Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 223: Sport und Politik

Editorial

in: vorgänge Nr. 223 (3/2018), S. 1-4

Sport kann Millionen Menschen begeistern, egal ob beim Fußball, bei der Leichtathletik, beim Reiten, Eiskunstlauf oder Schach. Mit dem Deutschen Fußballbund (DFB) hat Deutschland den weltweit größten Mitgliederverband – circa 7 Millionen mehr oder minder Aktive. Die Begeisterung für den Sport kann dazu beitragen, dass Menschen alles Trennende überwinden und gemeinsam für den Sieg ihrer Mannschaft fiebern. Insofern ist Sport wie der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, heißt es.

Auf der anderen Seite gibt es längst keinen unpolitischen Sport mehr. Die Politik kommt bereits dort ins Spiel, wo die Kleinen im Heimatverein kicken, wo das Geld für den Breitensport knapp wird und das marode Dach der Turnhalle nicht repariert werden kann, wo es auf die vielen ehrenamtlichen Trainer*innen und Helfer*innen ankommt, ohne die die große Masse der Sportvereine nicht existieren könnte. Wie schnell Sport politisiert wird, haben kürzlich Mesut Özil und Ilkay Gündogan erfahren, als sie im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft ein Foto mit dem türkischen Präsidenten veröffentlichten. Spätestens als die beiden wegen ihrer Fotos für das Scheitern der deutschen Mannschaft in der Vorrunde verantwortlich gemacht wurden, war das Thema Rassismus im Fußball wieder voll da – auch dank der dilettantischen Reaktionen des DFBs und seiner Sprecher.

Nicht der Sport ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, sondern das Geld hält und treibt den Sport an. Selbst wer alles ausblendet, was mit Gigantismus, Marketing und Geschäft bei Olympiaden und Fußballweltmeisterschaften zu tun hat, sieht sich mit einer ökonomischen Realität des Sports konfrontiert, die von der Korruption bei der Vergabe von Spielen und dem Betrug der Athleten untereinander bis zum medialen Betrug an den Zuschauern reicht. Zu dieser Realität gehört auch: 250.000 $ plus Spesen für drei Sitzungen im Jahr für jedes der 37 „ehrenamtlichen“ Mitglieder des FIFA-Councils, in dem auch DFB-Chef Reinhard Grindel sitzt; weitere 100.000 $ pro Jahr für den DFB-Chef als Vorstandsmitglied in der europäischen UEFA. Das sind nur zwei der vielen Auswüchse der Geldmaschine Fußball (SZ v. 11.1.2018). Mittlerweile gilt es als normal, dass die Sender Milliarden für die TV-Übertragungsrechte zahlen müssen – und die öffentlich-rechtlichen Sender beim Kampf um die Übertragungsrechte kaum mit den Privaten mithalten können. Und in absehbarer Zukunft wird es noch viel teurer, wenn Internet-Giganten wie Amazon, Youtube oder Facebook das Streaming-Geschäft bei Sportübertragungen für sich entdecken. Sie verfügen dank ihrer globalen Reichweite über ganz andere Budgets als traditionelle Fernsehsender.

Mittlerweile regt sich Widerstand gegen dieses durchkommerzialisierte Sportsystem: Der Fédération Internationale de Football Association (FIFA) gehen zahlungskräftige Sponsoren verloren, die das autoritär-manipulative Gehabe eines Gianni Infantino nicht mittragen wollen; immer wieder melden sich Athleten zu Wort, die über gnadenlose Medaillen-Vorgaben und die Verwicklung von Trainern, Verbänden und Politik in den Dopingbetrug (in Ost und West) anprangern; in Hamburg, Innsbruck und anderen Städten wehrt sich eine kritische Öffentlichkeit dagegen, ihre Stadt zum Austragungsort für olympische Spiele zu machen, denn der ökonomische Irrsinn dieser Events (etwa millionenschwere Stadienbauten, die so gut wie keine Nachnutzung erlauben) wird immer offensichtlicher. Die anhaltende Kritik an der geplanten Fußball-WM in Katar (2022) zeigt ein gestiegenes Bewusstsein für die menschenrechtlichen Probleme im Umfeld sportlicher Megaevents, sei es die fragwürdige Vergabepraxis, die klimapolitische Unvernunft der Entscheidung oder die sklavenähnliche Ausbeutung der Arbeiter auf den Stadion-Baustellen.

Doch nicht nur auf internationaler Ebene, sondern auch intern, von unten, geraten die Sportverbände stärker unter Druck: Ihre Mitglieder machen zunehmend Ansprüche an die finanzielle wie materielle Ausstattung, an Transparenz und Mitsprache geltend, wo bisher die Verbandsbürokratie nahezu ungehindert walten und staatliche Regulierung nicht eingreifen konnten. Insofern erweist sich der Sport – bei allen Problemen – auch heute noch als höchst integrative Veranstaltung, die eine fragmentierte Gesellschaft zwar nicht kitten, aber dennoch viel zu einer lebendigen demokratischen Kultur beitragen kann. Mit diesen Fragen befasst sich die aktuelle Ausgabe der vorgänge in ihrem Schwerpunkt „Sport und Politik“.

Den Schwerpunkt eröffnet ein Beitrag von Sebastian Braun zur Lage des ehrenamtlichen Engagements im Sportverein. Nach Jahrzehnten des stetigen Wachstums (auf mittlerweile rund 27.5 Millionen Mitglieder in rund 91.000 Sportvereinen des Deutschen Olympischen Sportbundes, DOSB) diagnostiziert er derzeit eine Stagnation. Sie wirft die Frage nach der Zukunft des klassisch organisierten Breitensports auf. Während die Vereine bisher vom Engagement ihrer Mitglieder (und deren Umfeld) zehren, deuten sich neue, flexiblere Formen des sportlichen Miteinanders an, zu denen sich Gleichgesinnte (online) organisieren. Das in der Forschung vielfach zitierte „neue Ehrenamt“ ist auch im Sport angekommen. Die längerfristige Mitgliedschaft in einem Verein verliert an Bedeutung, das Interesse ist heute mehr auf konkrete sportliche Angebote ausgerichtet. Die traditionelle Rolle der (Sport-)Vereine als „Schulen der Demokratie“ und damit eine wichtige politische Funktion des Sports gerät dadurch in den Hintergrund.

Mit einer anderen Entwicklungsdynamik des Sports befasst sich Christopher Stark: der Ökonomisierung des Sports. Er beschreibt am Beispiel des deutschen Fußballs und speziell von Vertretern des DFBs, wie tief die unternehmerische Logik bereits in das Denken und Handeln von Sportlern, Trainern und Funktionären eingedrungen ist. Da werden Mannschaften als Marke etabliert, die ein bestimmtes Image pflegen und sich am Markt behaupten müssen – jenseits ihrer sportlichen Leistungen und Erfolge. Stark kritisiert diese Kommerzialisierung des Fußballs, da sie neben der gesamten Verwertungslogik auch die Integrationsfunktion des Sports konterkariere, denn mit den hohen Gehältern für Spitzensportler und den irrwitzigen Summen für Übertragungsrechte vertiefe dieser Sport die soziale Spaltung der Gesellschaft.

Die FIFA steht mittlerweile als Sinnbild für die Kommerzialisierung des Sports: undurchsichtige Geldtransfers rund um die Vergabe von Weltmeisterschaften zählen zum Alltag der Organisation. Obwohl der Ermittlungsdruck durch schweizerische wie us-amerikanische Staatsanwälte gegen die FIFA ständig zunimmt, obwohl organisationsinterne Reformen eingeleitet und eine Ethikkommission installiert wurden, sieht Mark Pieth den Versuch einer Selbstregulierung des Sportverbandes als gescheitert. Unter dem derzeitigen Präsidenten wurden zentrale Entscheidungen zur Transparenz und Selbstkontrolle wieder zurück genommen. Die zweite Lehre Pieths aus dem FIFA-Debakel lautet indes: auch der Versuch einer staatlichen Kontrolle und Regulierung der FIFA ist an den politischen Rahmenbedingungen in der Schweiz gescheitert.

Mit den Machtkartellen im Sport und den Möglichkeiten ihrer Kontrolle befasst sich auch der Beitrag von Sylvia Schenk. Die frühere Leichtathletin ist seit 2006 bei Transparency International aktiv. Sie gehört dem Menschenrechtsbeirat der FIFA an und kann die Reformbemühungen des Verbandes (und die Widerstände dagegen) deshalb aus der Nähe beurteilen. Schenk warnt davor, die Transparenz und Compliance von Verbänden wie der FIFA durch politische Einflussnahme erreichen zu wollen – denn nach ihrer Einschätzung ist die Politik selbst (die auf vielen Ebenen der Verbandshierarchie mitmischt) ein nicht unerheblicher Teil der Korruptions- und Menschenrechtsprobleme in den Organisationen des globalen Sports.

Die nächsten drei Beiträge befassen sich mit einem Problem, das den Leistungssport schon lange begleitet: Doping. Michael Krüger versucht, die Logik der Leistungssteigerung mit chemischen Hilfsmitteln verständlich zu machen. Dazu geht er auf die Geschichte des Dopings sowie die Versuche, es zu unterbinden und zu kontrollieren, ein. Er zeigt, wie Praktiken der Leistungssteigerung, die in Armeen und anderen Lebensbereichen eingesetzt wurden, Eingang in den Leistungssport fanden – und dort plötzlich auf Vorbehalte stießen wegen ihrer gesundheitsschädlichen Folgen und der wettbewerbsverzerrenden Wirkungen. Gesundheits- und moralethische Erwägungen begründeten nach dem 2. Weltkrieg jene Anti-Doping-Politik, ohne die Doping kaum zum Problem würde. Krüger vertritt die These, dass moderner Leistungssport ohne Doping kaum denkbar sei – aber ebenso das Doping ohne entsprechende Anti-Doping-Bemühungen kaum existieren würde.

Welche Folgen exzessives Doping für die Sportler haben kann und welche Ausmaße das Doping in der DDR erreichte, schildert die frühere Leichtathletin Ines Geipel. Sie engagiert sich im Verein Doping-Opfer-Hilfe, der ehemalige Leistungssportler*innen der DDR bei ihrer Rehabilitation und der Aufarbeitung des Staatsdopings unterstützt.
Mit den strafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten gegen das Doping befasst sich der Beitrag von Martin Heger. Er geht insbesondere der Frage nach, welche Rolle das Strafrecht neben den ohnehin existierenden Verbandsstrafen haben kann, da die dort üblichen Sperren (zwei Jahre bzw. lebenslang im Wiederholungsfall) eine für Berufssportler*innen viel abschreckendere Wirkung haben dürften als eine Bewährungsstrafe. Den Hauptzweck der 2015 in Deutschland eingeführten Strafbarkeit des Selbstdopings (§§ 3, 4 AntiDopG) sieht Heger denn auch darin, dem Sanktionsrecht der Verbände „auf die Sprünge zu helfen“; trotz zahlreicher Sanktionsmöglichkeiten und etablierter Anti-Doping-Agenturen würden Dopingverstößen intern immer noch sehr zögerlich verfolgt. Heger setzt sich kritisch mit den (Schutz-)Zielen, den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen des Selbstdopings sowie der Verhältnismäßigkeit der Vorschriften des Anti-Doping-Gesetzes auseinander.

Eike Emrich, Freya Gassmann, Tim Meyer und Christian Pierdzioch widmen sich den ökonomischen Aspekten des Spitzensports: Nicht nur, wenn es um neue Olympiabauten geht, sieht sich der Leistungssport mit der Frage konfrontiert, ob der finanzielle Aufwand dafür wirklich gerechtfertigt ist. Emrich & Co. werten zur Beantwortung dieser Frage zwei Umfragen aus, in denen die Zahlungsbereitschaft für deutsche Olympiamedaillen erfragt wurde. Ihre Auswertung zeigt eine relativ geringe Zahlungsbereitschaft für eine bessere Platzierung einzelner Athlet*innen bzw. der deutschen Mannschaft. Dennoch lassen sich aus ihrer Untersuchung, so die Autor*innen, einige Anhaltspunkte für eine bessere staatliche Sportförderung ableiten.

Sexuelle Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche im Sport sind Thema des Beitrags von Jeannine Ohlert und Bettina Rulofs. Seit 2010 verpflichten sich alle Mitgliedsorganisationen des DOSB, gegen sexualisierte Gewalt in ihren Reihen konsequent vorzugehen und entsprechende Präventionsarbeit zu leisten. Dieser Beschlusses werde in vielen Vereinen und Verbänden jedoch mangelhaft umgesetzt, wie die beiden Autorinnen ausführen. Sie beschreiben ein Modell zum Ablauf sexualisierter Gewaltübergriffe („Grooming“) und stellen die wichtigsten Ergebnisse der Studie »Safe Sport« vor, mit der zwischen 2015 und 2017 erstmals differenzierte Zahlen zu sexualisierter Gewalt im deutschen Leistungssport erhoben wurden. Dabei gaben mehr als ein Drittel der rund 1.500 Befragten an, dass sie einmal oder häufiger sexualisierte Gewalt im Sport erlebt hatten. Aus den Resultaten dieser Untersuchung leiten Ohlert und Rulofs Möglichkeiten zur besseren Präventionsarbeit ab.

Die Verherrlichung und Professionalisierung von Gewalt unter Sportfans beschreibt Robert Claus. Er führt uns in die Szene der Hooligans ein, die sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat. Während es früher um (gelegentliche) Straßenrandale am Rande von Fußballspielen ging, habe sich daraus mittlerweile eine Kampfsportszene gebildet, in der organisierte Einzel- und Gruppenkämpfe zelebriert werden. Claus schildert die Anziehungskraft dieser Szene, ihre internationale Vernetzung und die zunehmende Nähe zu rechtsextremen Gruppierungen.

Mit dem rechten Erbe des Sports befasst sich zum Abschluss unseres Schwerpunkts auch Hans Joachim Teichler. Er geht auf die Rolle des Sports in der NS-Diktatur ein und schildert, wie schwer es den Sportverbänden in der Nachkriegsära fiel, sich mit ihrem nationalsozialistischen Erbe auseinander zu setzen. Anschließend skizziert Teichler die verschiedenen Phasen der Erinnerungspolitik in den deutschen Sportverbänden.

Wir hoffen, dass Ihnen diese Ausgabe der vorgänge interessante Einsichten in die politischen Aspekte des Sports bietet, ohne Ihnen den Spaß an der Sache zu verderben, und wünschen Ihnen in diesem Sinne eine anregende Lektüre,

Werner Koep-Kerstin und Sven Lüders

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