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Gefühlte Vergan­gen­heiten

Zum Verhältnis von Geschichte, Erinnerungen und kollektiven Identitätswünschen

aus vorgänge Heft 2/2012, S.16-23

Geht es um die gesellschaftliche Verarbeitung von Kriegen, Massengewalt und Völkermord, ist das Erinnerungsgebot eine ausgesprochen moderne Vorstellung. Bis in die Neuzeit hinein herrschte noch die Auffassung vor, ein wirksamer Friedensvertrag funktioniere nicht ohne Amnestie und Amnesie. Ein solches Vergeben und Vergessen als Form der kollektiven Vergangenheitsbearbeitung ist spätestens seit Auschwitz unvorstellbar geworden. Eindrücklich hat der Historiker Christian Meier diesen Zwiespalt als irritierenden Zwischenruf in seinem Buch „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns: vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit“ aufgegriffen. Während es uns heute vor allem aus moralischen Gründen selbstverständlich scheint, kollektives Erinnern als notwendig und unverzichtbar anzusehen, verweist Meiers historischer Befund auf das genaue Gegenteil: abolitio, also die Tilgung der grauenhaften Geschehnisse aus dem kollektiven Gedächtnis galt jahrhundertelang als der wirksamste Umgang mit verbrecherischen Vergangenheiten, und das vor allem deswegen, weil nur auf diese Weise einer Wiederholung von Gewalttaten entgegen zu wirken sei. Das Motiv der Rache und ihre Einhegung spielten dabei eine zentrale Rolle.

Im Ergebnis lässt Meier die Widersprüchlichkeit seines historischen Befundes unaufgelöst und bezeichnet es als eine schwierige Frage der Güterabwägung, wie man nach Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen und Umstürzen mit der Vergangenheit umgehen sollte. Es sei keineswegs ausgemacht, „dass sich seit der unabweisbaren deutschen Erinnerung an Auschwitz alles anders verhält als früher“ (Meier 2010:97). Auschwitz als erinnerungspolitischer Sonderfall? Was sich wohl zweifellos sagen lässt, ist, dass selbst eine intensive und gesellschaftlich verankerte Erinnerung an Katastrophen und Massengewalt nicht verhindert, dass es gerade mit Rekurs auf diese erfahrene und erinnerte Gewalt zu neuen Konflikte und Übergriffen kommt, und insofern ist Meiers Schlussfolgerung, dass „tätige Erinnerung Wiederholung“ keineswegs ausschließt, sicherlich zutreffend und bedenkenswert.

Geht man indes den von Meier dargelegten Beobachtungen zum Funktionswandel historischen Erinnerns weiter nach, und zwar vor allem hinsichtlich der tradierten und verfügbaren Gedenkformen, erschließt sich ein weiteres Dilemma. Obgleich die Geschichte ja kein Mangel an blutigen Konflikten, Vernichtungskriegen, Genoziden und Massenmorden aufweist, verfügen moderne Gesellschaften nur über ein überschaubares Ensemble an Formen des negativen Gedächtnisses, die nicht vornehmlich die Opfer von Gewalteskalationen erinnern, sondern ebenso die Taten und ihre Täter einbeziehen. Schandmale und Sühnekreuze sind in unserem Traditionsbestand eher randständig, als ausgeprägter erweist sich das Bestreben, militärische oder politische Katastrophen beispielsweise durch Denkmalsetzungen in nationale Siege umzudeuten.

Das Arsenal der vorrätigen Erinnerungssymbole weist daher gegenwärtig ein signifikantes Spektrum auf, gerade weil lange Zeit nicht das nachdrückliche Gedenken, sondern Vergeben und Vergessen als der wirksamste Weg zu befriedeten Verhältnissen angesehen wurde. Wenn jedoch ein solcher Umgang mit verbrecherischer Vergangenheit verwehrt ist, an welche Traditionen kann historisches Erinnern dann anknüpfen? Wie kann eine Nachfolgegesellschaft mit dieser, von Teilen der Gesellschaft ausgeübten Massengewalt umgehen, wie lässt sich eine solche Vergangenheit verarbeiten und als negativer Bezugspunkt der eigenen Geschichte deuten, ohne das spezifische Moment der kollektiven Täterschaft hinter dem – wenn auch aufrichtig gemeinten – Opfergedenken verschwinden zu lassen?

Reinhard Koselleck hat dazu die „Differenz zwischen der Primärerfahrung der wirklich Betroffenen und der hinterher aufzuarbeitenden Sekundärerfahrung der Heutigen“ (Koselleck 2002:26) hervorgehoben, aus der er drei Fragen ableitete: Wer ist zu erinnern? Was ist zu erinnern? Wie ist zu erinnern? Während Koselleck in seinen Überlegungen vor allem die Primärerfahrungen der im Nationalsozialismus Verfolgten im Blick hatte, stellt sich mit Bezug zum Nationalsozialismus mittlerweile ja ohnehin die erinnerungspolitische Herausforderung, dass wir es inzwischen nahezu ausschließlich mit historischen Geschehnissen zu tun haben, die die Mehrheit unserer Gesellschaft nicht selbst erlebt oder erlitten hat. Während individuelles Erinnern an die Vorstellung oder zumindest an das Gefühl gebunden ist, dass sich eine als Ich verstandene Instanz an persönlich erlebte Geschehnisse erinnert, stellt dieser Selbstbezug für kollektive Erinnerungsprozesse einen immanenten Widerspruch dar. Mit dem Westfälischen Frieden, der Französischen Revolution oder der Entdeckung Amerikas verhält es sich derweil nicht wesentlich anders als mit der Reichspogromnacht, der Befreiung des KZ Auschwitz oder dem Atombombenabwurf über Hiroshima – die überwältigende Mehrheit unserer Gesellschaft kann sich an diese Ereignisse schlicht nicht erinnern, und zwar nicht nur, weil sie sich vielleicht zu dieser Zeit an einem ganz anderen Ort aufhielt, sondern vor allem, weil sie zu jung ist.

Im Falle kollektiven Erinnerns ist also nach einem gewissen zeitlichen Abstand gerade das die Ausnahme, was für das individuelle Erinnern als konstitutiv gilt. Diese Differenz, die sich ja nicht gerade als unerheblich abtun lässt, spielt erstaunlicherweise in der gegenwärtigen Erinnerungs- und Gedächtnisdebatte eine eher nebensächliche Rolle. Die Vergegenwärtigung historischen Geschehens wird relativ ungebrochen als identitätsstiftender Selbstvergewisserungsprozess einer Gruppe oder einer Gesellschaft aufgefasst. Dadurch gewinnt eine auf Identifizierungswünschen beruhende Aneignung von Geschichte immer stärker an Gewicht. Um Fremderfahrungen in identitätsrelevante Vergangenheiten transformieren zu können, scheint die Kluft der Erfahrung durch ein inszeniertes „als- ob“ überbrückt zu werden, ohne dass diese Umarbeitung wie bei rituellen Vollzügen reflektiert und bewusst gestaltet wird. Wir tun schlicht so, als wenn es um Geschehnisse geht, die wir selbst erfahren oder erlitten haben, und simulieren einen Selbstbezug, in den wir uns dann emotional hineinsteigern. Vergegenwärtigungen im Sinne solcher Selbstfindungssehnsüchte produzieren allerdings nicht nur so komplizierte Gefühlslagen wie die der nachholenden oder ererbten Trauer, sie tendieren auch dazu, die interessengeleitete Inanspruchnahme von Vergangenheiten zu verschleiern.

Das Problem der Tradierung der als beispiellos kategorisierten Verbrechen im Nationalsozialismus umfasst somit mehrere Ebenen: Zum einen die generelle Kluft der Erfahrung, die im gewissen Sinne ja bereits unmittelbar nach den Bezugsereignissen zwischen Primärzeugen und allen anderen Zeitzeugen existierte und emotional wie intellektuell nie auflösbar ist, zum anderen aber auch die generationelle Tradierung, durch die mit zunehmendem zeitlichem Abstand das historische Ereignis als mehr oder weniger vielstimmige Überlieferung zugänglich ist. Dieser Wandel, der erinnerungstheoretisch häufig und etwas missverständlich als Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis (Assmann 1997) bezeichnet wird, bezieht sich im Grunde genommen nicht allein und vielleicht nicht einmal primär auf den Umstand veränderter kommunikativer Bezüge, sondern vor allem auf die Tatsache einer – man möchte fast sagen – gesteigerten generationellen, emotionalen und kulturellen Tradierungsdynamik.

Wie eignen sich Nachfolgegesellschaften Vergangenheiten an, die sich nicht positiv in ihr Selbstbild integrieren lassen, die jedoch aus moralischen Gründen in Erinnerung bleiben sollen? Wie sind Dynamiken kollektiven Erinnerns zu konzeptionalisieren, wenn sich nicht nur der biographische und der familiäre Rahmen, sondern sich das kulturelle und gesellschaftliche Bedingungsgefüge insgesamt grundlegend wandelt? Während für die ersten Nachkriegsjahre noch von einer durchaus komplexen und differenzierten Erinnerungskonfiguration ausgegangen werden kann, etablierte sich in Westdeutschland zunächst eine Erinnerungskultur, die sich vor allem dem Schicksal der eigenen Gemeinschaftsangehörigen zuwandte und gerade durch diese Selbstreferentialität die spezifisch deutsche Schuld an den nationalsozialistischen Massenverbrechen ausblendete. Die Anerkennung von deutschen Flüchtlingen, Vertriebenen, Kriegsheimkehrern und Ausgebombten als entschädigungswürdige Kriegsopfer stand dabei im Zentrum eines Vergangenheitsdiskurses, der den erinnerungspolitischen Paradigmenwechsel vom Held zum Opfer bereits vollzogen hatte (Sabrow 2012). Im Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft – mit dieser oder einer ähnlichen Erinnerungsformel wäre die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft gern in der allmählichen Behaglichkeit des Wirtschaftswunders zur Ruhe gekommen.

Das darin eingelassene Verleugnungspotential rief jedoch Ende der 1960er Jahre den vehementen Widerspruch der unmittelbar Nachgeborenen hervor. Norbert Elias beschrieb die damalige politische Situation in West-Deutschland als eine Spirale der Selbstzerstörung (Elias 1990). Die gesellschaftliche Spaltung führte er auf eine ausgebliebene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit zurück, durch die die Bundesrepublik in eine tiefe und zudem generationell strukturierte Identitätskrise geraten sei. Während ein erheblicher Teil derjenigen, die den Nationalsozialismus noch selbst erlebt hatten, so täte, als wenn nichts geschehen sei, hätten sich vor allem nach-wachsende Jahrgänge vom politischen System der Bundesrepublik abgewandt und im Marxismus das Gegenmodell zum vermeintlich autoritären Staat gesucht. Elias markierte damit den gesellschaftlichen Wandel in den 1960er und 1970er Jahren als einen Umbruchs- und Transformationsprozess, den er eng an die generationelle Auseinandersetzung und Weitergabe der nationalsozialistischen Vergangenheit gebunden sah. Dieser gesellschaftliche Konflikt brachte nachhaltige und für die damalige generationelle Konfliktlage signifikante Muster der Vergangenheitsdeutung und Aufarbeitung hervor, die insbesondere von dem Wunsch geleitet war, die verübten Verbrechen aufzuklären und sich mit den Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu identifizieren. Diese nachholende Hinwendung zu den Opfern, die Anerkennung und das Nachempfinden ihrer Leiden waren ein unabdingbarer Schritt in der vielzitierten Vergangenheitsaufarbeitung. Eine solche Emotionalisierung war und ist notwendig, um überhaupt das Geschehene als Verbrechen, um die Beteiligten als für diese Taten verantwortlich auszumachen. Allerdings hat sich dieses Mitfühlen und Mitleiden in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einem Identifizierungswunsch mit den Opfern entwickelt, und nicht nur individuell, auch gesellschaftlich ist daraus eine Art geliehene Identität erwachsen – ein Identitätswunsch, der sich generell Opfern von Krieg, Ausbeutung und Unrecht nahe fühlt, während die Täter und ihre Taten anonymisiert und pauschal verurteilt werden. Es lässt sich bis in die 1990er Jahre hinein und darüber hinaus eine generationell aufgeladene Erinnerungsgemeinschaft beobachten, die auf das Selbstbild des Gefühlten Opfers rekurriert. Das Reden als Generation erwies sich dabei als überaus starke Differenzkategorie, weil dadurch nicht nur der moralische Bruch zur Elterngeneration vollzogen werden konnte, sondern damit mittlerweile auch die Hoffnung verbunden wird, diese generationenspezifische Deutung des Holocaust an die eigenen Nachkommen tradieren zu können.

Die Erinnerungsfigur des Gefühlten Opfers erweckt manchmal den (falschen) Eindruck, sie konstatiere eine Ausblendung oder zumindest eine marginale Beschäftigung mit den Tätern der Vernichtungspolitik. Dieses Missverständnis gilt es zu korrigieren: Opferidentifiziertes Erinnern ist keineswegs in diesem Sinne eindimensional, sondern produziert vielmehr eine spezifische Sicht auf Täterschaften – eine Sicht, die zur Generalisierung tendiert, die dazu neigt, mentale Täterkollektive zu konstruieren und die NS-Täter häufig als sadistische, triebgesteuerte oder sonst wie pathologisch auffällige Überzeugungstäter dämonisiert. Ihre Exklusion zementiert das eigene Selbstverständnis als nachgeborene Deutsche, die sich durch die Identifizierungswünsche mit den Opfern von der ererbten Geschichte lossagen – und dadurch einen wesentlichen Kern ihres Vergangenheitsbezuges ausblenden. Martin Walser hat 1965 in einem immer noch lesenswerten Text mit Blick auf den Auschwitz-Prozess geschrieben: „Natürlich verabscheuen wir die Täter. Das gehört ja mit zu unserer intimen Auseinandersetzung. Wir empfinden dadurch den Unterschied. Und wir nehmen Anteil am Opfer. (…) Erst durch den hilflosen Versuch, uns auf die Seite des Opfers zu stellen oder uns, so gut es gehen will, wenigstens vorzustellen, wie schrecklich da gelitten wurde, erst durch diese Anteilnahme wird uns der Täter so verabscheuungswürdig und brutal, wie wir ihn für unsere realitätsarme, aber momentan heftige Empfindung brauchen.“ (Walser 1965) Mehr als vierzig Jahre später hat sich daraus ein gesellschaftlich dominantes Muster der Vergangenheitsaufarbeitung professionalisiert. Doch statt diesen Mechanismus als „Dauerrepräsentanz unserer Schande“ (Walser 1998) nach außen zu projizieren, wie Walser es dann 1998 getan hat, zielt die Erinnerungsfigur des Gefühlten Opfers darauf, die vermutlich notwendige, aber letztlich entlastende Funktion des opferidentifizierten Erinnerns zu historisieren und ihre Verleugnungsanteile sichtbar zu machen.

Der hier allenfalls kursorische Rückblick auf sechzig Jahre Holocaustgedenken verweist auf eine spezifische Konfiguration, die seit den 1960er Jahren vor allem durch ein generationell verankertes und anschließend in breite Gesellschaftsschichten diffundierendes Erinnerungsmuster geprägt war, das mit der Figur des Gefühlten Opfers sicherlich nur unzureichend und verkürzt auf den Begriff gebracht ist. Während die Verklammerung der unmittelbar Kriegs- und Nachkriegsgeborenen mit dem Nationalsozialismus und vor allem mit dem Holocaust noch durch eine Eltern-Kind-Konstellation mit spezifischen Schuld- und Schamanteilen konturiert war, scheinen sich solche identifikatorischen Vergangenheitsbezüge in den letzten Jahren nach und nach zu verflüchtigen. Die Erinnerung an den Holocaust entwächst gleichsam einer lange Zeit symptomatischen Generationenlagerung und damit auch den dafür spezifischen Formen identitärer Geschichtsaneignung. Hierbei bleibt allerdings zu bedenken, dass es sich bei Generationen um keine substantialistischen Entitäten handelt, sondern um kommunikativ ausgehandelte (massenmedial hergestellte) und emotional geglaubte Erfahrungs-, Aneignungs- und Erinnerungsgemeinschaften, deren Entstehung nicht als Gruppenbildungsprozess im soziologischen Sinne, sondern als ein an codierten Objekten ausgerichteter ldentifikationsprozess zu verstehen ist.

Der Zusammenhang von Generation und Erinnerung ist dann folglich ein zweifacher: zum einen die retrospektive und damit die stets bereits auf Erfahrungsverarbeitung beruhende Verständigung von etwa Gleichaltrigen über geglaubte Gemeinsamkeiten mit Vergangenheitsbezug, zum anderen massenmedial kommunizierte und generationell markierte Deutungsangebote zu historischen Ereignissen, die individuell zwar als identitätsrelevant angesehen werden, die aber in der Regel allenfalls eine diffuse Verbundenheit hervorrufen und nur selten stabile Gruppenidentitäten erzeugen. Möglicherweise erscheint uns das identitätsstiftende Moment von kollektiven Erinnerungsprozessen aufgrund der starken Präsenz des Holocaust-Gedenkens in unserer Kultur selbstverständlicher als es eigentlich ist, generationentheoretisch könnte es sich hierbei auch um eine Ausnahme handeln. Die Ungeheuerlichkeit der verübten Verbrechen erzeugte einen generationellen Bruch gegenüber den Elternkohorten, und diese radikale, generationell gelagerte Unterbrechung besitzt zweifellos eine außergewöhnliche und nachhaltige Identitätsrelevanz.

Inwiefern allerdings eine solche emotional, generationell und historisch sehr spezifische Konstellation Rückschlüsse zulässt auf den generellen Zusammenhang von Erinnerung und Generation, ist sicherlich noch nicht hinreichend diskutiert. Was sich allerdings sagen lässt, ist, dass die generationellen Veränderungsdynamiken, die sich gegenwärtig abzeichnen und beobachten lassen, nicht in die im Erinnerungsdiskurs immer noch übliche Rubrik des allseits drohenden Vergessens gehören. Historisierung ist kein besonders heimtückischer Fall kollektiver Vergesslichkeit, sondern ein notwendiger und unausweichlicher Prozess der Vergangenheitsaneignung. Ohnehin lassen sich solche komplexen Verarbeitungs- und Umdeutungsvorgänge wissenschaftlich kaum noch gewinnbringend mit einem alltagssprachlichen Verständnis von Erinnern und Vergessen analysieren. Eine solche binäre Codierung hat im wissenschaftlichen Diskurs eher zu Missverständnissen als zu Erkenntnissen geführt.

Als weitaus gewinnbringender erweist sich der vor allem von dem Soziologen Maurice Halbwachs reflektierte Wandel des Vergangenheitsbezuges durch variierende Sozialbeziehungen. Individuelle wie kollektive Gedächtnisse sind demnach sozial konstituiert, weil sie verwoben sind in verschiedene Gruppen und Milieus, denen jeder angehört. Nach Halbwachs gibt es kein Gedächtnis „außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden“ (Halbwachs 1925:121). Wechselt dieser Rahmen oder verlassen wir eine bestimmte soziale Gruppe, gehen die relevanten Bezüge verloren und die Vergangenheitsbilder verblassen. Dinge und Ereignisse, die schon mal wichtig waren, treten in den Hintergrund. Verändert sich eine Gruppe, verändern sich ihre Lebensbedingungen, dann entledigt sie sich bestimmter Geschichten oder fügt neue hinzu, die der neuen sozialen Rahmung besser entsprechen. Solche Umarbeitungen verweisen auf den starken Gegenwartsbezug gemeinschaftlicher Vergegenwärtigungen, und sie verdeutlichen, dass wir Vergangenheit weniger rekonstruieren; sondern uns eher ein Bild von ihr machen. Erinnerung in diesem Sinne ist „in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im Übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist“ (Halbwachs 1925:55).

Halbwachs‘ Theorieangebot lässt sich besonders eindrucksvoll anhand seiner 1941 verfassten Studie zu den Stätten der Verkündigung im Heiligen Land nachvollziehen. Anhand von Quellen wie Pilger- und Reiseberichten sowie biblischen Überlieferungen sucht Halbwachs in Jerusalem, Bethlehem und Nazareth nach „geformten Erinnerungen“, die er weder nach ihrer historischen Ursprünglichkeit noch nach ihrer Wirklichkeitsübereinstimmung befragt, sondern als jeweils zeitgenössische Formen kollektiven Erinnerns betrachtet. Bei diesem Prozess der fortgesetzten Überschreibungen wird „das Wissen darum, was ursprünglich war, mindestens zweitrangig, wenn nicht ganz und gar überflüssig: die Wirklichkeit der Vergangenheit, eine unveränderliche Vorlage, der man zu entsprechen hätte, gibt es nicht mehr“ (Halbwachs 1914:21). Mit einer solchen Lesart von Erinnerungsfiguren ließe sich veranschaulichen, dass es sich bei kollektiven Erinnerungsprozessen um kommunikativ ausgehandelte Kompositionen handelt, die stets auf anderen, ihnen vorausgehenden Entwürfen beruhen oder auf sie verweisen. Eine solche Kontextualisierung kann nicht nur davor schützen, das jeweils eigene oder gerade aktuelle Deutungsangebot als das einzig gültige und legitime auszugeben, sie vermag auch zu zeigen, wie sich anbahnende Wandlungs- und Transformationsphasen vor dem Hintergrund eines historischen Spannungsbogens interpretieren lassen. Und da wir uns gegenwärtig ja zweifellos in einem solchen Umbruch befinden, wäre mit Halbwachs nach den zentralen Bedingungsfaktoren zu fragen, die sich zurzeit verändern.

Und diese Einschnitte sind gegenwärtig in der Tat gravierend: Nicht nur die vom Nationalsozialismus, Holocaust und Krieg erzählenden Primär- und Zeitzeugen sind bereits mehrheitlich verstorben, auch die zweite Generation der Kriegs- und Nachkrieggeborenen scheidet allmählich aus den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Funktionen aus beziehungsweise arbeitet derzeit an der Tradierung ihrer Geschichts- und Erinnerungsbilder. Sie sieht sich dabei nachwachsenden Jahrgängen gegenüber, die sich ganz offensichtlich nicht in gleicher Weise mit Nationalsozialismus und Holocaust verbunden sehen und daher als moralisch indifferent wahrgenommen werden – für manche Beteiligte eine hochgradig irritierende und offenbar auch beunruhigende Erfahrung. Dieser generationelle Umbruch fällt darüber hinaus noch mit einem kulturellen Wandlungsprozess zusammen, der mit den Schlagworten Globalisierung, Kulturtransfer und Migration erst allmählich Einzug hält in die gedächtnistheoretischen Theorie- und Konzeptanstrengungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes, und der in der bildungs- und erinnerungspolitischen Praxis weiterhin eher konflikthaft als bereichernd erlebt wird. Postsouveräne Gesellschaften konstituieren sich nicht mehr als homogene Erinnerungsgemeinschaften mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamer Geschichte. Sie stehen vor der Herausforderung, angesichts enormer Komplexitäts- und Pluralitätssteigerungen nach neuen Integrations- und Gemeinschaftsformen zu suchen, die bei maximaler Freiheitsgarantie noch so viel Bindung, wie sie für ein funktionierendes Gemeinwesen nötig ist, erzeugen. Deutschland ist, wie die meisten westeuropäischen Staaten, ein Einwanderungsland, das eine nicht mehr nach Nationen und Ethnien zu differenzierende Bevölkerung umfasst. Dementsprechend vollzieht sich historisches Erinnern immer weniger im Rekurs auf national oder ethnisch verfasste Geschichtsentwürfe, da ein stetig wachsender Teil der Bevölkerungen über andere familiäre Hintergründe verfügt und somit mit Vergangenheiten konfrontiert wird, „die außerhalb ihres ethnischen Herkunftsglaubens liegen“ (Leggewie 2008:33). Derzeit lässt sich sicherlich noch nicht abschätzen, welche Erinnerungsfiguren, welche neuen Begriffe, Formen und Muster des Holocaust-Gedenkens aus dieser Umbruchsphase erwachsen werden. Absehbar ist hingegen schon jetzt, dass sich trotz hartnäckigen Bemühens ein solcher Historisierungsschub weder normativ aufhalten noch regulieren lassen wird.

Literatur

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