, ja, antrieben.Dieser Wandel von einer kriminalpolitischen Liberalisierung zu einer Renaissance strafrechtlicher Repression dem Gebiet des Sexualstrafrechts begründet und legitimiert sich aus einer prinzipiellen Umstellung des grundlegenden „Erzeugungsprinzips” und der Konstruktionslogik des Strafrechts. Der Liberalisierungs- phase lag das Ziel der „Entmoralisierung” zugrunde – nach der Einsicht, dass das Strafrecht keine Moralinstanz darstellt, sondern das Steuerungsmedium des säkularisierten Staates. Diese Trendwende des Sexualstrafrechts trägt die Überschrift „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung” – unter diesem Bann’er fand und findet eine ungebremste Verschärfung des Strafrechts statt, die insbesondere den Schutz der Kinder und Jugendlichen als Legitimation zitiert. Stichworte dafür sind die Pornografie zum einen, die Pädophilie zum anderen. Drei deutsche Strafrechtslehrer stellten bereits 2004 fest, dass das Sexualstrafrecht inzwischen zur Speerspitze der kriminalpolitischen Entwicklung überhaupt geworden sei.[35]

Dass der staatliche und gesellschaftliche Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch zum Schwungrad der Punitivität geworden ist, lässt sich am zuverlässigsten an der politischen und legislativen Skandalgeschichte des stufenweisen Ausbaus des zur Zeit des Nationalsozialismus in das Strafrecht eingeführten Instituts der Sicherungsverwahrung ablesen. Dieser geschah wiederholt vor allem mit Blick auf derartige schlimme Straftaten. Es bedurfte bekanntlich erst des Hinweises des Straßburger Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, um den Euphemismus der Sicherungsverwahrung als nicht-strafende Maßregel der Besserung und Sicherung aus der Welt zu schaffen – und damit auch den Bruch des verfassungsrechtlich gesicherten Verbots der rückwirkenden Verhängung von Strafe. Signifikante innerdeutsche Stimmen, zumindest solche, die als institutionalisierte oder selbsternannte Hüter von Recht und Verfassung zu betrachten sind, haben – von Ausnahmen abgesehen – den Spruch aus Straßburg weder antizipiert noch ihn, als er dann ergangen war, ohne Murren akzeptiert. Auch die Stimme der HU war nicht recht vernehmbar.

Die Geschichte eines internen „Verbandss­treichs”

Dieser abschließende Teil meiner Überlegungen rekonstruiert meine innerverbandlichen Erfahrungen im Umgang der HU mit dem Problem des sexuellen Kindesmissbrauchs. Tatsächlich erstreckten sich meine einschlägigen Erfahrungen auf die gesamte von 1997 bis 2005 dauernden Zugehörigkeit zum Bundesvorstand der Vereinigung. Obwohl diese eine detailliertere Erörterung verdienten, als ich sie hier leisten kann, ist ihre grobmaschige Skizzierung unverzichtbar.

Meine erste Berührung mit dem Problem des sexuellen Kindesmissbrauchs bzw. der – in dieser Begrifflichkeit –„Pädophilie“ ging auf einen zeitlich genau fixierbaren äußeren Anlass zurück, auf den der HU-Vorstand glaubte reagieren zu sollen. In der FAZ v. 13.1.98 erschien – unter dem Titel: „Komm jetzt – Du hast mich doch lieb” – ein halbseitiger Artikel des bekannten Feuilletonisten Konrad Adam, der eine vernichtende Kritik am Inhalt eines Buches des Soziologen und HU-Beiratsmitglieds Rüdiger Lautmann enthielt, dabei gleichzeitig die Deutsche Forschungsgemeinschaft wegen ihrer Förderpolitik ins Visier nahm, pauschal die Soziologie der Verletzung „natürlicher Gefühle und kultureller Selbstverständlichkeiten” zieh und ihr vorhielt, gesellschaftliche Tabus zu zerstören. Die Überschrift des Artikels entsprach dem „0-Ton” eines der von Laut-mann interviewten pädophilen „Probanden”. Das inkriminierte Buch war vier Jahre zu-vor erschienen und legte auf ungeschminkte Weise die „Binnenwelt” einer Reihe von Pädophilen frei, die es in dieser Weise bislang nicht gab. Es war eine Art Nebenprodukt eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts von Lautmann.

Dieser FAZ-Artikel löste einige öffentliche Diskussion aus, rief unmittelbar die DFG-Spitze auf den Plan, die durch ihre Pressereferentin sich mit der Adam-Kritik solidarisierte, fand einige Tage danach eine Aufnahme in der SZ – mit der gleichen Tendenz wie in der FAZ. Der HU-Vorstand bat mich sowie ein weiteres Vorstandsmitglied um einen Lautmann verteidigenden Leserbrief an die SZ. Dieser kam nach mehreren Entwürfen zustande, stieß indessen nicht auf die Abdruckbereitschaft des zuständigen SZ-Redakteurs. Den Leserbrief-Text hatte ich selbst weitgehend entworfen, u. a. auch deswegen, weil ich als damaliger gewählter Fachgutachter der DFG an der Bewilligung des erwähnten Forschungsprojekts mitbeteiligt war.

Bemerkenswert und mit Beobachtungen aus außerdeutschen Zusammenhängen übereinstimmend war schon damals die Konstellation der Akteure der Pädophilie-Kritik. Die FAZ und die SZ stehen für jeweils ein spezifisches Klientel bzw. zielen auf Leserschaften mit zwar differentem ideologischen und politischen Profil, die indessen bezüglich der hier in Rede stehenden Sexualstrafpolitik deutliche Konvergenzen auf-weisen. Der oben erwähnte Garland sieht die von ihm identifizierte Verschärfung der Kriminal- und Strafpolitik aus zwei politischen und gesellschaftlichen Teiltendenzen und partiellen Strömungen geschürt und begünstigt, einer neo-konservativen einerseits, einer neo-liberalen anderseits. Die beiden überregionalen Tageszeitungen FAZ und SZ stehen zweifellos für diese beiden politischen und ideologischen Strömungen, wobei die FAZ den neo-konservativen Part vertritt. Dagegen gehört die SZ wohl dem Selbst- und Fremdverständnis gemäß nahezu ausschließlich zu den medialen Stützen des wirtschaftlichen Neo-Liberalismus, politisch hingegen hat sie eine Affinität zur FDP alten Typs ä la Karl-Herrmann Flach und Ralf Dahrendorf bestehen dürfte.

Für beide mediale Akteure dürfte zutreffen, dass sie nicht unerheblich den gesellschaftlichen und staatlichen Wandel ebenso widergespiegelt wie mitgeprägt haben, dem nach Garland die kriminalpolitische Wende geschuldet ist und den er wie folgt pointiert hat: „War die Parole der sozialen Demokratie nach dem Kriege ökonomische Kontrolle und soziale Befreiung gewesen, so lautete der Rahmen, den die Politik in den 1980er Jahren vorgab, nunmehr ökonomische Freiheit und soziale Kontrolle, „[36] Auf die Trägerschaft der Pädophilen-Kritik und -verfolgung ist gleich noch einmal zurück zu kommen.
Die Skandalisierung der Publikation von Lautmann durch FAZ und SZ ist zwar sachlich, nicht jedoch schon tatsächlich als Ausgangspunkt der innerverbandlichen Kontroverse zu betrachten. Denn Vorboten dieser Diskussion reichen bis in den Beginn der neunziger Jahre zurück – indessen blieben sie in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Als symptomatisch und spätere Vorgänge vorzeichnend sei daran erinnert, dass bereits 1992 eine erste verbandsinterne Kontroverse um den SPD-Vorschlag einer Verjährungsverlängerung des sexuellen Kindesmissbrauchs zu beobachten war, die sich gegen die Ablehnung des damaligen Vorsitzenden U. Vultejus in den HU-Mitteilungen manifestierte.[37] Intensität und Personalisierung der Debatte in der HU um die Pädophilie erreichten ihre bis dahin nicht gekannte Schärfe in der HU-Diskussion um die Sexualstraftaten jedoch erst etliche Jahre später. Erst noch nahm die verbandsinterne Diskussion für einige Zeit den bis dahin eher liberalen Kurs. So beteiligte sich Lautmann noch kurze Zeit nach der gegen ihn gerichteten Kritik in FAZ und SZ an einer öffentlichen gemeinsamen Veranstaltung von HU und dem „Komitee für Grundrechte und Demokratie” im Mai 1998 in Köln zu dem Thema „Sexualität und Recht”. Ebenso berichtete dort der 2009 früh verstorbene, u. a. gegen die lebenslange Freiheitsstrafe streitende, unvergessliche Hartwut-Michael Weber von seinen und seines Mitautors Wolf-Dieter Narr Überlegungen „Zur aktuellen Debatte über Strafverschärfungen für Sexualstraftäter“[38]. Damals noch eine Routine-Veranstaltung der HU in liberaler Kontinuität ihrer kriminalpolitischen Aktivitäten der Anfangszeit – aus heutiger Sicht eher ein Sakrileg in den Augen dieser Bürgerrechtsorganisation.

Diese „Transformation” von einer strafrechtskritischen zu einer strafrechtsgeneigten Orientierung in Sachen Sexualstrafrecht geschah in einer Radikalität und mit einer fundamentalistischen Konsequenz, die unzugänglich war für rationale Erwägungen der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Angemessenheit staatlicher Maßnahmen der Problemlösung, wie es die rechtsstaatlichen „Errungenschaften” moderner Staatlichkeit eigentlich gebieten – das weiter oben berichtete Zitat von Angelides über die Struktur von Moralpaniken, wonach schon die Anmahnung von Rationalität auch in Fragen der Päsosexualität Hass auslösend sei, pointiert die emotionalen Begleitumstände des „Politikwandels“ der HU zu den Sexualstraftaten. Eine vom HU-Bundesvorstand mit satzungsgemßen Beschluss im Juni 2000 einstimmig angenommene „Erklärung zum Sexualstrafrecht” erfuhr wenige Monate später auf einem satzungsgemäß dazu nicht befugten so genannten Verbandstag[39] in Marburg eine knappe Ablehnung.

Diese Erklärung wendete sich – mit Bezug vor allem auf das Sexual- und Jugendstrafrecht – gegen die zunehmende Tendenz, mittels Strafrecht und Repression „den Schutz und die Förderung von Kindern und Jugendlichen .., gewährleisten” zu wollen und setzte dem „das Konzept einer rationalen Kriminalpolitik” entgegen. Als prototypisch für diese Entwicklung der Kriminalpolitik „im Zuge einer unübersehbaren und globalen Rückkehr staatlichen Handelns und Regierens zu dem Mittel der strafrechtlichen Repression und einer ebenso unbestreitbaren Zunahme punitiver Tendenzen in der Gesellschaft…” wurde der „sexuelle Kindesmissbrauch” herausgestellt, wie wir ihn oben auch als Moment der internationalen Diskussion identifiziert haben.

Dies war der Ausgangspunkt weiterer Attacken und massiven Drucks auf den Bundesvorstand, seine kriminalpolitische Position in Sonderheit zu Fragen des Umgangs mit Sexualstraftaten und –tätern zu korrigieren.

Während die vom Vorstand gewünschte und betriebene Einrichtung eines runden Tisches zur weiteren Diskussion der sachlichen Differenzen zur Frage der Behandlung der Sexualkriminalität nicht zustande kam, betrieben Akteure von inner- und außerhalb der HU eine Kampagne gegen den Vorstand – mit dem Ziel, ihn zu einer strafrechtsaffirmativen Position und Stellungnahme zu Fragen des abweichenden Sexualverhaltens zu bewegen.

Diese Kampagne reichte bis in den Vorstand hinein – bis zum Rücktritt eines seiner Mitglieder wegen der – zuvor im Vorstand diskutierten und einstimmig[40] gebilligten – aktiven Teilnahme dreier anderer seiner Mitglieder an der bis heute dämonisierten „Arbeitsgemeinschaft für Humane Sexualität (AHS)”, von der sich die HU mittlerweile nach jahrelanger Kooperation institutionell getrennt hat. Die drei an der AHS- Sitzung im November 2003 teilnehmenden Vorstandsmitglieder hatten Referate übernommen – so der Autor zu dem Thema: „Die neue Straflust am Beispiel des Sexualstrafrechts”. Der damalige Vorsitzende sprach über „Journalisten als Ermittler – Eingriff in das rechtsstaatliche Strafverfahren”. Nicht jedoch der etwaige Inhalt der Referate war der Stein des Anstoßes, sondern die Teilnahme überhaupt – gleichsam nach Art des berüchtigten „Kontaktverbots” aus Zeiten der Terrorismusbekämpfung, wobei letztere Analogie auch unter dem Stichwort der „Sympathisanten“-Verfolgung zu ziehen wäre – die die damalige HU übrigens noch öffentlich gegeißelt hat. Die Entwicklung gegen Vor-stand und bisherige Position der HU in Sachen Sexualstrafrecht erhielt eine weitere und sich beschleunigende Dynamik durch zwei andere Faktoren bzw. Akteure. Zum einen betrieb eine „vigilante” Organisation namens „Carechild e.V.” eine militante und diffamierende Hetzjagd gegen vermeintliche Verharmloser und Unterstützer pädophiler Täter. Ihr genügte es, wenn jemand Einwände gegen die mittlerweile vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als verfassungswidrig erklärte Verschärfung der Sicherungsverwahrung mittels nachträglicher Verhängung zu erheben, um ihn der Pädophilie-Sympathie zu zeihen.[41] Adressat solcher E-Mails waren die HU, ihre Beiräte ebenso wie einzelne Mitglieder, deren Carechild sich als Mitstreiter sicher wähnte. Zum anderen hat sich die Sendung „Report” des Bayerischen Rundfunks des Themas in interes-siert-selektiver und Ruf schädigender Weise angenommen. Diese wurde schon tags dar-auf von Carechild zu einer neuerlichen Kampfes-Adresse an die HU genutzt.

Unter weiterer Aktivierung auch des Beirats, sah sich der Vorstand in seiner August-Sitzung 2004 unter buchstäblich fremdbestimmten und demütigenden – wenn auch hingenommenen – Umständen und Verfahren gezwungen, eine dogmatische und straf-rechtsaffirmative Erklärung zum sexuellen Kindesmissbrauch sowie eine Distanzierung von der AHS „einstimmig” zu beschließen, nachdem er noch in seiner vorangegangenen Mai-Sitzung, die vor der genannten Report-Sendung stattfand, einen analogen Beschuss mit einer 6:2-Mehrheit abgelehnt und stattdessen einen alternativen 6:2-Beschluss gefasst hatte, in dem ausdrücklich festgestellt wurde, dass „die HU zu keinem Zeitpunkt Gewalt und Missbrauch gegen Kinder verharmlost hat”. Der Rücktritt des Vorsitzenden und sein anschließender Austritt aus der HU sowie der Verzicht auf eine erneute Kandidatur zweier bisheriger Vorstandsmitglieder auf der Delegiertenkonferenz im Jahre 2005 lassen sich als durchaus intendierte Konsequenz der Kampagnenakteure benennen.

Schlussfolgerung

Weitere Einzelheiten dieser durchaus schmerzvollen, erzwungenen und nachhaltigen Wendung der HU in ihrer Haltung zu Sexualstraftaten müssen wir – mit Ausnahme einer einzigen – aussparen. Diese Ausnahme hat es indessen in sich und ist in der seitherigen Diskussion nicht zur Sprache gekommen. Weiter oben haben wir von den Akteuren auf dem Feld der Sexualpolitik gesprochen und an den Anfang die beiden Medien der FAZ und SZ gesetzt. Auf diese Frage ist abschließend zurückzukommen, zumal sie es erlaubt, sie mit Befunden außerhalb Deutschlands zu verknüpfen. Als Akteure gegen die Majorität des damaligen Vorstands, in den einschlägigen Exemplaren und Leserbriefen der „Mitteilungen”, in den Voten im Vorstand selbst, unter den Carechild-geneigten Mitgliedern war eine deutliche Überrepräsentation von weiblichen, ja: „feministischen” Mitgliedern festzustellen. Es ist keine Frage, dass gerade diese Mitgliedergruppe den treibenden Part der Konfrontation mit dem Vorstand bildete. Sie organisierte den Widerstand auf der Marburger Verbandstagung, formulierte militante Leserbriefe und zwang den Vorstand gleichsam in die Knie.

Diese – zugegeben: nicht völlig durchrecherchierte – Behauptung findet eine Entsprechung in der französischen empirischen Untersuchung der Politologin Laune Boussaguet, die in einem Ländervergleich zwischen Frankreich, Belgien und Großbritannien die vorrangige Rolle „militanter Feministinnen” bei der Profilierung anti-pädophiler Strategien in Gesetzgebung und öffentlichem Diskurs ausgemacht hat [42] Bemerkenswert an dieser Parallele ist allerdings nicht nur, nicht einmal in erster Linie die mögliche Konvergenz der Entwicklung, sondern aus der hier von mir vertretenen Perspektive der politische – und damit: kontingente – Charakter der politischen und gesellschaftlichen Gewichtung der Pädophilie auch in der Bundesrepublik. Eine derartige Analyse der Interessen auch in dieser Frage ist nicht gleichzusetzen mit der Relativierung des Problems selbst, hat jedoch im Blick zu halten, dass die „Dinge auch anders sein könnten”. Diese Position ist deutlich zu unterscheiden von einer Position, die ,,… durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens“ zu errichten hoffte, wie Hans-Georg Stümke über die strafrechtliche Verfolgung der Homosexualität berichtet.[43] Zu verlängern und zu verknüpfen sind diese Befunde mit den vorangegangenen akteursbezogenen Überlegungen, die eine Parallelität neoliberaler und punitiver Strategien ausmachten. Die Annahme dürfte eine gewisse Plausibilität für sich haben, dass unsere Beobachtungen durchaus kompatibel sind mit dem Titel des Buches eines englischen Politologen, der die Politik der neoliberalen Thatcher-Jahre auf den Nenner brachte. „The free economy and the strong state“.[44]

Meine allerletzte Bemerkung knüpft hieran an und wirft einen Blick auf eine ebenso lange wie kluge Anmerkung des Geschäftsführers der HU, Sven Lüders, auf die hier verhandelte Problematik der HU und ihrer Kriminalpolitik, wie sie sich in der Kontroverse um die Haltung zum Sexualstrafrecht darstellt. Anlässlich einer bis ins Gerichtliche getriebenen Auseinandersetzung mit dem Regensburger Bischof Müller im Jahre 2010 verfasst Lüders eine Art Grundsatzposition zu der hier verhandelten Auseinandersetzung – er nennt sie: „Bürgerrechte und Verantwörtung`[45]. So sehr sich diese in Vernunft, Korrektur und Ausgleich in Streit und Auseinandersetzung übt, erfreulich eindeutig jegliche Anflüge von Kontaktverbotsstrategien im Kontext bürgerrechtlicher Arbeit zurückweist, verhilft er dem Strafrecht in Sachen Sexualstrafrecht und Pädophilie zu einer Aufwertung und Profilierung, wie sie in meinen Augen der HU des Beginns und seiner Gründer sowie der frühen Jahrzehnte durchaus fremd waren. Sie lässt die rechts-historische und kriminalpolitische Variabilität des Umgangs mit Sexualstraftaten ebenso aus der Betrachtung wie sie einer moralischen Wieder-Aufladung des Strafrechts Vorschub leistet, die rechtspolitisch und bürgerrechtlich als Rückfall zu werten ist. Auch verfällt Lüders in seiner Argumentation einer „Opfer-Strategie”, die von verschiedener Seite als Null-Summenspiel charakterisiert worden ist: die Strafe des Täters ist die Kompensation und der Nutzen des Opfers. Die Opfer-Orientierung wird damit gleichsam zum eskalierenden Schwungrad der Kriminalpolitik und zur Bedrohung rechtsstaatlicher Sicherungen.

[1] Diese Daten sind der Dissertation von Jürgen Hofmann: Die Humanistische Union. Ein Beitrag zur Soziologie der Intellektuellen, München 1967, entnommen (es handelt sich um die von der HU verantwortete Ausgabe, ohne den methodischen und tabellarischen Anhang).
[2] Von solchen für die damaligen „Christen-Demokraten” Anstoß erregenden, „skandalisierbaren” Anlässen aus der Welt von Kunst, Kultur, Film etc. gab es einige. Der Journalist Rudolf Walther erinnert in „der Freitag” Nr. 19 v. 12.Mai unter dem Titel „Kampfstoff Buttersäure” an den Film „die Sünderin” mit Hildegard Knef und Gustav Fröhlich (ein Halbbruder des HU-Mitgründers R. König), der ein Jahrzehnt vor dem Mozart Verbot, im Jahre 1951 „für Monate Thema Nr. 1 in Zeitungen und Zeitschriften” war. Als der legendäre Kölner Kardinal Josef Frings sich über den Film empörte, „wurde der Film in Köln von den Behörden im Handstreich verboten”. Das Bundesverwaltungsgericht hat drei Jahre später die verhängten Aufführungsverbote als rechtswidrig erklärt und damit ein wichtiges Urteil zur Kunstfreiheit nach Art. 5, Abs. [3] GG gesprochen.
3 Zit. n. Hofmann, a. a. 0., S. 2.
[4] „Den Utopismus und Radikalismus habe ich mir selbst ins Haus geholt”. Ein Interview mit Gerhard Szczesny – geführt von seinem Enkel Christian Szczesny am 15.12,2000, in: Vorgänge 155, 40. Jg. (Sept, 2001), S. 33/34, 33.
[5]Zit. n. Hofmann, a. a. 0., S. 5.
[6] Diese Informationen sind entnommen aus. Christian Szczesny, Mein Großvater Gerhard Szszesny
und die Humanistische Union, in:, S Vorgänge 155, 40. Jg. (Sept, 2001). 25-32, 28.
[7]Rene König, Mitstreiter und Mitgründer der HU, berichtet in seinem ersten autobiographischen Text aus dem Jahre 1980 von einer „Welle des Hasses, die mir nach der Gründung der Humanistischen Union von vielen Seiten entgegenschlug” und zitiert wörtlich die Reaktion eines Kollegen
mit diesem Ausspruch: „Damit haben Sie sich in Deutschland ganz unmöglich gemacht” und berichtet weiter als „tollstes Stück”, dass ein „Kurzzeit-Minister” seine Berufung an die Universität Bonn „.,.mit der Begründung abschmetterte, der Begründer der Humanistischen Union sei nicht
berufungsfähig,..” –vgl. die Wiederveröffentlichung des Textes: Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie, in: Rene König Schriften, Bd. 18: Autobiographische Schrif-
ten, Hrg. V. Mario und Oliver König, Opladen: Leske und Budrich 1999, S. 9-316, hier: 5.156ff.
[8] Volkmar Braunbehrens, Aus den Anfängen der HU. Persönliche Erfahrungen, in: Vorgänge 155, 40.
Jg. (Sept, 2001), S. 62-67, 67. Diesem frühen HU-Mitglied verdankt die HU wohl ihren schönen Ursprungsmythos des Figaro-Verbots als Gründungsauslöser der Organisation.
[9] Zit. n. J. Hofmann, a, a. 0., S. 6.
[10] Es handelte sich um den Studienrat und späteren bayerischen Landtagsabgeordneten Dr. Jürgen
Bödderich.
[11] Interview von Christian Szczesny (Anm. 3), S. 33.
[12] Diese Zitate sind Szczesnys „Abschiedsreferat” auf der Delegiertenkonferenz der HU am 19. April
1969 entnommen – hier zit. n. Christian Szczesny (Anm. 3), S. 32.
[13] Ebda., S. 34.
[14] Ebda., S. 31.
[15] Ob allerdings Königs Behauptung –„ich bin verantwortlich für die Benutzung des Wortes humanistisch” (König, Anm. 6, 5.158) –historisch zutrifft, sei dahingestellt.
[16] Die Austritte waren im ersten Jahrzehnt der HU in der Tat erheblich. Die wenigen, mir zugängli-
chen Zahlen aus der Dissertation von Hofmann (Anm. 1, S. 15) zeigen für das zweite Jahrfünft eine
steigende Mitglieder-Ausstiegsrate von 3 Prozent (1964) bis 9 Prozent (1967). Wie dies verbandsintern diskutiert wurde, wäre interessant zu erfahren.
[17] R. König (Anm. 6), S. 157.
[18] R. König (Anm. 6), S,198.
[19] Deshalb war König auch alles andere als ein den „Rechten” zuzurechnender Intellektueller, wie es Norbert Reichling aus einem Aufsatz für seinen Beitrag im Vorgänge-Jubiläumsheft vor zehn Jah-
ren übernommen hat.
[20] Gerade hat „der Freitag” Nr. 23 v. 9.6.2011 an Mitscherlichs „Einmischung” in „Die Unwirtlichkeit
unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden.” erinnert, die im Jahre 1965 erschien und noch eine halbes Jahrhundert danach mehr denn je als Menetekel lesenswert und dechiffrierend ist.
[21] Diese kriminologische Erkenntnis brachte es bis auf die Frontseite der New York Times.
[22] Jeffrey Reiman, The Rich Get Richer and The Poor Get Prison: Ideology, Class, and Criminal Jus-
tice. Boston u.a.: Pearson Verlag, 7. Aufl. 2004 (zuerst 1979).
[23] Martin Dinges und Fritz Sack, Unsichere Großstädte?. In: dies, (Hrsg.), Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne. UKV Universitätsverlag Konstanz GmbH, S. 9 – 65.
[24] Fritz Sack, Prävention als staatliches Sicherheitsversprechen – Wandlungen des Gewaltmonopols in Deutschland. In: Komitee Ihr Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Verpolizeilichung der Bundesrepublik Deutschland. Polizei und Bürgerrechte in den Städten. Köln 2002, S. 21-65. Auf dieser Tagung stellte der derzeitige HU-Vizepräsident, Fredrik Roggan, die These seines Buches „Auf 1 e-
galem Wege in einen Polizeistaat” (Bonn 2000) vor.
[25] Daniela Klimke, Fritz Sack und Christina Schlepper, Stopping the ,punitive turn at the German bor-
der. In: Kury, Helmut & Evelyn Shea (Hrsg.), Punitivity. International Developments. Vol. I: Punitiveness – a Global Phenomenon? Bochum: Universitätsverlag Dr. Brockmeyer 2011, S. 289-340.
44 vorgänge Heft 2/2011, S. 27-44
[26] David Garland, The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society. Oxford: Oxford University Press 2001.

[27] Winfried Hassemer, Die neue Lust auf Strafe. In: Frankfurter Rundschau v. 20. Dez. 2000, S. 16.
[28] Hierzu habe ich mich in dieser Zeitschrift ausführlich geäußert: Juristen im Feindrechtsstaat. In: Vorgänge 2007, H.178, S. 5-26.
[29] Jens Puschke (Hg.), Strafvollzug in Deutschland. Strukturelle Defizite, Reformbedarf und Alternativen. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2011.
[30] Meine flüchtige Lektüre des Buches von Puschke hat lediglich im Beitrag von Gerhard Rehn fragende Überlegungen zu „Ökonomisierungstendenzen auch im therapeutisch/prognostischen B e-reich” gefunden ( Puschke ibid., S. 81), die über den Tellerrand des Strafvollzugs hinausweisen – das in der angelsächsischen Diskussion über den Strafvollzug identifizierte „principle of less eligibility” aus der Armenhausgesetzgebung des 19. Jahrhunderts ist als „Abstandsgebot” in der deutschen Sozial- und Arbeitsgesetzgebung bekannt, im Strafvollzug kaschiert am Werk.
[31] David Garland (Anm. 26), S. 136.
[32] Beide Zitate sind entnommen aus: Angelides, Steven, Historicizing Affect, Psychoanalyzing History: Pedophilia and the Discourse of Child Sexuality: In: Journal of Homosexuality, Vol 46(1/2), 2003, S. 79-109, hier: 80 (Übers. FS).
[33] Zitat entnommen aus: Kohm, Steven and Pauline Greenhill, Pedophile crime films as popular criminology: A problem of justice? In: Theoretical Criminology, Vol. 15/2, 2011, S. 195-216, hier: 195; Übers. FS:,,…wohl die gefürchtetsten und verteufeltsten von allen räuberischen Fremden“.
[34] Zygmunt Bauman, Die Krise der Politik. Fluch und Chance einer neuen Öffentlichkeit. Hamburg: Hamburger Edition 2000, S. 20.
[35] Duttge, Gunnar, Tatjana Hörnle und Joachim Renzikowski, Das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. In: NJW 15/2004, S. 1065-1072.
[36] David Garland, Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegen-wart. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2008, S. 192.
[37] Vgl. HU-Mitteilungen Nr. 139-141.
[38] Siehe hierzu: Weber, Hartmut-Michael, und Wolf-Dieter Narr: Der Ruf nach Verschärfungen des Sexualstrafrechts. Politische Implikationen eines Bedrohungsszenarios. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 42.Jg., 1997, S. 313-322; auch: Zur aktuellen Debatte über Strafverschärfungen für Sexualstraftäter. In: Vorgänge 1997, S. 9-17.
[39] Der Verbandstag (§ 13 der Satzung) hat anders als die von den dezentral gewählten Mitgliedern der Delegiertenkonferenz (§ 9) nur beratende, keine beschließende Funktion – an ihm kann jedes Mitglied teilnehmen. Beide Organe der HU finden in jährlichem Wechsel statt, d. h. jeweils jedes zweite Jahr. Die Zusammensetzung des Verbandstages hat deshalb wenig demokratische Legitimation und ist leicht beeinflussbar.
[40] Die Einstimmigkeit betraf allerdings nicht das „Rücktrittsmitglied”, das an der einschlägigen Vorstands sitzung nicht teilgenommen hatte.
[41] Diese Denunziation erfuhren etwa die Grünen-Politiker Christian Ströbele und Claudia Roth. In den E-mails von Carechild e.V. an die HU werden Pädophile als „Kreaturen”, „Abschaum” u. ä. bezeichnet, Unterstützer nennt Carechild „Untote”, die „zur Strecke zu bringen“ seien, etc.
[42] Boussaguet, Laurie:Les faiseuses d’agenda: Les militantes feministes et 1’emergence des abus sexuels sur mineurs en Europe. In. Revue francaise de Science Politique, 59/2, avri12009, S. 221-246 – eine Aufsatzfassung des Buches: „La pedophilie. Probleme public – France, Belgique, Angleterre”, Editions Bischof Müller Salloz 2008.
[43] Stümke, Hans-Georg: Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte. München 1989, S. 183 f.
[44] Gamble, Andrew: The Free Economy and the Strong State. The Politics of Thatcherism. 2. erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Houndmills, Basingstoke: Palgrave1994, zuerst 1988.
[45] Dieser Text findet sich auf der Homepage der HU unter „Themen: Rechtspolitik: Verbandsnachrichten, Sexualstrafrecht – 15.07.10”.

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