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Editorial

vorgängevorgänge 2-201206/2012Seite 1-3

aus vorgänge Heft 2/2012, S.1-3

Weshalb erinnern? Diese Frage mutet zunächst seltsam an, in einem Staat, dem das negative Gedächtnis konstitutiver Bestandteil des Selbstverständnisses ist, der wegen der gelungenen Bewältigung der Vergangenheit zweier Diktaturen in anderen Ländern als „Modell Deutschland“ gepriesen wird. Doch hat sich das Erinnern mit der wachsenden zeitlichen Distanz gewandelt, Täter und überlebende Opfer wie auch Zeitzeugen sind inzwischen verstorben. Damit ändern sich auch die Bedingungen einer historischen Reflexion, die auf eine humane Gestaltung der Gesellschaft zielt. Wurde anfänglich, nach der Katastrophe des Dritten Reiches, die Forderung, aus der Geschichte zu lernen, noch als Anleitung zu einer gesellschaftsverändernden Praxis verstanden, so reduzierte sich diese Praxis im Laufe der Zeit auf „die Unternehmung, bei der“, wie Timothy Garton Ash einmal angemerkte, „die Deutschen wahrhaftig Weltmeister sind, die kulturelle Reproduktion der Terrorvarianten ihres Landes. Keine Nation ist brillanter, beharrlicher und erfinderischer im Erforschen, Kommunizieren und Repräsentieren ( … ) ihrer eigenen vergangenen Verbrechen.“ Diese Gründlichkeit, die der britische Historiker ironisierte, findet in der Intensität, mit der sich ab 1989 den Auswirkungen der kommunistischen Diktatur in der DDR gewidmet wurde, eine Fortsetzung. Damit läuft Erinnerung Gefahr, zu einer Pathosformel des per se Guten zu gerinnen, der eine routinierte und in der Regel staatlich geförderte Praxis der Geschichtsbearbeitung folgt – deren gesellschaftsprägende Kraft allerdings nur noch selten auf dem Prüfstand steht. Wir wollen mit dieser Ausgabe der vorgänge zu einer kritischen Prüfung des allzu Gewohnten anregen.

Für Martin Sabrow ist Erinnern zu einer „Pathosformel“ geworden, in der die ursprünglich individualpsychologische Kategorie zu einer Praxis gesellschaftlicher Selbstverständigung geweitet wurde. Paradigmatisch dafür steht der Zeitzeuge, dessen Konjunktur das Ende einer weltanschaulich gefärbten Vergangenheitsbetrachtung einläutete, wie sie noch die Anklagehaltung der Studentenbewegung prägte. Mit diesem Wandel ging eine Viktimisierung der Vergangenheit einher, in die in den letzten Jahren auch die Täter einbezogen wurden.

Für Ulrike Jureit wird mit zunehmender zeitlicher Distanz das Erinnern an nicht selbst Erlebtes zu einem identitätsstiftenden Selbstvergewisserungsprozess, bei dem der Selbstbezug lediglich simuliert wird. Das ermöglicht eine interessengeleitete Inanspruchnahme von Vergangenheit, die sich, bezogen auf die NS-Zeit, bei den nachwachsenden Generationen in der Übernahme der Opferperspektive ausdrückte. Doch auch diese Perspektive erfährt mittlerweile; auch aufgrund der kulturellen Diversifizierung der Gesellschaft, eine Historisierung.

Aleida Assmann verteidigt das „deutsche Modell“ eines identitätsstiftenden kollektiven Gedächtnisses an die Verbrechen der NS-Zeit gegen Kritiker, die, wie Jan Philip Reemstma, die Möglichkeit eines kollektiven Erinnerns und dessen positive Konnotation in Abrede stellen, oder, wie Ulrike Jureit, darin eine erinnerungspolitische Hegemonie der 68er Generation erblicken, der mit zeitlichem Abstand und angesichts einer sich ethnisch diversifizierenden Gesellschaft zunehmend der soziale Boden entzogen wird. Das negative Gedächtnis, eine Politik der Reue, sei nicht nur zum transnationalen Gemeingut geworden, sondern diene auch als Bezugspunkt gelingender Integration.

Birgit Schwelling hält die dichotome Gegenüberstellung der Politik des Schlussstrichs auf der einen und der Politik der Aufarbeitung auf der anderen Seite für unproduktiv, weil die Praxis des Umgangs mit belasteter Vergangenheit zeigt, dass sie stets beides enthält. Der Umgang mit Menschenrechts- und Regimeverbrechen sollte sich weniger von vermeintlich universalen und allgemeingültigen Antworten leiten lassen, sondern die jeweiligen Kontextbedingungen stärker in Rechnung zu stellen.

Micha Brumlik buchstabiert eine zeitgemäße Fassung von Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ als eine Pädagogik der Anerkennung, welche in der Akzeptanz der Integrität des Anderen die Entfaltung von Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung ermöglicht und somit gleichermaßen die Grundlage für Verfassungspatriotismus und Weltbürgertum bietet.

Matthias Proske räumt mit der Erwartung auf, dass „Aus der Geschichte lernen“ bedeute, dass Schule eine moralische Haltung vermittele. Unterricht über den NS und den Holocaust könne Wissen über den historischen Kontext, der moralisch verwerfliche Haltungen hervorgebracht hat, verbreiten und damit bei Schülern eine „Awareness“ wecken für die Bedeutung der NS-Gewaltverbrechen für die heutige politische Kultur.

Mark Arenhövel erkennt in den symbolisch inszenierten, gewaltfrei und friedlich ausgetragenen Debatten, Kontroversen und Streits über die Vergangenheit einen Modus, in dem demokratische Gesellschaften einen Entwurf ihrer selbst hervorbringen. Nicht die Kanonisierung eines Geschichtsbilds sei das Ziel, sondern die Auseinandersetzung darüber, wie eine Gesellschaft leben will, wie sie sich selbst sieht und auf welche Traditionen sie sich beruft und welche sie zurückweist.

Carola Rudnick zeichnet am Beispiel der Haftanstalt Bautzen die spezifische Widersprüchlichkeit der Aufarbeitung des DDR-Unrechtes nach. Sie war getragen von Opfer-initiativen und entsprechend stark geprägt von einem Opferblick, der nicht immer im Einklang mit den historischen Erkenntnissen stand. Damit korrelierte eine starke (tages-) politische Aufladung der Erinnerung, die jedoch in einem nahezu umgekehrten Verhältnis zur faktischen Förderung stand.

Marcel Siepmann kritisiert das Konzept des geplanten Hauses der Europäischen Geschichte wegen seiner Zentrierung auf die Europäische Union und plädiert für eine Weiterung zu den Bruchlinien, die sich mit Nine-Eleven, der Globalisierung und dem Klimawandel eröffnet haben.

Hannes Jaacks kritisiert, dass die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende Intensivierung der Vergangenheitsdiskurse nicht zwingend zu mehr Aufklärung führt, sondern auch verschiedene Abwehrvarianten begünstigt Als eine der markanteren macht er einen sekundären Antisemitismus aus, der dem Wunsch nach Verdrängung der begangenen Verbrechen entspringt. Dieser Haltung setzt er ein annehmendes Erinnern entgegen, das eine ungebrochene Identifikation mit der deutschen Nation verunmöglicht.

Jan Kuhlmann analysiert in seinem Essay die elektronische Gesundheitskarte als eine Technologie, deren Einführung von massiven Interessen beschleunigt und zu einer rationalisierten und ökonomisierten Form der Gesundheitsversorgung führen wird.

Benjamin Immanuel Hoff betrachtet die Spaltung der Partei „Die Linke“ auch als ein Resultat enttäuschter Erwartungen der PDS-Reformer, durch die Fusion mit der westdeutschen Gewerkschaftslinken gemeinsam einen pragmatischen Regierungskurs steuern zu können. Nun stehen sich Ost und West innerhalb der Linken eher unversöhnlich gegenüber.

Ich wünsche Ihnen zu dieser Ausgabe der vorgänge eine anregende Lektüre.

Ihr

Dieter Rulff

Vorschau auf Heft 199 (3/2012): Michael Th. Greven

Michael Th. Greven, der sich jahrzehntelang in der Redaktion der vorgänge engagiert hat, ist Anfang Juli unerwartet gestorben. Seine wissenschaftliche Arbeit und sein politisches Handeln kreisten um die Möglichkeit der Gesellschaft, auf demokratische Weise auf sich selbst einzuwirken. Ihm zum Gedenken wird sich diese Ausgabe der vorgänge seinen Reflexionen widmen.

Ab der Ausgabe 3/2012 werden die vorgänge im Eigenverlag der Humanistischen Union erscheinen. An den Preisen und Lieferbedingungen wird sich dadurch nichts ändern. Bestellungen sind ab dann an die neue Adresse zu richten.

Heftbestellungen an: Humanistische Union Stichwort: vorgänge, Haus der Demokratie, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin

Tel.: 030/20450256, Fax: 030/20450257, E-Mail:

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