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Anmerkungen zur Notstands­ge­setz­ge­bung

vorgängevorgänge 196403/1970Seite 101-105

Aus: vorgänge Heft 3/ 1965, S.101-105

Das seit zehn Jahren von der Bundesregierung geplante Notstandsrecht schien nach den am Ende des Jahres 1964 vorliegenden Pressemeldungen kurz vor der Verwirklichung zu stehen, wenn auch nicht in seiner ursprünglichen Form. Etwa Anfang April sollte die Abstimmung im Plenum erfolgen. Dabei konnte durch den bedenklichen Beschluß, die Beratungen in den Ausschüssen geheim zu halten, die jüngste Entwicklung kaum mehr verfolgt werden. Der berechtigte Anspruch der Öffentlichkeit auf Information konnte so umgangen werden — nach einem Kompromiß unter den Parteien würde sie vor vollendeten Tatsachen stehen. Nach Ablehnung des Schröder-Entwurfs hatte sich ja auch die Opposition den Planungen Höcherls nicht verschlossen und manche Vorstellungen des Regierungsentwurfs immerhin als Diskussionsgrundlage anerkannt.

Neuerdings hat sich die Haltung der SPD jedoch wieder versteift. Die SPD hatte schon frühzeitig als einzige Partei eigene Gedanken zur Regelung eines Notstandsfalles entwickelt, die sie weitgehend aufrechterhalten hat. Nur wenn ihre Mindestforderungen erfüllt werden, ist sie bereit, die Notstandsverfassung zu verabschieden. Da die Bundesregierung zum Teil, wie beispielsweise in der Frage eines Notverordnungsrechts, auf ihrem Standpunkt beharrt, will die SPD so lange ihre zu einer Verfassungsänderung notwendige Zustimmung verweigern (vgl. zum wahrscheinlichen Stand der Notstandsberatungen meine unter den Materialien abgedruckte Zusammenstellung in diesem Heft). Auch dürfte die Fassung der sog. einfachen Notstandsgesetze, die nach Ansicht der Bundesregierung ohne die Zustimmung der Opposition verabschiedet werden können, weitgehend Einfluß auf die Haltung der SPD gegenüber der Notstandsverfassung haben.

Trotz der Geheimhaltung darf die Notstandsdiskussion nicht aufhören, da es um grundlegende Fragen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats geht. Es ist eine Tatsache, daß die bedenklichsten Bestimmungen in den Entwürfen Höcherls durch die öffentliche Kritik immer wieder abgemildert wurden; doch ist es ebenso eine Tatsache, daß sie in irgendeiner Form immer wieder auftauchen.

Mit den folgenden Anmerkungen wird versucht, die Entwicklung der Notstandsgesetzgebung seit Bestehen der Bundesrepublik zu skizzieren. Obwohl die Höcherl-Entwürfe in der bisherigen Form kaum verwirklicht werden, bleiben die behandelten Probleme weitgehend relevant, da der Schwerpunkt meist auf grundsätzliche Probleme im Verhältnis Notstandsrecht und Demokratie — z. B. die Verwirklichung des Prinzips der Kontrolle — gelegt wurde.

Die Entwicklung der Notstands­ge­setz­ge­bung in der Bundes­re­pu­blik

Der Weg zu diesem Notstandsrecht ist ein Teil der Geschichte der Bundesrepublik selbst. Schon bei der Verfassungsgebung im Jahre 1949 diskutierte der Parlamentarische Rat, dem Vorarbeiten des Herrenchiemseer Verfassungskonvents auf diesem Gebiet vorlagen, darüber. Eingedenk der Erfahrungen der Weimarer Republik mit Art. 48 der Reichsverfassung (WRV) lehnte der Grundgesetzgeber jedoch ein klassisches Ausnahmerecht ab: Mit Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 Abs. 2 GG schuf er ein System von vorbeugenden Regelungen, das gegenüber den bisherigen Verfassungen völlig neuartig war. Ansätze von klassischem Ausnahmerecht finden sich nur in Art. 91 GG, wiederum aus Erfahrung scharf getrennt vom sogenannten Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG).

Schon bald darauf erfolgte die Schaffung weiterer Sicherheitsbestimmungen, der ersten Stufe von Gesetzen, denen eine Fortsetzungsdynamik zueigen war, die — von politischen Kräften in Vollzug gesetzt — konsequent zu der bevorstehenden Notstandsgesetzgebung führte: Unter dem Eindruck der Koreakrise wurde im Jahr 1951 das Strafgesetzbuch durch sehr weitgehende Staatsschutzbestimmungen ergänzt, deren Merkmal ist, daß sie in unpräziser Formulierung des Tatbestands die Strafbarkeit in frühe Anfangsstadien vorverlegten, die subjektive Seite stark betont wird, statt auf objektiven Kriterien — wie z. B. in den USA der Begriff von „clear and present danger” — aufzubauen. In zehn Jahren (bis 1961) wurden nach Angaben von Posser (in seinem Buch Politische Strafjustiz, S. 42) auf ihrer Grundlage etwa hunderttausend Verfahren in Staatsschutzsachen eingeleitet — eine Tatsache, die an sich Presse- und Meinungsfreiheit schon bedrohen konnte, von der Öffentlichkeit aber erst durch das aufgrund des Landesverratsparagraphen eingeleitete Verfahren gegen das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel” beachtet wurde. Früher noch als die Staatsschutzbestimmungen waren im Jahr 1950 gesetzliche Grundlagen für die Errichtung von Verfassungsschutzämtern geschaffen worden, in deren ausgedehntes Wirken die Abhöraffäre einen Einblick vermittelte.

Auf das politische Strafrecht hatte noch Artikel 143 GG (alte Fassung) hingewiesen, das Jahr 1954 aber brachte den ersten Einbruch von außen. Mit der in Art. 5 Abs. 2 Deutschland-Vertrag enthaltenen Formulierung, daß „die von den Drei Mächten bisher innegehabten oder ausgeübten Rechte in bezug auf den Schutz der Sicherheit der in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte, die zeitweilig von den Drei Mächten beibehalten werden, erlöschen, sobald die zuständigen deutschen Behörden entsprechende Vollmachten durch die deutsche Gesetzgebung erhalten haben und dadurch instandgesetzt sind, wirksame Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte zu treffen, einschließlich der Fähigkeit, einer ernstlichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen”, schuf die Bundesregierung sich selbst die Ausgangsposition, um in der Folgezeit immer wieder eine umfassende Notstandsgesetzgebung zu fordern, obwohl sich das in diesem Umfang nicht aus dem Vertragstext ergab.

1956 erfolgten dann die Verfassungsergänzungen zum Einbau der Bundeswehr. Art. 59a GG regelte den Verteidigungsfall, Art. 143 GG (neue Fassung) verbot den Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Da aber mit dem Verteidigungsfall ein Notstand im Inneren von außen her hervorgerufen wird, konnte nach Einbau der Bestimmung des Art. 59 a GG auch auf die Notwendigkeit einer Regelung des äußeren Notstands hingewiesen werden; Art. 143 GG regelte zwar nur den erörterten Spezialfall des Einsatzes der Bundeswehr, sprach aber immerhin vom Falle eines „inneren Notstands” und sollte es rechtfertigen, diesen gleich „mitzuregeln”.

Ein (praktisch geheimer) erster (Schröder-) Entwurf wurde im Januar 1959 vorgelegt; er war jedoch den meisten Innenministern der Länder zu detailliert — sie zogen eine Generalklausel vor. So kam es zum zweiten Schröder-Entwurf, der in einer erweiterten Generalklausel äußeren und inneren Notstand zusammenzog. In der Bundestagssitzung fielen Schröders Worte vom „Instrument” Notstandsrecht und vom Notstandsfall als der „Stunde der Exekutive”. Der Entwurf konnte keine Chance haben: die zu seiner Verabschiedung benötigte Zustimmung der Opposition — damals neben der SPD noch die FDP — konnte durch dieses Überraschungsmanöver (der Entwurf war nämlich ohne Kontakte mit ihr veröffentlicht worden) nicht gewonnen werden. Er zielte vielmehr darauf ab, die SPD in einer weiteren „Lebensfrage der Nation” in die Rolle des „Neinsagers” hineinzudrängen, der sie nur entgehen konnte, wenn sie einem neuen Entwurf positiv gegenüberstand.

Den Weg ebnete Bundesinnenminister Höcherl; er nahm Verhandlungen mit der Opposition auf, entsprach auch in vieler Hinsicht scheinbar ihren Vorstellungen: Trennung von äußerem und innerem Notstand, Institution eines Notstandsausschusses, kein Streikverbot. In Wirklichkeit war die Trennung von äußerem, innerem und Katastrophennotstand im neuen Entwurf nur äußerlich (so z. B. in Art. 115 i Entwurf: „durch Einwirkung von außen” als ein Tatbestand bei innerem Notstand). Da der Regierungsentwurf für den inneren Notstand bei der Verkündung überhaupt keine Kontrolle vorsieht, konnten so die engeren Voraussetzungen für die Verkündung des äußeren Notstands umgangen werden. Auch kann der Notstandsausschuß immer dann ausgeschaltet werden, wenn „die Lage ein sofortiges Handeln erfordert”. Weiterhin ist zwar in der Notstandsverfassung kein Streikverbot mehr enthalten, doch kann ein Streik über das Zivildienstgesetzt verhindert werden. Im Ergebnis steht der Entwurf in seinem Kern Art. 48 WRV nahe?, ist klassisches Ausnahmerecht und schafft mit dem schon bestehenden — durch die erörterten weitgehenden Staatsschutzbestimmungen ergänzten — vorbeugenden System des Grundgesetzes ein Übermaß an Sicherheitsregelungen.

Dies geschieht insbesondere auch durch die Notstandsgesetze, die nicht in der Verfassung erscheinen sollen, die sogenannten einfachen Notstandsgesetze. Im Verlauf der „Entschärfung” der Notstandsverfassung wurde nämlich sichtbar, daß die im Entwurf der Notstandsverfassung einschränkbaren Grundrechte nun auf dem Weg über die einfachen Gesetze erfaßt werden, so z. B. Art. 11 GG im Aufenthaltsregelungsgesetz, Art. 14 GG durch das schon ergangene Bundesleistungsgesetz und die drei geplanten Sicherstellungsgesetze, Art. 2 GG in den meisten dieser einfachen Gesetze. Die schwerwiegendsten Eingriffe ermöglicht allerdings das vorgesehene Zivildienstgesetz, welches den Dienstverpflichteten in ein besonderes Gewaltverhältnis bringt, in dem die entscheidenden Freiheitsrechte nur mehr mit den Beschränkungen gelten, die sich aus dem Wesen des besonderen Gewaltverhältnisses ergeben. Das Zivildienstgesetz verstößt außerdem gegen Art. 12 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG und ist deshalb verfassungswidrig. Was aus der Notstandsverfassung also möglicherweise ausgeklammert wird, wird durch diese sogenannten einfachen Notstandsgesetze wieder „aufgefangen”. Danach scheint es eine Tatsache zu sein, daß der einmal projektierte Umfang von Notstandsregelungen auf irgendeine Weise, wenn auch nicht an so exponierter Stelle wie in der Verfassung, verwirklicht wird. Wenn dagegen eingewandt wird, dieser Umfang sei konkretisiert durch detaillierte Tatbestände, so ist das zwar formal richtig, materiell gesehen sind diese Gesetze aber gleichbedeutend, da sie alle wichtigen Lebensgebiete umfassen. Der Vorteil der „Konkretisierung” in Einzelgesetzen wurde übrigens damit erkauft, daß das Notstandsrecht auf diese Weise immer weniger überschaubar wurde. Als entscheidender Nachteil kommt das Fehlen der Kontrolle

hinzu: War in die projektierte Notstandsverfassung das Kontrollprinzip wenigstens teilweise noch eingebaut, so können die einfachen Gesetze schon dann angewandt werden, wenn die Bundesregierung es für „erforderlich” hält.

Überpo­si­tives Notstands­recht und Formen von Verfas­sungs­un­ter­wan­de­rung

Zu der Ansicht, ein Notstandsrecht sei notwendig, trug ein Argument nicht unwesentlich bei, auch wenn es mehr im Hintergrund als in der offenen Diskussion stand, für die Zukunft aber Bedeutung erlangen kann: Der Hinweis auf ein sogenanntes überpositives Notstandsrecht. Kämen zusätzliche Notstandsvollmachten nicht in die Verfassung, dann müsse im Notfall eben ohne die Verfassung gehandelt werden, wurde vorgebracht … und die Konsequenz daraus: weiteste Regelung des Notstands in der Verfassung und damit um so geringere Gefahr eines Notrechts außerhalb der Verfassung. So logisch das klingt — die historische Erfahrung gibt dem nicht recht.

Art. 48 WRV war eine denkbar weite Regelung des Ausnahmezustands, dennoch gab es gerade in der Weimarer Republik eine Reihe von Rückgriffen auf „Not” und „Not-wehrrecht” außerhalb der Verfassung. Dazu als Beispiel ein Fall, der zeigt, zu welchen Konstruktionen sich das höchste Gericht verstieg, um rechtswidrige Maßnahmen zu rechtfertigen: Auf Anweisung des hannoverschen Oberpräsidenten Campe hatten Polizeibeamte Druckerei- und Setzmaschinen unbrauchbar gemacht, um das weitere Erscheinen einer Arbeiterzeitung zu verhindern. Das Reichsgericht hatte nach der Feststellung, diese Maßnahme verstoße gegen das Pressegesetz, in seinen Ausführungen ausdrücklich darauf hingewiesen, daß bei „Gefahr im Verzuge” Art. 48 WRV anzuwenden sei, der hier jedoch nicht geltend gemacht worden sei und auch nicht zuträfe. Dennoch bejahte das Gericht die Zulässigkeit der Maßnahme: zwar handle der Staat, der sich seiner inneren Angreifer erwehre, an sich (!) nicht in Notwehr, sondern mache lediglich Gebrauch von der ihm zustehenden öffentlichen Gewalt, der Eingriff sei aber aus dem Vorliegen eines Notwehrrechts gerechtfertigt; das Gericht griff dabei auf das Bürgerliche Gesetzbuch (!) zurück und stützte die Begründung auf dessen § 227, denn der Eingriff habe privatrechtliche Folgen (!). Die Berufung auf „Notrecht” und „Notwehrrecht” mußte oft herhalten (z. B. bei politischem Mord) und war mehr wohl als der umstrittene Art. 48 WRV einer der Gründe für den Untergang der Republik(3).

Der Rückgriff auf „Staatsnot” und „Staatsnotwehr” hat sich in der Bundesrepublik nicht wiederholt, in der Staatsrechtslehre wird aber unter der Bezeichnung „überpositives Notstandsrecht” weiterhin ein Notrecht außerhalb der Verfassung vertreten. So zum Beispiel bei von der Heydte:

„Der letzte Zweck all der Normen der Verfassung, die einem bestimmten Organ bestimmte Aufgaben und Zuständigkeiten zuweisen und damit die Macht, die der Staat besitzt, ordnen, sei die Selbsterhaltung des Staates und die Erhaltung der staatlichen Ordnung. Dieser letzte Zweck jeder derartigen Norm der Verfassung steht über verschiedenen näheren Zwecken einzelner Verfassungsbestimmungen, er geht all diesen einzelnen Rechtssätzen unbedingt vor und ist für sie gleichzeitig Auslegungsregel und Grenze, über die hinaus sie keinen Geltungsgrund und damit keine rechtliche Geltung besitzt… Im Fall des Staatsnotstandes muß der, der in einem Staat die Richtlinien der Politik bestimmt und für die politische Entwicklung die Verantwortung trägt, jedenfalls so handeln, wie es der Notstand verlangt; gibt ihm die Verfassung dazu keine Möglichkeit, bleibt nur der Weg des Staatsstreichs: Not kennt kein Gebot“(4).

Aber: Wenn es um die „Selbsterhaltung des Staates” geht, bestimmt der, der alle Macht erhalten soll und unter jedem Vorwand kann er ohne Kontrollmöglichkeit eine solche Situation annehmen. Wie schnell läßt sich auch behaupten, die „staatliche Ordnung” (!) sei gefährdet und die verfassungswidrigen Maßnahmen seien notwendig zu deren Erhaltung! Es zeigt sich, daß allgemeine überpositive Grundsätze kein Kriterium für eine klare Abgrenzung sein können, sondern auch die mißbräuchliche Durchbrechung der Verfassung damit scheinlegitimiert werden kann. Auch geht es nicht um die bloße „Selbsterhaltung des Staates”, sondern um die Aufrechterhaltung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in diesem Staat. Ohne freiheitliche Demokratie — auf „Selbsterhaltung” und „Ordnung” ist auch (und vor allem) die Diktatur bedacht — ist der Staat selbst nicht interessant.

Freilich wird sich gegen die Beispiele aus der Weimarer Republik der Einwand erheben, Bonn sei nicht Weimar und die Geschichte wiederhole sich nicht; typisch für die Rechtsprechung der Weimarer Republik sei die Unterstützung von Kräften, die die Demokratie „von unten” vernichten wollten. Gegenüber solchen Vereinfachungen werden einzelne Erscheinungen zu untersuchen sein, um festzustellen, wieweit die verfassungsmäßige Ordnung durch Ideologien und Fehlentwicklungen unterwandert wurde — Mittel und Begründungen brauchen nicht gleich zu sein.

So kann eine Ideologie des Anti-Kommunismus, in die Elemente des faschistischen Anti-Bolschewismus einfach übernommen werden, Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit in einem Ausmaß einschränken, daß eine aktuelle Gefährdung der demokratischen Lebensordnung hervorgerufen wird. Dabei stellt die erörterte Staatsschutzgesetzgebung mit ihrer Unzahl von Ermittlungen nur ein Element dar; auch außerhalb der politischen Strafjustiz findet die Anti-Ideologie Eingang. So im Fall Stachinskij, der, obwohl er eigenhändig den Emigrantenführer Bandera getötet hatte, nur wegen Beihilfe bestraft wurde, weil der eigentliche Mörder die Sowjetunion sei(5). Im Fall der Zeitschrift „Blinkfüer”, die Fernseh- und Hörfunkprogramme von Sendern der DDR veröffentlichte, hatte der Springer-Verlag Zeitungshändlern, die weiterhin „Blinkfüer” vertreiben würden, mit Boykott gedroht. Der Bundesgerichtshof anerkannte — ohne darauf einzugehen, daß der Zeitschrift das Grundrecht der Pressefreiheit zusteht — den Boykott als rechtmäßig, indem er zu Unrecht das Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts heranzog und den Einsatz der wirtschaftlichen Macht der Springer-Presse als Ausübung der Meinungsfreiheit in einem staatsbürgerlichen Anliegen bewertete(6). (Wie ernst es dem Springer-Konzern übrigens mit diesem „staatsbürgerlichen Anliegen” war, zeigte sich wenig später: Als auch andere große Illustrierten, gegen die man mit dieser Art Meinungsfreiheit nicht mehr aufkam, die Programme abdruckten, erschienen sie auch in Springers „Hör zu”). Parallel zu der Entscheidung des Reichsgerichts, die Freiheit der Presse einzuschränken, gingen die damaligen Bemühungen der Bundesregierung bei der Ehrenschutzgesetzgebung — und zwar ebenfalls auf dem Weg einer scheinbar „privatrechtlichen” Regelung(7). Bei der Aktion gegen den „Spiegel” wurde zwar aufgrund der Anzeige wegen Landesverrats vorgegangen, wobei — ohne auf den wahren Anlaß der Affäre zurückzugehen — die Begleitumstände der Maßnahme, wie beispielsweise die vierwöchige (!) Durchsuchung der Verlagsräume, weit über die in demokratischen Staaten eingehaltene Praxis hinausgehen(8). Sowohl im Spiegel-Fall wie bei der Abhöraffäre wurde der Angriff auf Grundrechte allerdings nicht mehr mit „Staatsnotwehr” begründet: Mit dem Hinweis, wie groß der „Abgrund von Landesverrat” sei und wie weitgehend die Tätigkeit von Agenten und Spionen, glaubte man ohne übergesetzliche Rechtfertigung am Grundgesetz vorbeigehen zu können.

Die Gefahr der Unterwanderung der Verfassung durch Ideologien und politische Fehlentwicklungen ist dort am größten, wo eine totalitäre Vergangenheit vorausgegangen ist, weil Grundrechte und Grundprinzipien des freiheitlichen Rechtsstaates noch nicht selbstverständlich geworden sind, die Verfassung also noch „nicht erfüllt” ist (Arndt). Was übrigens die Notstandsverfassung (Höcherl-Entwurf) angeht, so hat Winfried Martini sich dafür ausgesprochen, daß die alliierten Rechte bestehen bleiben sollten, da der Entwurf eine ungenügende Regelung des Ausnahmezustands darstelle. Das müßte demnach aber erst recht dann gelten, wenn (wie nach neuesten Berichten) die Regelung des inneren Notstandes und des Katastrophenzustands wegfallen würden. Denn auch damit würden die alliierten Rechte abgelöst. Sollten also bestimmte politische Gruppen inneren Notstand geltend machen, so wäre mit der Behauptung, der innere Notstand sei durch die Erweiterung des Art. 91 GG nicht genügend geregelt und auch das Zivildienstgesetz genüge nicht, der Weg frei, um durch Rückgriff auf überpositives Notstandsrecht die totale Diktaturgewalt zu fordern. Eine solche Situation ist aber erst dann erreicht, wenn die Feinde der Verfassung die wirkliche Macht schon besitzen, wenn auch noch nicht zum Umsturz benutzt haben. Das Bestehen von (positivem) Notstandsrecht verhindert die Berufung auf überpositives Notstandsrecht also grundsätzlich nicht, da in einem solchen Falle die verfassungsrechtlichen Konsequenzen nicht mehr bedacht werden. Hier zeigt es sich auch, daß dieses sog. überpositive Notstandsrecht juristischen Abgrenzungen nicht mehr genügen kann; es ist vielmehr politisch bestimmtes Notstandshandeln, das meist ohne Kontrolle geschieht.

Notstandsrecht und Prinzip der Kontrolle

Der Gedanke, die Macht zu beschränken, um die Freiheit zu gewinnen, führte in den Anfängen des Konstitutionalismus dazu, geteilte Ausübung politischer Macht und geteilte Kontrolle derselben als grundlegendes Prinzip zu fordern. Die klassische Ausprägung des Prinzips ist in Montesquieus Lehre von der Teilung der Gewalten enthalten, die die meisten Verfassungen beeinflußt hat. Wenn sich das Gewaltenteilungsprinzip bis in die Gegenwart auch nicht in dieser Schärfe erhalten hat, so ist die zugrundeliegende Erkenntnis, daß nur Kontrolle der Macht die freiheitliche Staatsordnung zu garantieren vermag, konzentrierte Macht ohne Kontrolle aber eine autoritäre Staatsform ergibt, genauso gültig geblieben(9). Als deshalb nach den Jahren der Diktatur mit dem Grundgesetz ein Fundament einer künftigen demokratischen und freiheitlichen Staatsgestaltung geschaffen wurde, verankerte der Verfassungsgeber das Prinzip der Gewaltenteilung in Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 GG: die Staatsgewalt wird durch „besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt”. Dabei liegt die Bedeutung des Prinzips nicht darin, daß die Funktionen der Staatsgewalt scharf getrennt werden, sondern daß die Organe der Legislative, Exekutive und Justiz sich gegenseitig kontrollieren und begrenzen, damit die Staatsmacht gemäßigt und die Freiheit des Einzelnen, geschützt wird(10). Vermieden werden soll die übermäßige Machtkonzentration an einer Stelle im Staat(11). Damit liegt die Bedeutung der Gewaltenteilung nicht im rein Organisatorischen, sondern dient vielmehr allein der Freiheit im Staat(12).

Aus der schlechthin konstituierenden Bedeutung, die der Teilung, d. h. der Kontrolle der Macht für die freiheitliche Staatsgestaltung zukommt, zog der Grundgesetzgeber die Konsequenz, indem er die Prinzipien der horizontalen Kontrolle (Legislative, Exekutive, Justiz) und der vertikalen Kontrolle (Bundesstaatsprinzip) in Art. 79 Abs. 3 GG für unabänderlich erklärte.

Kann und muß das Prinzip der Kontrolle (im folgenden ist damit immer die horizontale Kontrolle gemeint) auch in Notstandssituationen aufrechterhalten werden? Auch in der Demokratie ist von der Auffassung auszugehen, daß im Notstand die Organisation des Staates umgeformt, d. h. vereinfacht und in ihrer Wirksamkeit gestärkt werden müsse, dies aber aus den gleichen Strukturprinzipien heraus(13). Das Prinzip der Kontrolle muß erhalten bleiben, doch, um effektiv zu sein, gerade nicht in der Form, die für

Normalzeiten Gültigkeit hat. Sonst könnte sich beispielsweise die Regierung darauf berufen, daß bei einem bevorstehenden Angriff keine Zeit mehr vorhanden sei, um das Parlament einzuberufen. Kontrolle kann also nur da gefordert werden, wo ein Organ kontrolliert, das durch seine Struktur in der Lage ist, genau so schnell zu handeln wie die Regierung selbst. Effektivität und schnelle Entscheidungsfähigkeit wird bei der Regierung durch die verhältnismäßig kleine Anzahl von Personen, die ihr angehören, garantiert; dies muß also auch ein Gesichtspunkt für die Gestaltung des Kontrollorgans sein.

Die Uberlegung, ein gleichwertiges, aber kontrollierendes Organ zu finden, führte im Entwurf der Notstandsverfassung zu der Institution des Notstandsausschusses. Dieses Organ ist mit einer Zusammensetzung aus 22 Bundestags- und 11 Bundesratsmitgliedern kaum größer als die Regierung selbst und hat dazu noch den Vorteil, daß seine Mitglieder ersetzbar sind. Um eine wirkliche Kontrolle zu gewährleisten, d. h. eine Oberstimmung der Opposition weitgehend auszuschalten, ist es notwendig, daß dieses Organ mit Zweidrittelmehrheit seine Beschlüsse trifft — eine durchaus zu vertretende Lösung, da bei Vorliegen eines wirklichen Notstands diese Mehrheit bei einem gegenüber dem Plenum noch mehr sachbezogenen Organ erreichbar ist 13a (= Anmerkg.). Die größere Sachbezogenheit eines solchen Organs ergibt sich auch aus den Erfahrungen, die mit einem strukturell ähnlichen Ausschuß schon in Normalzeiten gemacht wurden. Gemäß Art. 72 der italienischen Verfassung(14) kann das Parlament die Verabschiedung bestimmter Gesetze einem Ausschuß übertragen, der als eine Art Miniaturparlament tätig wird. Dabei ergab sich ferner, daß die Notwendigkeit einer Verordnungstätigkeit der Regierung aufgrund der Sachkenntnis der Ausschußmitglieder nicht mehr im früheren Umfang gegeben war. Eine solche Stellung könnte ein von der Regierung informierter — und gerade deshalb auch an diesem Punkt kontrollierender — Notstandsausschuß einnehmen. Da der Einbau des Notstandsausschusses in die Notstandsverfassung als sicher gelten kann, ist nicht einzusehen, warum die Koalitionsparteien auf ein Notverordnungsrecht der Regierung, das die parlamentarische Kontrolle ausschaltet und damit größere Mißbrauchsmöglichkeiten in sich birgt, nicht verzichten wollen. Es ist nicht auszuschließen, daß damit an Fälle gedacht wird, für die angenommen wird, das Notparlament werde nicht zustimmen: auf diese Weise könnte dann das Notparlament umgangen werden.

Aber noch in einem anderen Rahmen muß das Prinzip der Kontrolle verwirklicht werden: Die sogenannten einfachen Notstandsgesetze ermöglichen weitgehende Eingriffe in die Freiheit der Staatsbürger, heben die Trennung von Friedensordnung und Kriegsrecht auf; sie regeln weitgehend eine Materie, die man als sog. Spannungsfall („drohender Angriff“, „Bereitschaftsstadium”) zunächst innerhalb der Notstandsverfassung regeln wollte. Die Herausnahme dieser Materien aus der Notstandsverfassung und ihre Regelung in einfachen Gesetzen darf nicht dazu führen, daß in. Friedenszeiten immer schon dann, wenn es die Bundesregierung für „erforderlich” hält, zu einer der Mobilmachung ähnlichen Bereitschaftsstufe übergegangen wird. Auf diese Weise wird nicht nur eine Spartanisierung der Bevölkerung unkontrolliert herbeizuführen sein, sondern es wird auch ein Weg eröffnet, die freiheitlich-demokratische Grundordnung in einen autoritären Staat umzuwandeln. Gerade weil der Bundestag, wenn die Bundesregierung einmal den Übergang zum Bereitschaftsstadium beschlossen hat, sich nachträglich nicht mehr zu einer Aufhebung bereitfinden könnte, muß eine vorhergehende Kontrolle gewährleistet sein. Da durch die weite Regelung in den Einzelgesetzen jede Maßnahme legal zu rechtfertigen ist, kann um so sicherer eine Lage herbeigeführt werden, in der die ergriffenen Maßnahmen zu spät als Mißbrauch erkannt werden, ihre Aufhebung jedoch nicht mehr stattfindet.

Bei einem Überblick über die Problematik der Notstandsgesetzgebung kann überall im positiven, wie im überpositiven Notstandsrecht eine ganze Reihe von Möglichkeiten aufgezeigt werden, die zum Mißbrauch führen können. So könnte man zu dem Ergebnis kommen, daß es letztlich gleichgültig ist, wie ein Notstandsrecht ausgestaltet wird, da es immer auf die politischen Tatsachen ankomme. Bei einer differenzierenden Betrachtungsweise — ohne zu glauben, das Spannungsverhältnis zwischen Freiheits- und Sicherheitsregelungen sei auf normativem Wege aufhebbar — zeigen sich aber auch in der normativen Gestaltung Ansatzpunkte: im Mißtrauen gegenüber konzentrierter Macht fordert die Demokratie die Verwirklichung des Prinzips der Kontrolle.

Bei der Suche nach Kompromissen, angesichts eines kaum noch durchschaubaren Gewirrs von Einzelgesetzen, könnten die Abgeordneten des Bundestags den bequemen Weg gehen und der Regierung unkontrollierte Macht zubilligen. Sie beschließen jedoch mit den Notstandsgesetzen mehr als eine bloße Verfassungsergänzung und tragen dafür die Verantwortung.

1 vgl. Dorn in Notstandsrecht und Demokratie, hrsg. von Nemitz, Kreuz-Verlag Stuttgart 1963, S. 48.

2 Nachweise in meinem Beitrag „Notstandsverfassung und Grundgesetz” (Dritter Teil); in Das Argument, Berliner Hefte für Probleme der Gesellschaft, Nr. 30.

3 Hierzu die Monografie von Grosshut, Staatsnot, Recht und Gewalt, Glock und Lutz, Nürnberg 1962, S. 148 ff; ferner Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß, Fischer Bücherei Band 492, S. 152 ff; das erörterte Urteil des Reichsgerichts ist abgedruckt in Juristische Wochenschrift 1927, S. 1991.

4 in der Festschrift für Laforet, S. 52 bzw. 40.

5 Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, abgedruckt in Neue Juristische Wochenschrift 1963, S. 355.

6 Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, abgedruckt in NJW 1964, S. 29 mit kritischer Anmerkung von Arndt, ebd. S. 23.

7 Arndt, Das nichterfüllte Grundgesetz, Tübingen 1960, S. 21.

8 Hebarré, Paris, berichtet aus der französischen Rechtspraxis, daß keine Pressedurchsuchung länger als einen Tag gedauert hat. Eine Durchsuchung bei Nachtzeit ist seit Kriegsende in Frankreich nicht mehr vorgekommen (vgl. NJW 1963, S. 867).

9 Vgl. insbesondere Löwenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 8 f, 12 f; 127 ff.

10 So in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 9, S. 268 der Amtlichen Sammlung (mit weiteren Nachweisen) und

Bd. 12, 180 (186).

11 So BVerfGE 5, 85, 199.

12 So BVerfGE 2, 307, 319.

13 Arndt in: Notstandsgesetz — aber wie? Köln 1962, S. 39.

13a Dabei sollte nicht verkannt werden, daß es sich auch hier nur um eine systemimmanente Kontrolle handeln kann. Vgl. hierzu Otto Kirchheimer, Weimar — und was dann? (1930), wieder abgedruckt in: Politik und Verfassung, S. 50 f. (edition suhrkamp Bd. 95).

14 Ein Bericht darüber bei Francois Goguel, La Procedure de Vote des Lois par les Commissions, in: Revue Francaise de Science Politique 1954, S. 836 ff; siehe ferner die Hinweise Seiferts auf Art. 54 der Tschechoslowakischen Verfassung von 1920 in seinem Beitrag „Das Notparlament” in Vorgänge 1964, S. 337 f, wo auch die negativen Aspekte des Notparlaments erörtert werden. — Vgl. zum Problem der Kontrolle den Ansatzpunkt in Art. 45 GG.

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