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Vom Religi­ons­un­ter­richt zur Religi­ons­kunde

vorgängevorgänge 196908/1970Seite 266-272

Zur Theorie und Praxis einer Entwicklung

vorgänge 1969 (7-8), S. 266-272

Er herrscht heute weithin ein immer stärker werdendes Unbehagen über den konfessionellen Religionsunterricht, der zwar ― bemerkenswerterweise als einziges schulisches Unterrichtsfach ― durch das Grundgesetz (Art. 7 III) ausdrücklich garantiert, aber trotz dieser „Sicherung” ein viel umstrittenes „heißes Eisen” geworden ist. In der Amtssprache wird er „ordentliches” Unterrichitsfach genannt. Doch umreißt dieser Ausdruck nur einen schulrechtlichen Begriff. Erwin Fischer hat in Vorgänge 12/68 (S. 421 ff) sehr deutlich den außerordentlichen Charakter dieses Unterrichts und seine Eigenart als Fremdkörper im Lehrplan der öffentlichen Schulen beleuchtet.

Dieses Unbehagen richtet sich vor allem gegen die Kirchen, deren einsichtige Vertreter schon längst nicht mehr auf die Christlichkeit des Abendlandes und unserer Kultur pochen, sondern die Säkularisation unseres gesamten geistigen Lebens als unausbleibliche Folge gerade der dualistischen Seinsbetrachtung sich selbst anlasten. Doch ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, daß dort, wo Kirche nach außen als Institution auftritt, die vorhandene Einsicht durch kirchenpolitisches Machtdenken verdrängt wird, als gelte es, wenigstens im Bereich von Schule und Erziehung dem allgemeinen Schwund von kirchlicher, d. h. christlicher Religiosität zu begegnen (vgl. Fischer aaO. zur staatsrechtlichen Literatur). Der Kampf um die „christliche Schule” ist hier bezeichnend, wobei je nach taktischen Gegebenheiten der Bogen der Forderung von „Bekenntnisschule” über „christliche Gemeinschaftsschule” bis zur „Gemeinschaftsschule auf christlicher Grundlage” (Vertrag der Hessischen Landeskirchen mit dem Land Hessen v. 18. 2. 60, § 15) reicht.
Um dem allgemeinen Unbehagen zu begegnen, sucht man nun nach neuen Wegen für den Religionsunterricht, die aus dem Dilemma herausführen, das aus dem Festhalten am „Bleibenden” des traditionellen, bisher tragenden, biblizistischen Religionsverständnisses und dem durch den allgemeinen Strukturwandel des geistigen, technischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens bedingten neuen Welt- und Seinsverständnis entstehen muß. Einerseits ist immer noch „Verkündigung” und „Glaubensentscheidung” das offizielle Erziehungsziel konfessionellen Religionsunterrichts, wobei die besondere Verantwortung des Lehrers an die „Weisungen der heiligen Botschaft” gebunden und zur Skepsis gegen jede „Normaltheologie“ verpflichtet wird (z. B. Hessische Bildungspläne 1957, III, 6, S. 6). Andererseits ist dem drängenden Verlangen nach offener Kritik, nach sachlicher Information, nach Befreiung von missionarischem Suggestivzwang und unbeeinflußter Entscheidungsfreiheit Rechnung zu tragen. Hier zeigt sich, oft leidenschaftlich ausgesprochen, die Spannung, die zur Zeit in der evangelischen Kirche zwischen den Kirchenleitungen als den bestellten Hütern der Gemeindefrömmigkeit und einer modernen Theologie besteht (vgl. dazu den Protest der Theologischen Fachschaft an der Universität Bochum wegen der Drohung der Westfälischen Landeskirche gegen die „wachsenden Irrlehren einer ,neuen Theologie'“, lt. Frankf. Allgemeine v. 17. 2. 69).
Auch im katholischen Lager hat sich das „Lehramt” gegen aufkommende Häresie (vgl. den „Fall” Halbfas, dazu Frankf. Allg. v. 17. 2. 69), vor allem in der Religionspädagogik zu wehren. Bedeutet es mehr als einen Rückzug, wenn man das Wort „Religionsunterricht” oder „religiöse Unterweisung” in „Religionslehre” umwandelt? Sind hier bereits „mögliche künftige kulturpolitische Entwicklungen” ins Auge gefaßt, denen gegenüber ein Festhalten an „verkündender Katechese” die Zerstörung der Basis in der öffentlichen Schule bringen würde? (1) Oder wird hier aus erzieherischer Verantwortung die Behauptung eines „religiösen Sonderbereichs” aufgegeben? Wie soll man es dagegen beurteilen, wenn eine Kirchenleitung, die von einer orthodoxen Gemeindegruppe wegen Duldung von Häresie auf den Kanzeln ihrer Landeskirche getadelt wird, eben diesen Vorwurf an eine „neue” Religionspädagogik weitergibt und für ihren Religionsunterricht auf traditionellem Inhalt und herkömmlicher Stellung besteht?
Gegen diesen ungewissen Weg eines konfessionellen Religionsünterrichts richtet sich vonseiten einer wissenschaftlichen Religionspädagogik in Theorie und Praxis die Einsicht, daß im Gesamtkomplex der öffentlichen Schulen Religionsunterricht nicht länger einen Fremdkörper bilden darf. Er habe sich grundlegend, so fordert man, von einer einseitigen Unterweisung und einem Aufruf zu einer traditionell und dogmatisch bestimmten Entscheidung abzukehren und sich der Eigenständigkeit der Erziehung im allgemeinen und der inneren Struktur eines öffentlichen Erziehungswesens im besonderen einzuordnen.
Man nimmt dabei Ergebnisse moderner Erziehungswissenschaften auf, wonach der Ansatz jeder Erziehung allein im Gefühl menschlicher Gesamtverantwortung (Weniger, 363) liegt, der im erzieherischen Tun nicht die Verwirklichung eines Ideals vom Menschen und der Persönlichkeit, das den Maximalforderungen und Wunschbildern einer Zeit entspricht, anstrebt, also im Bereich religiöser Erziehung eine wie auch immer geartete offene oder verdeckte Missionierung betreibt, sondern aus dem Wissen um den freien Raum, der jedem Menschen zugehört, die Freiheit des anderen bejaht. Dadurch wird der Erziehende zum „Anwalt der Zukunft im Kinde“ (2), was von ihm verlangt, sich selbst zu relativieren, d. h. nicht standpunktlos zu sein, aber aus der Bereitschaft, sich zurückzunehmen, die innere Zukunft der Jugend frei zu lassen. Daher muß Erziehung auch von den Mächten, die auf den jungen Menschen Anspruch erheben, den Verzicht auf diesen ihren Anspruch verlangen ― um der Freiheit willen. Aus dieser Eigenständigkeit folgt die Ablehnung jedes inhaltlichen Bekenntnisses.
Es ist hier herauszustellen, daß sich diese Religionspädagogik bewußt auf die Grundlage moderner Erziehungswissenschaft stellt und die Erkenntnisse der allgemeinen pädagogischen Psychologie einsetzt. So ist auch für sie Lernen immer auf den Weg des Denkens und Verstehens angewiesen, womit nicht die Einseitigkeit des Intellekts, sondern die Gesamtheit des menschlichen Wesens angerufen wird (3). Dieses Lernen, das durch den Anstoß des Angesprochenseins in Gang kommt, „meint … die Veränderung der inneren Wissens-, Gesinnungs- und Interessenbestände des Menschen … und muß ihm helfen, sich selbst besser zu verwirklichen“ (4).
Durch die Besinnung auf diese Grundstruktur des erzieherischen Tuns und damit des öffentlichen Erziehungswesens fordert die moderne Religionspädagogik von den Kirchen die Einordnung des Religionsunterrichts in die Gesamtaufgabe schulischer Bildungsintention: Einführung und Einübung in Leben und Welt. Es gilt, den Menschen in seiner Welt, und zwar im Blick auf Gegenwart und Zukunft, lebensfähig zu machen (5). Hier ist bezeichnend, daß sich sowohl evangelische wie katholische Religionspädagogik von der Bevormundung durch die traditionelle Gemeindefrömmigkeit und der mit ihr konformen Theologie frei zu machen beginnt. Damit wendet sie sich auch von jeder biblizistischen Begründung ihrer Arbeit ab, die Unterrichten als „Richten unter die Lehre Gottes”, als „Hinbeugen unter Gottes Wort“ (6) versteht. Ihr Welt- und Geschichtsbild wird vom Bewußtsein des modernen Menschen, nicht von den biblischen Offenbarungszeugnissen bestimmt. Ihre Unterrichtssprache ist nicht fordernder Gehorsam, sondern offener Dialog.
Es ist bemerkenswert, wie sehr der hier zugrunde liegende Wirklichkeitsbegriff von Kategorien eines existenzphilosophischen Denkens ausgeht, dessen Einfluß auf die Pädagogik unserer Tage unverkennbar ist (7). Und es ist zugleich die revolutionierende Unruhe im heutigen Christentum festzustellen, wenn die „neue” Theologie in beiden Konfessionen Entscheidendes „nur im Geschehen, in den Situationen der Wirklichkeit“ (8) als erfahrbar sieht. Weil hier keine Ergänzung der Wirklichkeit durch eine andere stattfinde, habe es auch der Religionsunterricht „niemals mit Sonderbereichen zu tun, die additiv den übrigen Fragenkomplex ergänzten, sondern prinzipiell mit der Wirklichkeit als Ganzem“ (9). Mit der Übernahme des Tillichschen Begriffs der „Dimension der Tiefe” wird die Einheit der geistigen Welt unterstrichen und die Absage jeder Lehre von der „doppelten Wahrheit“ (10) ausgesprochen. In diesem Sinn soll Religionsunterricht die „religiöse Dimension der Wirklichkeit” aufschließen. Wir werden zu fragen haben, was diese Entwicklung innerhalb der christlichen Religionspädagogik für unsere Fragestellung zu bedeuten hat.
Weil nun Schule allgemein in ihrer Aufgabe auf geschichtliche Wahrheit verpflichtet ist, soll sich Religionsunterricht auf die biblische Überlieferung gründen. Denn „die Menschen in unserem Kulturkreis (haben) ihr Sein in der Welt an kaum einem anderen Material derart intensiv ,eingeübt‘ wie an gerade diesem”, so „daß der Unterricht nicht an ihr vorbeigehen kann“ (11). In diesem Sinn soll Religionsunterricht „die Wirklichkeit” durch kritischen Umgang mit der biblischen Überlieferung auslegen.
Trotz aller „Modernität” will aber auch dieser „neue” Religionsunterricht bewußt christlich sein insofern, als er in Christus das entscheidende „Existential des Menschseins’” (12) sieht. Daß an diesem dem heideggerschen Denken entnommenen Begriff der Abstand zwischen orthodoxer und existentialer Theologie deutlich wird, mag dahingestellt bleiben. Es ist nicht meine Aufgabe, hier auf die innerkirchIichen Spannungen einzugehen, die sich aus der offiziellen, in allen Bildungsplänen immer noch geforderten Konzeption kirchlichen Religionsunterrichts (Verkündigung, Glaubensentscheidung) und den religionspädagogischen Reformvorschlägen ergeben haben. Für unsere Fragestellung ist wichtig, daß in manchen Kirchenleitungen die Bereitschaft zu bestehen scheint, theologisch vom orthodoxen Glaubensverständnis abzurücken und sich einer fortschreitenden Reformierung im Sinn eines existential gesehenen Menschenbildes nicht mehr zu widersetzen. Dies ist ein allmählicher und sicher gegenüber der Gemeindefrömmigkeit nur mühsam fortschreitender Prozeß. Er ist aber bereits daran abzulesen, daß man sich in Neubesinnung um Inhalt, Weg und Ziel des Religionsunterrichts nicht nur theoretisch Gedanken macht, sondern praktisch Neuland zu gewinnen sucht. Es braucht nicht bezweifelt zu werden, daß hier nicht so sehr die Sorge um „mögliche künftige kulturpolitische Entwicklungen”, als vielmehr das Verantwortungsbewußtsein für die „Tagesordnung der Welt”, von der man auf dem Weltkirchentag in Uppsala 1968 so viel sprach, im Spiel ist. In der theologischen Begründung noch tastend und verhalten, nimmt man die Methode einer kritischen Auseinandersetzung mit Gegenwartsfragen in den Religionsunterricht hinein und glaubt, dabei mit einer behutsam abwartenden, gleichsam homöopathischen Therapie allmählich kaum vorhandene oder doch sehr ungefestigte, oft auch skeptisch oder polemisch sich gebende Ansätze für christliches Denken zu festigen und aufzubauen, um auf diesem „langen” Weg ein religiöses Bewußtsein der Jugend von heute zu wecken, vorzuprägen, ja entscheidend zu bestimmen, damit die Erwachsenen von morgen durch eigenes Hineingewachsensein, statt Revolution zu machen, religiöse Evolution bereits vollzogen haben. Es ist aber eindeutig gegenüber aller Bejahung neuer Ansätze in Methodik und Didaktik festzustellen, daß der „Perspektivenwechsel” von einer Theologie der Erlösung zu einer solchen der Mitmenschlichkeit (13) für die Fragen unserer Zeit und damit unserer Jugend irrelevant bleibt, solange nicht vom Absolutheitsanspruch der christlichen Antwort im Bereich unserer geistig vielschichtigen Gesellschaftsordnung abgerückt und damit wirklich geistige Freiheit ohne geistlichen Vorbehalt praktiziert wird. Die Modernisierung des Religionsunterrichts bleibt ein Flicken am alten Kleid,. bleibt ein Kompromiß, dessen innerkirchliche Begründung uns nicht anficht, der im Bereich der öffentlichen Schule aber nicht nur einen „faulen” Frieden, sondern eine contradictio in adiecto bedeutet.

Zur Verdeutlichung des tastenden Suchens nach neuen Wegen kirchlichen Religionsunterrichts sei auf zwei Modelle, bzw. Experimente verwiesen, an denen das Bemühen abzulesen ist, Fragen der Jugend aufzunehmen und doch bisherige Positionen zu halten.

1) Max-Planck-Schule in Rüsselsheim, sog. „Rüsselsheimer Modell” der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau für das Schuljahr 1968/69: „Fach Religionslehre Klasse 12 und 13”:
Organisationsplan: Der Unterricht im Fach Religionslehre für die evangelischen Schüler erfolgt in 4 bzw. 5 Seminargruppen, die in je 4 Quartalsgruppen unterteilt werden. Bei diesem Kurssystem ist das Angebot personell und sachlich durchlässiger geworden. Der Schüler kann viermal die Gruppe bzw. das Thema wechseln. Die Themenkreise, deren Aufriß zuvor mit den Schülern besprochen wurde, sind nicht mehr auf „Verkündigung” und „Glaubensentscheidung” ausgerichtet, sondern behandeln unter Einbeziehung religionsvergleichender Sicht Gegenwartsfragen des persönlichen und gesellschaftlich-staatlichen Lebens, setzen aber als selbstverständlichen Ausgangs- und Zielpunkt christliche Grundhaltung voraus, wie der Tenor der meisten Themen („Der Christ und …) ausweist. Diese christliche Grundhaltung wird zwar der kritischen Fragestellung ausgesetzt, erscheint aber doch ― mit gleichsam „apologetischer Glaubensbeschwichtigung“ (14) ― als unverändert gültiges Telos.
Es wird also ein modernisierter Unterricht geboten, der sich der neuen Frage des „In-der-Welt-Seins” stellt, die traditionelle Antwort nicht mehr in doktrinärer Weise zu erkennen gibt, sich aber doch der entscheidenden Wende, wie sie die „neue” Theologie brachte, verschließt. Die Tatsache, daß auch katholische Lehrer sich an diesem Versuch beteiligen wollen, zeigt auf die von den Kirchen offen zugegebene Möglichkeit, einer „allgemeinen Religionslehre” ― natürlich wie bisher in der Regie der Kirchen ― näherzukommen.
Daß man damit den innerkirchlichen Streit um eine neue Religionspädagogik schon präjudiziert, mag am Rande vermerkt sein. Daß man aber glaubt, dem „Rüsselsheimer Modell” als fünfte Seminargruppe „Religionskundlichen, Unterricht” einbauen zu müssen, läßt aufhorchen. Für Nicht-Hessen sei erläutert, daß ein solcher Unterricht als ordentliches Lehrfach seit 1950, bzw. seit seiner Erweiterung 1961 vom Staat für Schüler aller Schulformen ab 5. Schuljahr auf freiwilliger Basis eingeführt ist. Als außerkonfessioneller Unterricht dient er in gesamtpädagogischer Zielsetzung der Einführung in die Welt der Religion und in den Bereich komplexer Lebensfragen und soll im Schüler eine religiös-weltanschaulich unabhängige, vom Unterricht in keiner Weise intendierte Entscheidung als Erwachsener vorbereiten helfen.
Die Vereinigung der entgegengesetzten erzieherischen Programme der evangelischen Religionslehre und des außerkonfessionellen religionskundlichen Unterrichts zu einer pädagogischen Einheit ist eine Unmöglichkeit und kann nur aus der kirchlichen Vorstellung abgeleitet werden, trotz der geringen Bekennerzahl und der wachsenden Kritik einen Öffentlichkeitsauftrag auch im Schulwesen zu besitzen derart, daß man sich zwar nicht mehr auf eine „Anrede ,senkrecht von oben’” beruft, aber doch für die humane Selbstinterpretation im christlichen Glauben die eigentliche Antwort zu finden glaubt.
Daß dieses Fach „Religionskunde“ (das bisher in Rüsselsheim nicht gegeben wurde, jetzt aber unter Religionslehre für evangelische Schüler läuft) in der Notengebung trotz eindeutiger Anweisung im Erlaß nicht selbständig erscheint, die Möglichkeit seiner Wahl als „Wahlprüfungsfach im Abitur” (im Gegensatz zur Nennung einer solchen für Religionslehre) im „Organisationsplan” nicht erwähnt ist, außerdem die Schüler nicht auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen der konfessionellen Religionslehre und dem außerkonfessionellen religionskundlichen Unterricht aufmerksam gemacht werden, der Themenplan des religionskundlichen Unterrichts jedoch, eingerahmt von vier anderen Gruppen, deutliche Querverbindungen zu diesen zeigt, kann nur als Symptom für das Dilemma angesehen werden, unter dem die augenblickliche innerkirchliche Situation und damit die von ihr vertretene Religionspädagogik steht.
Zugleich wird aber der Systemzwang deutlich, der unser öffentliches Leben, vor allem im Bereich der Schule, weitgehend bestimmt. Die Eigenständigkeit der Erziehung, deren Wahrung im öffentlichen Schulwesen einer pluralistischen Gesellschaft unabdingbar ist, wird von außerschulischen Kräften theoretisch negiert und praktisch untergraben. Formales Nachgeben ist kein Beweis für klare Scheidung der Einflußgebiete, wie sie für Hessen die Verfassung (15) ausdrücklich fordert. Daß der hessische Staat allerdings diesen „Schulversuch” gestattet, ist ein erneuter Hinweis auf die Dringlichkeit der rechtlichen Klärung über die Stellung eines bekenntnismäßig gebundenen Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen (vgl. Fischer in Vorgänge 12/68, S. 422).
Das „Rüsselsheimer Modell” muß also nach dem vorliegenden Organisations- und Themenplan als ein Versuch mit bedenklichen Mitteln angesehen werden,  weil es die fehlende Rechtseindeutigkeit ausnutzt und dem immer stärker werdenden Ruf nach einem außerkonfessionellen Unterricht nur durch ein scheinbares, in Wirklichkeit aber nicht „sachgemäßes” Entgegenkommen antwortet.

2) Auf ähnliche Weise suchte man an einem Darmstädter Gymnasium den für alle Gymnasien gemeinsam gehaltenen religionskundlichen Unterricht zu unterlaufen. Nach einem Gespräch zwischen dem Religionslehrer (Pfarrer) der Schule und dem Religionskunde-Lehrer, in dem der neutrale, d. h. außerkonfessionelle und die christliche Religion sachlich einordnende Charakter des religionskundlichen Unterrichts festgestellt wurde, richtete „man” an eben jener Schule einen für Darmstadt zweiten religionskundlichen Unterricht ein, der nun von diesem Pfarrer im Sinn seines gleichzeitigen, bewußt christlichen Unterrichts gegeben wird. Erst auf Vorsprache hin wurde dieser Unterricht von einem pflichtmäßigen in einen freiwilligen umgewandelt. Man benutzt also für diesen Unterricht denselben Namen eines religionskundlichen Unterrichts, geht aber bewußt von einer anderen als der verbindlichen Grundhaltung aus. Man will so jeden „Einbruch” in die privilegierte Eigensphäre abriegeln. Dadurch kennzeichnet sich auch dieses Experiment als der Versuch, die deklarierte „christliche Grundlage” im öffentlichen Schulwesen gegen die allgemeine Entwickilung gewaltsam zu demonstrieren.
Diese Beispiele mögen für manche andere mögliche stehen; aufs ganze gesehen ist jedenfalls festzustellen: man ist sich trotz aller innerkirchlicher Spannungen und Polemiken darin einig, daß ein Religionsunterricht christlich bleiben muß. Doch ist man bereit, ihn von einem mono- zu einem bi- und sogar multikonfessionellen Unterricht auszuweiten. Doch auch dieser soll möglichst an der kirchlichen Grundthese nicht vorbeigehen, daß der Inhalt der Bibel für den Menschen Bedeutung habe, mag man diese nun trinitarisch-biblizistisch oder psychologisch-anthropologisch auslegen.

Für unsere Frage nach einer Entwicklung im bisherigen Religionsunterricht scheint es bedeutsam, daß sich eine offensichtliche Wandlung abzeichnet. Wir fragen die „neue” evangelische Theologie, die „die Decke vergangener Religiosität zu durchstoßen” und „dem Menschen je seiner Zeit in seiner Sprache und seinen Vorstellungen … zu sagen (sucht), … wie man sein Leben bestehen kann“ (16); wir fragen den Katholiken, der „die Offenbarung Gottes … in Jesus von Nazareth nicht als etwas kategorial anderes gegenüber außerbiblischen Offenbarungen“ (17) versteht, ― wir fragen sie beide, die die biblizistisch-orthodoxe Verurteilung ihrer, Existentialtheologie als eines „in den Unglauben pervertierten Rudiments des christlichen Glaubens“18 sicher nicht mehr erreicht, nach den Wandlungen ihres Gottesbegriffs und werden in ihrer Antwort ― „da wir keine Menschen der Spätantike mehr sind” ― „nicht .. auf statisch verstandene Ewigkeitswerte”, sondern auf die Notwendigkeit eines radikalen „Entweder-Oder” zwischen alten Vorstellungen und „Wandlungen (verwiesen), in denen sich zu aller Zeit menschliches Leben realisiert hat”. So will man „in steter Neufassung überkommenen Glaubens den Weg ins Offene des Glaubens und der Welt” gehen (19).
Hier wird der Bezug zum Denken Tillichs deutlich, für den Religion bedeutet, „leidenschaftlich nach dem Sinn unseres Daseins zu fragen und für Antworten offen zu sein“ (20). Entscheidend ist hier Religion als Funktion des menschlichen Geistes, als innermenschliche Frage und Antwort verstanden. Mit allem Nachdruck muß auf die Bedeutsamkeit dieser Wandlung des Religionsbegriffs hingewiesen werden, die als solche den Rahmen jeder Lehre und jedes Bekenntnisses, auch den der Tillichschen Theologie, sprengt und das „appellierende Fragen” (Jaspers) als konstitutiv für das Menschsein herausstellt. Damit ist keine neue Religionslehre, keine Weltanschauungsrichtung im ideologischen Sinn gegeben, sondern die Möglichkeit eines Hineinwachsens in die Freiheit eigener Existenz. Und aus der Tatsache, daß man mit seiner Frage nicht allein bleiben kann, zumal wenn man seinen Weg erst beginnt, folgt die Notwendigkeit einer Hilfe, die auf Grund. der Verwurzelung des einzelnen in der Gruppe und Gesellschaft in Zeiten der Entwicklung zu erfolgen hat. Hier liegt die Begründung jeder Erziehung. Da sie den selbstentscheidenden Menschen als Ziel hat, muß das die Mündigkeit allein aufbauende Prinzip der Freiheit zum Leitmotiv aller Lebenshilfe werden. Damit ist die alte Forderung der Eigenständigkeit der Erziehung, die keinem Lehrinhalt und keinem Gruppeninteresse dienen kann, die Voraussetzung des Offenseins und Offenhaltens für Lehrende und Lernende. Ohne diese Vorbedingung lassen sich bekenntnismäßige Vorwegnahme und Suggestivzwang, auch wenn sie heute mehr subtil als massiv zum Einsatz kommen, nicht vermeiden.
Nun scheint aber die „neue” Theologie und ihre Religionspädagogik bei allem Anspruch auf den Vorrang ihrer wissenschaftlich reflektierten Grundsätze vor herrschender Frömmigkeit und Kirchlichkeit (21) doch nicht über den Schatten ihrer eigenen Tradition hinauszukommen. Trotz allem Respekt vor persönlicher Überzeugung ist das von der Theologie fast allgemein geforderte Festhalten an bisherigen religiösen Symbolen, an der Bibel und am Christentum als „unserem Lebenshorizont (22) in seinem Prioritätsanspruch für die Schule ebenso abzulehnen, wie der sich hiervon nur graduell abhebende geistliche Absolutheits- und politische Machtanspruch kirchlicher Herkunft. Es sei aber nicht unerwähnt gelassen, daß einige Stimmen (23) jede institutionelle Forderung der Kirchen an die Schule ablehnen und dafür die personale Repräsentanz in der Gestalt des christlichen Lehrers befürworten. Wir werden dazu Stellung zu nehmen haben.
Die Wandlungen und Entwicklungen innerhalb des konfessionellen Religionsunterrichts sind deutlich geworden, sein desolater Zustand läßt sich nicht mehr verheimlichen. Unglaubwürdig wird daher eine Verschleierung der Tatsachen (24) durch kirchliche Meldungen, die z. B. für den katholischen Bereich im Raum Frankfurt-Wiesbaden von 90 % und mehr Beteiligung am Religionsunterricht sprechen und diese Zahl noch als Erfolg buchen, wobei man die Tatsache der rechtlich nicht gedeckten, psychoIogisch gefährlichen und pädagogisch unverantwortlichen Drohung des Ausschlusses aus dem eigenen Religionsunterricht bei Teilnahme an dem nichtkonfessionellen religionskundlichen Unterricht verschweigt.

Unbeschadet der rechtspolitischen Forderung nach Beseitigung jedes konfessionellen Einflusses im öffentlichen Schulwesen, ist vom Staat aus pädagogischen Gründen die Einrichtung eines ordentlichen Unterrichtsfaches zu verlangen, in dem die religiös-weltanschauliche Frage in der Verschiedenartigkeit ihres Ansatzes und ihrer Entwicklung kritisch aufgezeigt und ihrer Rolle für die Entfaltung der Persönlichkeit im Rahmen schulischer Gesamterziehung Rechnung getragen wird. Versuche in einigen Bundesländern, einer außerkonfessionellen Behandlung dieser Frage durch einen allgemeinen „Sittenunterricht“ (25) auszuweichen, sind unzulänglich.
Es ist im Erziehungs- und Unterrichtswesen unserer Gesellschaft unerläßlich, daß unter demselben pädagogischen Aspekt, unter dem „Gemeinschaftskunde” in die schulische Arbeit integriert ist, ein Fäch geschaffen wird, durch das der Heranwachsende in streng neutralem und kritischem Sinn von früh an auf einen Sachbereich hingewiesen wird, dem er als Erwachsener in freier und völlig unabhängiger Weise begegnen soll. Da dieser Sachbereich zugleich ein Wertbereich sein kann, durch den die Tatsache einer allgemein menschlichen Grundsituation ins Auge gefaßt wird, in dem die Sinnfrage als ein Existential des Menschen erscheint und damit alle möglichen Teilantworten subsumiert werden, ist die Voraussetzung erfüllt, die für das Erziehungs- und Bildungswesen einer demokratisch-offenen Gesellschaft unabdingbar ist: in einer appellierenden, aber keineswegs „gelenkten” Weise soll der junge Mensch im gesamten Bereich seiner Personalität (26) durch Lernen, d. h. durch Wachsen am begegnenden Stoff gleichsam auf die Spur eines beginnenden Engagements gesetzt werden, um so die Aufgabe seiner Selbstverwirklichung langsam in die eigene Hand zu nehmen. Da durch solches Ansprechen die Sinnfrage immer zugleich in die Richtung eines antwortenden Tuns weist, wird mit diesem neuen Fach des religionskundlichen Unterrichts im Rahmen schulischer Gesamterziehung echte Lebenspropädeutik geleistet. Doch ist damit keineswegs ein Rückfall in das vergangene Ideal einer Persönlichkeitskultur, besser gesagt: eines Persönlichkeitskultes verbunden. Denn da die stoffliche Information den Blick auf Wertbereiche lenkt, deren Neuheit (Fremdheit) und jeweils nur subjektive Gültigkeit ja immer an Menschen und ihr Handeln gebunden ist, führt nur die Bereitschaft zu wahrer Toleranz zu einem „Verstehen”, in dem der Heranwachsende, ohne schon zu „glauben”, die für den anderen bestehende Verbindlichkeit zum Anlaß eigenen Fragens und Prüfens nimmt. In dieser Offenheit, die ebenso weit von müder Indifferenz wie von ideologisierender Überheblichkeit entfernt ist, lernt und erlebt er die Kommunikation mit dem Mitmenschen, weil für sie beide bei aller Verschiedenheit der je persönlichen Antwort die gemeinsame menschliche Situation deutlich wird. So vollzieht sich die Selbstverwirklichung im und am mitmenschlichen Bereich und schließt schon jetzt die zukünftige Entscheidung mit ein.
Es wird nicht mehr bestritten werden können, daß so verstandener und praktizierter religionskundlicher Unterricht eine Lücke schließt, die aus dem veränderten Weltverständnis unserer Tage entstanden ist, aber auch nur von hier aus geschlossen werden kann. In einer offenen Demokratie kann es nur eine „offene” Schule geben, die nicht über ein geschlossenes Leitbild verfügen will, aber Leitlinien aufzeigen kann und muß, an denen inneres Wachsen erfolgen kann. Daß dieses wachsende Fragen und seine Antwort durch „Unabschließbarkeit”, d. h. durch Offensein charakterisiert ist, braucht nicht mit Bedauern festgestellt zu werden (27), sondern ist gerade Merkmal eines entscheidenden Erziehungsprinzips unseres Bildungswesens.
Es wird dadurch bestimmt, daß es die moderne Frage nach Selbstidentifikation, nach Selbstvergewisserung des Menschen in einer Zeit der Selbstentfremdung und die Frage nach dem handelnden Tun, also nach dem Gesamtbereich geistig-humaner Orientierung zentral und problemoffen stellt. Daß damit der Erziehungstheorie eines „mechanischen Machens von außen” sowie der eines „organischen Wachsens von innen” abgesagt ist, zeigt die heute Allgemeingut gewordene Einsicht in die „Möglichkeit unsteter Formen in der Erziehung”, die die Bedeutsamkeit „qualitativer Sprünge”, d. h. des existentiellen Engagiertwerdens durch innere Krisenzeiten und -momente als pädagogisch entscheidend herausstellt (28). Hier muß jeder Suggestivzwang, jede Bekenntnisvorwegnahme als Indoktrination und damit als aufgenötigte Vorentscheidung wirken, die das Offensein und Offenhalten für Lehrende und Lernende als Voraussetzung für eigene und gegenseitige Freiheit leugnet.
Dies gilt für alle Fächer in der Schule, somit auch ohne Einschränkung für die Behandlung der religiös-weltanschaulichen Frage, die in der geforderten problemoffenen Grundhaltung im Religionsunterricht kaum noch möglich ist. Das neue Unterrichtsfach ― nennen wir es zunächst weiter „Religionskunde” ― soll durch exemplarisches Aufzeigen und damit Erfahrenlassen der Welt der Religion als eines Ortes der Sinnfrage und Sinnantwort des Menschen den Blick auf die eigene sittliche Entscheidung frei machen. So wird auch hier die Frage der Persönlichkeitswerdung als entscheidender Inhalt ganzheitlicher Erziehung erkannt, in kritischer Sachlichkeit und appellierendem Ansprechen gestellt und aus erzieherischer Verantwortung für die Freiheit des Fragenden in das Offene seiner eigenen Antwort entlassen.
Weil mit dem hier skizzierten religionskundlichen Unterricht keine neue Religion, Weltanschauung oder ldeologie verkündet wird, sondern der in der heutigen religionsphilosophischen Problemstellung gefundenen Begriffsausweitung entsprochen, ihre Anwendung über eine konfessionelle Religionspädagogik hinaus ermöglicht und damit der Anschluß an andere Gesinnungs- und Wertfächer gefunden wird, hat der Staat bei voller Wahrung seiner Verpflichtung zu strikter Religions- und Weltanschauungsneutralität die Pflicht, diesen Weg gesamterzieherischen Tuns im Schulbereich freizugeben.

Die Erfahrungen eines nunmehr 8jährigen religionskundlichen Unterrichts in Hessen beweisen die Wichtigkeit des Schrittes, einen im öffentlichen Schulwesen allgemein bestehenden pädagogischen Notstand zu beseitigen, und sie zeigen auch trotz mancherlei Behinderungen die Möglichkeiten eines erzieherischen Erfolges. Doch ist im Lauf der Zeit deutlich geworden, daß die Freiwilligkeit der Teilnahme nicht mehr der Situation heutiger Fragestellung gerecht wird. Da im religionskundlichen Unterricht wie in der „Gemeinschaftskunde” der Blick von der Sachinformation auf Entscheidungsperspektiven gelenkt wird, die Besinnung auf sie aber hier wie dort von früh an „aufschließend” und damit bildend wirkt, kann man nicht mehr nur vom Recht des Kindes, sondern muß auch von seiner Pflicht reden, nämlich der Verpflichtung zum Lernen, d. h. zum Hineinwachsen in eigene Frage und Antwort, eine Frage, die aus Geschichte und Gegenwart auf allen Gebieten des personalen und sozialen Daseins entgegentritt. Daher muß das Fach religionskundlicher Unterricht obligatorisch sein, muß doch jedem, auch dem konfessionell Gebundenen der Blick auf die Probleme seiner Zeit und seiner offenen Gesellschaft geöffnet und kritisch geschärft werden.
Daß dieses Pflichtfach nicht ― weder personell noch sachlich ― den Kirchen, also einer außerschulischen Gruppe, überlassen werden kann, sondern einzig und allein Veranstaltung der Schule sein muß, ist dargelegt worden. Es ist von F. Ley bereits (Vorgänge 2/69, S. 79 ff.) darauf hingewiesen worden, daß alle Auflockerung des kirchlichen Religionsunterrichts nur einen halben Schritt bedeutet, weil sein Anspruch auf christliche Ausrichtung eines Unterrichtsfachs dem Geist der „offenen” Schule widerspricht und die Privilegisierung machtpolitisch weiterhin verankert. Es ist hier nicht der Ort, auf die Frage der „christlidien Gemeinschaftsschule” einzugehen; aber daß „Elternrecht” nicht mehr in „Kirchenrecht” umgefälscht werden kann, sollte inzwischen deutlich geworden sein (29). Aus der zahlenstarken „Volkskirche” läßt sich kein Öffentlichkeitsauftrag mehr ableiten. Der Selbstverständlichkeit des Christlichen, das „nur noch als … undefinierbarer Lebensstil … in Erscheinung tritt“ (30); ist heute keine entscheidende Präsenz mehr zuzuerkennen. Und im Blick auf die Jugend ist gerade von christlicher Seite erkannt, daß die Schizophrenie zwischen der Indifferenz der meisten Eltern gegenüber christlicher Werthaftigkeit und ihrem äußeren Festhalten am christlichen „Einfluß” in der Schule die Gleichgültigkeit, ja das Taubwerden der Kinder gegen jedes Angesprochenwerden geradezu herausfordert. Hier muß in klarer Erkenntnis der inneren Situation und der nach außen dringenden Forderungen die Konsequenz gezogen werden, ohne sich von dem Anwurf eines „atheistischen Weltanschauungsunterrichts” oder von Wahlsorgen beirren zu lassen. Die Behandlung der religiös-weltansdiaulichen Frage gehört genau wie die der politischen Besinnung in die Hand des Staates als des Treuhänders einer demokratisch offenen Erziehung (31). Es ist zu hoffen, daß die Kirchen ihren institutionellen Anspruch aufgeben und in redlicher Selbstkritik die bisher verabsolutierte Utopie eines verbindlichen christlichen Leitbildes in einen Beitrag zur realistischen, verifizierbaren Orientierung in der Welt der Pluralitäten (32) umwandeln.
Daß bei diesem Unterricht zentraler geistig-humaner Selbst- und Weltorientierung dem Lehrer eine entscheidende Rolle zukommt, ist aus seiner schon erwähnten Aufgabe „Anwalt der Zukunft im Kind” zu sein, einleuchtend. Er ist pädagogisch nur glaubwürdig, wenn er, aufgeschlossen für die religiös-weltanschauliche Fragestellung, nicht lediglich indifferente Informationen gibt, sondern, persönlich engagiert, in kritischer Sachlichkeit die Jugend zur Selbstklärung führt und auf den Weg kommender Selbstverwirklichung weist. Wie er es in dem Fach Gemeinschaftskunde ablehnt, Funktionär einer Partei und ihres angeblich allein die Gesellschaftsordnung stützenden Programms zu sein, kann er ebenso wenig im religionskundlichen Unterricht den Auftrag einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppe oder Institution annehmen oder sich ihm verantwortlich fühlen. Er repräsentiert in seiner Person und seiner Haltung die Evidenz einer Überzeugung und ihrer Verifizierung, beweist aber ständig seine pädagogische Verantwortung dadurch, daß er die Fragwürdigkeit seines wie jedes anderen Standpunktes offen läßt und dadurch die Frage nach dem „homo humanus” immer neu, auch sich stellt.
Die von kirchlicher Seite geforderte Repräsentanz des Christlichen in der Schule durch den christlichen Lehrer hat also nur im Rahmen des allgemeinen erzieherischen Auftrags, wie er dem öffentlichen Bildungs- und Erziehungswesen gestellt ist, ihren Platz. Sie steht neben der Repräsentanz anderer, die Vielstimmigkeit unserer geistigen Situation konstituierender Anschauungen. Der einzige Ausgangspunkt für das gesamte erzieherische Tun des Lehrers ist der Auftrag der Schule und die Situation des Schülers. Seinen wie jeden anderen geistigen Standpunkt bringt er als eine Möglichkeit mit ein, stellt ihn in das Offene der appellierenden Frage und der je möglichen individuellen Antwort. Somit braucht der Schüler den Lehrer auch in diesem Fach, sofern und weil er am Lehrinhalt und an der Haltung des Lehrers sich zu orientieren, kritisch zu differenzieren und selbständig zu ordnen lernen kann (33). Dabei geht es aber für Lehrende und Lernende um die Frage nach dem  e i n e n  Menschen in der Verschiedenheit seiner selbstinterpretation. Hier ist die erzieherische Verantwortung des Lehrers die Voraussetzung für die erste Stufe der Selbstfindung des jungen Menschen: der Toleranz als der Bejahung des Mitmenschen in seiner Eigenentscheidung und Eigenhaltung. Zugleich wird dadurch die Möglichkeit zu echter Kommunikation und gleicher Antwort auf die entscheidende Sinnfrage eröffnet, aus der der Weg zu selbstverantwortlichem Tun sich ergibt. Jede suggestive Einflußnahme des Lehrers muß dabei als Indoktrination ― sei sie religiös oder areligiös ― abgelehnt werden um der Freiheit des in seine eigene Entscheidung hineinwachsenden jungen Menschen willen.
Daß diese erzieherische Aufgabe einer gründlichen wissenschaftlichen Ausbildung bedarf, ist fast überflüssig zu bemerken. Erfreuliche Ansätze sind in Niedersachsen festzustellen, wo vor kurzem eine Dozentur für die Didaktik des religionskundlichen Unterrichts an der Pädagogischen Hochschule Hannover eingerichtet wurde. In Hessen weicht der Staat einem ähnlichen Schritt noch aus und verweist Studierende auf den Weg privater Bemühung. Diese Behinderung der freien Entfaltung erzieherischer Persönlichkeit und damit die vorhandene Rechtsungleichheit gegenüber anderen Studierenden wird in dem Augenblick fallen müssen, wo der religionskundliche Unterricht obligatorisches Fach an allen Schulen wird. Seine Notwendigkeit liegt aus pädagogischen und rechtlichen Gründen außer jedem Zweifel.

Wir fassen zusammen:
Der konfessionelle Religionsunterricht befindet sich in einer Krise. Die Gründe dafür sind in der allgemein erhobenen Forderung nach kritischer Bewußtseinsbildung gegenüber allen Fragen des Lebens zu suchen. Dadurch geraten im Bereich kirchlicher Religionspädagogik christliche Traditionen, vertreten durch die Gemeindefrömmigkeit und die sie hütenden Kirchenleitungen und Lehrämter, in Konflikt mit der durch dasselbe kritische Fragen bestimmten Theologie. Alle Kompromißversuche zwischen den „feindlichen Brüdern” sind jeweils nur „Perspektivenwechsel”, um die im internen Kreis erbittert gerungen wird. Nach außen aber bleibt der Anspruch des Christlichen als des „Grundes unserer verhaltenssteuernden Tradition” (34). Man meint ― sicher in gutem Glauben ― den Schwund an Christlichkeit bei der Jugend durch das Eingeständnis einer bisher falschen „Verkirchlichung” des Religionsunterrichts aufhalten zu können. Trotz neuer Formulierungen und modernerer Problemerfassung soll die Verantwortlichkeit des Religionsunterrichts vor der Kirche, damit vor der biblisch-christlichen Antwort, wie auch immer sie gedeutet wird, bestehen bleiben. Wenn man auch zugibt, „daß die Kirche sich selbst davor zurückhalten muß, im Religionsunterricht bloß klassenbewußte Gemeindechristen zu produzieren”, so ist doch der Anspruch, an diesem Fach mitzuhelfen, „den Pluralismus unserer Gesellschaft in der Balance (zu) halten”, grundsätzlich abzulehnen. Man kann sich im Grund nicht von der These des „christlichen Abendlandes” lösen. Zugleich ist die immer wieder betonte Berufung auf den „grundgesetzlichen Schutz” des Religionsunterrichts im Grund der Rückzug auf alte Machtpositionen, die rechtlich unhaltbar und erzieherisch zerstörend sind.
Von einem solchen, doch immer durch die Kirchen bestimmten Unterricht wendet sich die Jugend innerlich ab, wie nicht nur eine „schockierende Abmeldungswelle” (35) hier und dort zeigt, sondern leidenschaftliche Kritik im Unterricht selbst beweist. Der Prozeß mag von außen verzögert werden, aufhalten läßt er sich nicht, da er im größeren Zusammenhang der allgemeinen Säkularisation steht, die nicht „als einfacher Prozeß der Auflösung traditioneller Religion (zu) verstehen (ist), sondern als eine Verwandlung der Wertordnung“ (36). So hat sich der Begriff „Religion” geradezu „kopernikanisch” gewandelt und steht gegen jeden „Alleinvertretungsanspruch”. Am Phänomen der Sinnfrage wird dies deutlich.
Die allgemeine Wandlung innerhalb der Frage nach dem Menschen und seiner jeweiligen Sinnantwort hat folgerichtig zu einer Entwicklung der erzieherischen Möglichkeiten geführt, eben diese Frage von neuer Warte so zu beantworten, daß die Einheit und Eigenständigkeit des gesamterzieherischen Auftrags gewahrt und vertieft werden kann. Es ist jetzt das Gebot der Stunde,
― daß Eltern von der Schule die freie Behandlung religiös-weltanschaulicher Fragen in einem neuen Fach „Religions- und Weltanschauungskunde” verlangen, das zu seinem Teil einen Beitrag im Rahmen schulischer Erziehung leistet;
― daß die Jugend ihr Recht auf offene Frage und Antwort ergreift, den Weg zu eigener Selbstwerdung bejaht und die Pflicht anerkennt, in Besinnung und Klärung sich der eigenen Zukunft zu stellen;
― daß sich Lehrerpersönlichkeiten finden, die sich nur ihrer, auch die eigene Überzeugung einschließenden erzieherischen Verantwortung verpflichtet fühlen, die sich immer deutlicher abzeichnende Entwicklung von privilegierter und gebundener zu allgemeiner und offener Persönlichkeitsbildung begrüßen und mitgestalten, um der Jugend echte Lebenshilfe in Freiheit zu geben;
― daß der Staat es aufgibt, Nothelfer der Kirchen zu sein, und sich nur von der Pflicht bestimmt weiß, über Pflege und Erziehung der Jugend zu wachen, dabei alle Möglichkeiten einer Ausbildung für die künftigen Lehrer schafft und diesen seinen vollen Schutz zuteil werden läßt, daß er wie politische Erziehung so auch eine „offene” Religionspädagogik innerhalb der Schule ausschließlich als seine Aufgabe erkennt.
In einer sich wandelnden Zeit muß die Schule der Ort sein, wo nicht nur überprüft, differenziert und geordnet wird, sondern dabei auf Möglichkeiten eigener Stellungnahme und Begegnung hingewiesen wird und Leitlinien kommender eigener Entscheidungen aufgezeigt werden. Die Behandlung der religiös-weltanschaulichen Frage soll in der dargestellten offenen und freien Weise einen Beitrag zu dem leisten, was der Schule aufgetragen ist: Vorbereitung für ein Leben in Freiheit und Verantwortung.

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Literaturhinweise

Bollnow, Existenzphilosophie und Pädagogik, 2. Aufl. 1962.
Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 1964.
Halbfas, Fundamentalkatechetik, 1. Aufl. 1968.
Hammelsbeck, Der kirchliche Unterricht, 1947.
Kaufmann, Möglichkeiten u. Grenzen des Religionsunterrichts heute, in: Der evangelische Erzieher 3/1968.
Knevels, Die Wirklichkeit Gottes, 1964.
Luckmann, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, 1963.
Matthes, Religion und Gesellschaft, 1967.
Otto, Handbuch des Religionsunterrichts, 3. Aufl. 1967, (a).
Otto, Schule, Religionsunterricht, Kirche, 3. Aufl. 1968, (b).
Roth, Pädagogische Psychologie, 2. Aufl. 1958.
Stallmann, Die Christlichkeit der „Christlichen Schule”, 1968.
Stock, Religionsunterricht in der „Kritischen Schule”, 1968.
Tillich, Die verlorene Dimension, 1964.
Weniger, Die Eigenständigkeit der Erziehung, 1952.
Wilhelm, Theorie der Schule, 1967.
Wölber, Religion ohne Entscheidung, 1960.

Anmerkungen:

1 Halbfas 102 Anm. 1.
2 Weniger 81.
3 Roth 110, Halbfas 103.
4 Roth 188.
5 Otto (a) 16, 23, (b) 178.
6 Hammelsbeck 15 f.
7 Bollnow 14.
8 Halbfas 55.
9 Halbfas 66.
10 Halbfas 53.
11 Otto (b) 185.
12 Halbfas 224.
13 Halbfas 224 Anm. 3.
14 Halbfas 338.
15 Artikel 50 Hess. Verf.
16 Otto (b) 191.
17 Halbfas 223.
18 Knevels 275.
19 Otto (b) 183; ähnlich Halbfas 224, auch Anm. 3.
20 Tillich 8.
21 Hamburger Leitsätze zum Religionsunterricht, 1969, Ziff. 7; 10.
22 Tillich 19; Otto (b) 185; Halbfas 242.
23 Kaufmann 96; Stock 37, 40.
24 Fuhrmann, Religionsunterricht in der höheren Schule, 1968.
25 Vgl. E. Fischer 320ff.
28 Roth 110.
27 Hamburger Leitsätze, Ziff. 8.
28 Bollnow 18 ff.
29 Wölber 110, Matthes 79 ff.
30 Luckmann 75, Kaufmann 91.
31 Stallmann 23 ff, 29.
32 Stock 36, 44, Kaufmann 96.
33 Wilhelm 295 ff.
34 Stoodt, Dozent für evang. Religionspädagogik an der Universität Frankfurt, in Frankfurter Rundschau v. 21. 3. 69.
35 Kieler Nachrichten v. 17. u. 20. 2. 69.
36 Luckmann 65.

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