Beitragsbild Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Sport
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Sexua­li­sierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Sport

in: vorgänge Nr. 223 (3/2018), S. 93-104

In der sogenannten „Münchener Erklärung“ verpflichten sich die Mitgliedsorganisationen des Deutschen Olympischen Sportbundes, Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt im Sport zu ergreifen. Allerdings befindet sich die Diskussion um dieses Thema noch in vielen Vereinen und Verbänden im Anfangsstadium. Nach Begriffsklärungen zur sexualisierten Gewalt beschreiben Jeannine Ohlert und Bettina Rulofs spezifische Risikofaktoren im Sport. Sie stellen ein theoretisches Modell zum (zeitlichen) Ablauf eines Ereignisses schwerer sexualisierter Gewalt im Sport vor, den sogenannten „Grooming“-Prozess. Erst zwischen 2015 und 2017 wurden im Rahmen der Studie »Safe Sport« differenzierte Zahlen zu sexualisierter Gewalt im organisierten Sport in Deutschland erhoben. Die Ergebnisse zeigen u.a., dass insgesamt mehr als ein Drittel der 1529 Befragten einmal oder häufiger eine Situation sexualisierter Gewalt im Sport erlebt hatten; bei 11% war es sogar schwere sexualisierte Gewalt. Zwei Drittel aller Betroffenen waren bei der ersten Gewalterfahrung noch nicht erwachsen. Frauen und Mädchen sind deutlich häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen; ebenfalls Sportler_innen mit homosexueller oder bisexueller Orientierung im Vergleich zu heterosexuellen Athlet_innen. Der Beschreibung der Folgen von Gewalt und der Möglichkeiten der Prävention sexualisierter Gewalt folgt der Hinweis, dass ähnliche Studien, wie sie zum Wettkampf- und Leistungssport vorliegen, auch für das Breitensportniveau gebraucht werden.

Durch die #MeToo-Kampagne gegen sexualisierte Gewalt bei gleichzeitigem Auftreten von Verdachtsfällen im Sport in verschiedenen Ländern (z.B. Fußball in England, Turnen in den USA, Alpiner Skilauf in Österreich, Fechten in Deutschland) ist das Thema sexuelle Übergriffe im Sport in jüngster Zeit vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Angestoßen wurde die Debatte im Sport jedoch bereits im Jahr 2010 durch die Berichterstattung über die Vorfälle sexualisierter Gewalt in Internatsschulen und kirchlichen Einrichtungen und den in der Folge eingesetzten Runden Tisch gegen sexuellen Kindesmissbrauch auf Ebene der Bundesregierung. Im Fahrwasser der gesamtgesellschaftlichen und politischen Diskussion verabschiedete die Mitgliederversammlung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) bereits 2010 die so genannte „Münchener Erklärung“, in der sich alle Mitgliedsorganisationen des DOSB (z.B. Landessportbünde, Spitzenverbände und Verbände mit besonderen Aufgaben) dazu verpflichteten, Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt im Sport zu ergreifen. Dennoch befindet sich die Diskussion um das Thema sexualisierte Gewalt im Sport noch in vielen Vereinen und Verbänden im Anfangsstadium, wie die Daten der jüngst durchgeführten Studien im Forschungsprojekt »Safe Sport« zeigen. Im Folgenden soll ein Überblick gegeben werden über die vorliegenden Fakten und aktuellen Entwicklungen zum Thema sexualisierte Gewalt in den Sportorganisationen in Deutschland.

Begriffsklärung

Bei der Beschäftigung mit dem Thema sexuelle Übergriffe ist es notwendig, vorab zu klären, was genau unter einem „Übergriff“ und auch unter dem Begriff „sexuell“ zu verstehen ist. Da weder in Deutschland noch international die Verwendung einheitlich ist, gibt es große Schwierigkeiten, wenn die Zahlen verschiedener wissenschaftlicher Studien verglichen werden sollen. Im Bereich des Sports verwenden aktuellere Studien vermehrt den Begriff der „sexualisierten Gewalt“ (engl. sexual violence), um eine Vereinheitlichung zu fördern. Daher wird dieser Begriff auch in diesem Beitrag genutzt. Sexualisierte Gewalt wird hier verstanden als jede Art sexualisierter Handlung, die darauf ausgerichtet ist, Menschen in ihrer Integrität und Würde zu verletzen. Darunter fallen unterschiedliche Formen der Machtausübung mit dem Mittel der Sexualität, also Handlungen mit Körperkontakt, ohne Körperkontakt und auch grenzverletzendes Verhalten. Um dennoch verschiedene Formen sexualisierter Gewalt voneinander trennen zu können, schlägt Brackenridge (2001) vor, sexualisierte Gewalt speziell im Sport als ein Kontinuum zu beschreiben. Dieses reicht von sexueller Belästigung über eine „graue Zone“ bis hin zu sexuellem Missbrauch. Vertommen und Kolleg_innen erstellten auf Basis dieses Kontinuums schließlich drei Kategorien sexualisierter Gewalt, die nicht nur die Art der Situation, sondern zusätzlich die Häufigkeit der Erfahrung durch die betroffene Person einbeziehen (Vertommen et al., 2016). Auf diese Weise wird eine Situation sexueller Belästigung (wie z.B. sexuell anzügliche Bemerkungen), die bei einmaligem Vorkommen als leichte Form eingestuft wird, als moderate oder sogar schwere Form sexualisierter Gewalt gesehen, wenn eine Person sie häufiger oder sogar dauerhaft erdulden muss. Unter leichte sexualisierte Gewalt fallen demnach Ereignisse wie anzügliche Blicke, sexistische Witze oder auch Nachrichten in sozialen Medien mit sexuellem Inhalt, wenn diese einmalig (nicht öfter) stattfinden. Unter moderater sexualisierter Gewalt werden die gleichen Ereignisse eingestuft, wenn sie zwei bis viermal stattgefunden haben. Zusätzlich zählt zu dieser Kategorie grenzverletzendes Verhalten wie Massagen, Berührungen oder das Eindringen in die Intimsphäre, wenn diese Ereignisse von den Betroffenen als unangenehm empfunden werden und einmalig passieren. Finden die bisher genannten Ereignisse jedoch häufiger oder sogar regelmäßig statt, so zählen sie zu schwerer sexualisierter Gewalt. Weiterhin fallen in diese letztgenannte Kategorie auch die in der Regel unter sexuellem Missbrauch subsumierten Verhaltensweisen wie erzwungene Küsse sowie versuchter oder erfolgter Sex gegen den eigenen Willen. Insgesamt ist bei dieser Abstufung zu berücksichtigen, dass auch sogenannte leichte Formen der sexualisierten Gewalt die Betroffenen subjektiv stark belasten können und gegebenenfalls Vorstufen von schweren Übergriffen sind.

Spezielle Risiko­fak­toren des Sports

Als Bedingungen für die Entstehung von sexualisierter Gewalt im Sport werden häufig sowohl die sozialen Strukturen des Sports angeführt, z.B. ungleiche Geschlechterverhältnisse, die starke Körperlichkeit des Sports, die Erfolgsausrichtung und Sozialisation in einer Risikokultur[1], enge Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Trainer_innen und Athlet_innen im Leistungssport, als auch sportspezifische Situationen und Gelegenheiten, wie Umkleide- und Duschsituationen oder Kleidungsvorschriften und deren Kontrolle (Klein & Palzkill, 1998; Rulofs, 2015). Eine besondere Schwierigkeit stellt die Situation zwischen Trainer_in und Athlet_in dar, die von Abhängigkeiten und einem Machtgefälle gekennzeichnet sein kann. Sie bergen besondere Risiken für Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt. Dabei sind auch die Geschlechter- und Generationenverhältnisse relevant. Trainer- und Führungspositionen im Sport sind überwiegend von Männern besetzt; das Alters- und Kompetenzgefälle zwischen heranwachsenden Sportler_innen und erwachsenen Betreuer_innen beinhaltet potentielle Gefährdungen für Ausbeutung und Gewalt, insbesondere wenn junge Sportler_innen dem Ziel des sportlichen Erfolgs alles unterordnen und dieses gemeinsam mit dem Trainer bzw. der Trainerin erreichen möchten (Brackenridge, 2001).

Verschiedene Studien im Sport benennen zudem einige Personengruppen, die ein erhöhtes Risiko besitzen, sexualisierte Gewalt zu erleben. So sind in der Regel Frauen und Mädchen deutlich häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als Männer bzw. Jungen. Weiterhin sind auch Sportler_innen mit homosexueller oder bisexueller Orientierung häufiger Opfer von Übergriffen als heterosexuelle Athlet_innen. Andere Personenmerkmale, die international als Risikofaktor für sexualisierte Gewalt gelten, sind das Vorliegen einer Behinderung (sowohl körperlicher als auch geistiger Art) oder auch ein Migrationshintergrund (Ohlert et al., 2018).

Der „Grooming“-Prozess im Sport

Um Ereignissen sexualisierter Gewalt im Sport intensiver auf den Grund zu gehen, entwickelten Cense und Brackenridge (2001) auf Basis eines generellen Modells von Finkelhor (1984) sowie damals vorhandener empirischer Daten ein theoretisches Modell zum Ablauf eines Ereignisses schwerer sexualisierter Gewalt im Sport (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Modell der zeitlichen Entwicklung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im Sport (adaptiert nach Cense & Brackenridge, 2001).

So gehen die Autorinnen von verschiedenen Phasen im Ablauf aus, beginnend zunächst mit der Motivation der Täterin bzw. des Täters und dem anschließenden Überwinden der persönlichen Hemmungen sowie der allgemeinen externen Barrieren aufgrund der Kultur und Strukturen in der jeweiligen Sportart. Anschließend erfolgt die Auswahl einer Zielperson, bei welcher zunächst ggf. spezifische Barrieren (z.B. die Einbindung der Person in ein Team) umgangen werden müssen, um schließlich mit dem so genannten Grooming-Prozess zu beginnen. Grooming ist dadurch charakterisiert, dass die Täterin bzw. der Täter zunächst im Laufe der Zeit bei der Zielperson eine Abhängigkeit von der eigenen Person erzeugt, so dass eine Trennung unangenehme sportliche Konsequenzen für die Sportlerin bzw. den Sportler hätte. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass ein Aufstieg in eine höhere Leistungsstufe in Aussicht gestellt oder tatsächlich umgesetzt wird, welcher abhängig von der Person der Täterin bzw. des Täters ist. Anschließend wird der Kontakt immer persönlicher, auch indem z.B. Gefälligkeiten gewährt werden, die anderen Athlet_innen nicht zugestanden werden. Diese zunächst „unauffälligen“ Situationen (z.B. Einzeltrainings oder auch Nachhilfe bei Schulproblemen) werden im Laufe der Zeit vermehrt in den privaten Bereich verschoben, während gleichzeitig nach und nach auch die körperliche Nähe forciert wird. Ziel ist hier, dass die Athletin bzw. der Athlet durch die graduellen Verschiebungen den Punkt verpasst, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen. Erst nach dieser Phase erfolgt der eigentliche Missbrauch, der häufig mehrere Jahre andauern kann (wie lange hängt sowohl von den beteiligten Personen ab als auch von Dritten, die den Missbrauch unter Umständen irgendwann bemerken). Im letzten Schritt des Modells sucht sich die Täterin bzw. der Täter nach dem Ende des Missbrauchs in der Regel eine neue Zielperson. Falls er/sie eine Art Beziehung zur ehemaligen Zielperson aufrecht erhält, kann es zudem passieren, dass weitere Belästigungen oder Bedrohungen erfolgen, auch wenn die eigentliche Missbrauchsphase bereits abgeschlossen ist.

Bei der Anwendung des Modells sollte beachtet werden, dass dieses vor allem aufgrund qualitativer Daten entstanden ist und noch nicht quantitativ empirisch überprüft wurde. Dennoch baut es auf einer Vielzahl von Studien auf, die sich im Detail mit dem Prozess des sexuellen Missbrauchs beschäftigt haben, und bildet daher wesentliche inhaltliche Aspekte sehr gut ab. Es sollte jedoch auch bedacht werden, dass sich das Modell mit schweren Formen sexualisierter Gewalt beschäftigt. Für leichte oder moderate Formen finden sich möglicherweise andere Einflussfaktoren. Es ist allerdings auch denkbar, dass diese leichten Formen sexualisierter Gewalt Teil des oben genannten Grooming-Prozesses sind und nicht getrennt betrachtet werden sollten, da sie irgendwann in schwerer sexualisierter Gewalt münden.

Studienlage zu sexua­li­sierter Gewalt im Sport

Im internationalen Raum liegen verschiedene empirische Studien vor, die je nach Definition und Sportkontext unterschiedliche Prävalenzraten sexualisierter Gewalt im Sport ermitteln. In einer Zusammenfassung der verschiedenen Studien kommt Fasting (2012) zu dem Ergebnis, dass die Prävalenz bei einer weiten Definition im Sinne von sexueller Belästigung zwischen 14% und 73% variiert und bei einer engen Definition (ausschließlich sexuelle Übergriffe mit Körperkontakt) zwischen 2% und 22% liegt. Die erheblichen Spannweiten in den Daten verweisen auf das grundsätzliche Problem der Vergleichbarkeit der Untersuchungen. Zudem sind die Ergebnisse aufgrund unterschiedlicher Strukturen der Sportsysteme nicht unmittelbar auf Deutschland übertragbar.

In Deutschland generierten Klein und Palzkill (1998) auf der Basis von qualitativen Interviews erste Einsichten zu sexualisierter Gewalt im Sport, wobei sie den Fokus auf Gewalt gegen Mädchen und Frauen richteten. Erst in den Jahren 2013 bis 2015 wurden im Rahmen der Studie »Safe Sport« erstmals differenzierte Zahlen zu sexualisierter Gewalt im organisierten Sport in Deutschland erhoben (Allroggen et al., 2016; Ohlert et al., 2017; Ohlert et al., 2018). Insgesamt 1.529 Kaderathlet_innen[2] ab 16 Jahren nahmen an einer umfangreichen Online-Befragung teil. Die Teilnehmenden stammten aus 128 verschiedenen Sportarten, die 57 Sportverbänden zugeordnet werden konnten.

Die Ergebnisse zeigen, dass insgesamt mehr als ein Drittel (37,6%) der Befragten einmal oder häufiger im Leben eine Situation sexualisierter Gewalt im Sport erlebt hatten; bei 11,2% war es sogar schwere sexualisierte Gewalt (nach der oben beschriebenen Definition; siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Prävalenz sexualisierter Gewalt im Sport unterteilt nach den verschiedenen Schweregraden.

Ähnlich wie in anderen Studien konnten auch bei »Safe Sport« Geschlechtsunterschiede gefunden werden (48% der Athletinnen und 23% der Athleten haben Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt); Sportler_innen mit nicht heterosexueller Orientierung waren häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als Athlet_innen, die sich selbst als heterosexuell bezeichneten. Weitere, in anderen Studien häufig nachgewiesene Unterschiede zwischen verschiedenen Subgruppen von Athlet_innen konnten jedoch nicht nachgewiesen werden. So zeigte sich weder ein erhöhtes Risiko für Kadersport-Athlet_innen mit Migrationshintergrund noch für Kadersportler_innen mit körperlicher Behinderung (Menschen mit geistiger Behinderung wurden nicht befragt). Auch zwischen verschiedenen Alters-, Kader- oder Sportartengruppen ergaben sich keine Unterschiede in der Prävalenz sexualisierter Gewalt. Hervorzuheben ist, dass zwei Drittel aller Betroffenen bei der ersten Gewalterfahrung noch nicht erwachsen waren, und somit in einer Altersphase mit sexualisierter Gewalt konfrontiert wurden, in der Schutz und gesunde Entwicklungsbedingungen hoch bedeutsam sind (Allroggen et al., 2016).

Sexualisierte Gewalt tritt aber nicht als isoliertes Phänomen auf, sondern ist vielfach mit körperlicher und/oder emotionaler Gewalt verbunden. Mit körperlicher Gewalt sind dabei in der »Safe Sport«-Studie Handlungen gemeint wie jemanden zu schütteln, zu schlagen oder zu würgen (und zwar außerhalb des sportlichen Vollzugs). Emotionale Gewalt beinhaltet Handlungen von Mobbing über Erniedrigungen bis hin zur Androhung von körperlicher Gewalt. Auch für die in Deutschland befragten Kaderathlet_innen zeigte sich, dass lediglich 2% der Personen, die von sexualisierter Gewalt berichteten, ausschließlich dieser ausgesetzt waren (s. Abbildung 3). Mehr als die Hälfte der Betroffenen (54%) erfuhr neben der sexualisierten Gewalt auch emotionale Gewalt in irgendeiner Form, und 43% berichteten, alle drei Gewaltformen mindestens einmal in ihrem Leben im Sportkontext erfahren zu haben.

Abbildung 3: Überschneidung der Erfahrungen sexualisierter Gewalt mit Erfahrungen zu anderen Gewaltformen innerhalb des Sports.

In vielen Studien zu sexualisierter Gewalt und auch im Modell von Cense und Brackenridge stehen männliche Personen, insbesondere die Trainer als Täter im Fokus. Auch bei »Safe Sport« waren es ausschließlich männliche, erwachsene Personen, die als Täter bei schwerer sexualisierter Gewalt angegeben wurden. Dennoch legen die Studienergebnisse auch nahe, dass die Täter_innen etwas differenzierter betrachtet werden sollten: So waren bei leichter sexualisierter Gewalt auch 14% Täterinnen zu identifizieren, zudem handelte es sich bei fast zwei Dritteln (60%) um andere Sportler_innen, bei 30% um jugendliche Täter_innen und in 49% der Fälle war eine ganze Gruppe beteiligt (keine Einzelperson). Verantwortliche erwachsene Personen (Trainer_in, Betreuer_in, Physiotherapeut_in etc.) waren jedoch auch zu 20% für leichte sexualisierte Gewalt verantwortlich. Bei schwerer sexualisierter Gewalt hingegen waren in der Studie alle Täter erwachsen und männlich, allerdings handelte es sich bei 11% auch um einen anderen Sportler, und bei 21% nicht um eine direkt betreuende Person, sondern eine andere Person aus dem gleichen Verein. Demnach sollte in Präventionsprogrammen auch die Gruppe der gleichaltrigen Sportler_innen berücksichtigt werden.

Folgen sexua­li­sierter Gewalt

Das Erleben sexualisierter Gewalt, insbesondere in der Kindheit, hat Folgen für die betroffenen Personen. In mehreren Studien konnten vor allem psychische Konsequenzen wie ein erhöhtes Depressionsrisiko, Ängste, psychotische Störungen, Dissoziation, soziale Anpassungsprobleme und Persönlichkeitsstörungen nachgewiesen werden, aber auch Folgen wie Essstörungen, Substanzmissbrauch und risikoreiches Sexualverhalten (Maniglio, 2009). In der Studie »Safe Sport« zeigte sich, dass auch vermeintlich „leichte“ Formen sexualisierter Gewalt durchaus Folgen haben können: So gaben immerhin 10% der befragten Athlet_innen, die leichte sexualisierte Gewalt erlebt hatten, an, dass sie aufgrund des Ereignisses unter psychischen Beschwerden litten, 2% sogar länger als sechs Monate. Bei schwerer sexualisierter Gewalt waren diese Zahlen entsprechend höher mit 53% für psychische Beschwerden (bei 32% länger als sechs Monate). Insgesamt 11% der Betroffenen hatten aufgrund der Erfahrungen eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen (Allroggen et al., 2016).

Neben den persönlichen Konsequenzen für die Betroffenen sollte zudem im Sportsystem nicht außer Acht gelassen werden, dass sexualisierte Gewalt auch Folgen für Vereine und Verbände haben kann: In der Befragung der Kaderathlet_innen berichteten 5% der Betroffenen sexualisierter Gewalt von einem Wechsel der Trainingsgruppe, 4% von einem Vereinswechsel, und 1% von einem Wechsel der Sportart, zudem einige Athleten von reduzierter Motivation für den Sport. Hierbei sollte bedacht werden, dass die Dunkelziffer sicherlich deutlich höher ist, denn diejenigen, die aufgrund der Ereignisse mit ihrem Sport komplett aufhören, konnten in dieser Befragung gar nicht erfasst werden.

Prävention sexua­li­sierter Gewalt

Zur Prävention sexualisierter Gewalt wurden seit 2010 Netzwerke im Sport und auch außerhalb des Sports aufgebaut, die Angebote für Vereine zur Verfügung stellen. Der Status Quo der Präventionsarbeit im organisierten Sport wurde im Projekt »Safe Sport« ebenfalls durch Befragungen – sowohl auf der Ebene der Verbände als auch der Vereine – erhoben. Als wesentlicher Motor in der Entwicklung des Kinderschutzes und der Prävention sexualisierter Gewalt können neben der Deutschen Sportjugend (dsj) im DOSB vor allem die Landessportbünde und ihre Sportjugenden bezeichnet werden. So haben z.B. alle Landessportbünde eine_n Beauftragte_n für das Thema benannt und fast alle die Thematik in Qualifizierungsmaßnahmen eingebunden. Im Vergleich dazu ist für die nationalen Spitzenverbände (zuständig für den Wettkampf- und Leistungssport in einzelnen Sportarten) noch ein Nachholbedarf zu konstatieren (Rulofs et al., 2016). Es wurde bereits eine Vielzahl an Materialien entwickelt, die von Vereinen und Verbänden genutzt werden können und die über die jeweiligen Homepages abrufbar sind.[3] Alle diese Ansätze zielen darauf ab, das Thema sexualisierte Gewalt in den Vereinen und Organisationen zu enttabuisieren und den betreuenden Personen Handlungssicherheit durch Wissensaufbau und formale Regeln zu geben, während gleichzeitig eine Stärkung der Athlet_innen erfolgt, damit diesen im Falle eines Übergriffs oder einer Grenzüberschreitung das Gefühl der Hilflosigkeit genommen wird. Insbesondere durch klare Umgangsregeln, Ethik-Codes und die Vorlage erweiterter Führungszeugnisse soll potentiellen Täter_innen signalisiert werden, dass im jeweiligen Verein eine „Kultur des Hinsehens“ praktiziert wird, die alle Personen schützt. Gleichzeitig werden auf diese Weise Trainer_innen vor falschen Vorwürfen geschützt.

Die Erhebungen im Projekt »Safe Sport« zeigen jedoch, dass die von den Verbänden entwickelten Präventionsmaßnahmen noch zu selten die Ebene der Vereine an der Basis des Sports erreichen. Nur gut ein Drittel der Vereine in Deutschland gibt z.B. an, sich aktiv gegen sexualisierte Gewalt im Sport einzusetzen. Dagegen ist beispielsweise in ca. einem Drittel der Vereine keine einzige spezifische Maßnahme zur Prävention sexualisierter Gewalt implementiert. Eine Selbstverpflichtung oder ein Ethik-Code wird in 31% der Vereine von Trainer_innen unterschrieben; 29% der Vereine haben verbindliche Regeln für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen definiert; 26% der Vereine verlangen ein Führungszeugnis von Mitarbeitenden und regelmäßige Schulungen zur Prävention sexualisierter Gewalt werden nur in 9% der Vereine durchgeführt (Hartmann-Tews et al., 2016). Diese noch relativ schwach ausgeprägte Präventionsstruktur in den Sportvereinen ist angesichts der Ergebnisse der Kaderathlet_innen-Befragung umso bedenklicher, denn sexualisierte Gewalterfahrungen machen Athlet_innen am häufigsten im Kontext des Vereins (deutlich seltener im Olympiastützpunkt, Sportinternat etc.; Allroggen et al., 2016).

Aktuelle Entwick­lungen im Sportsystem in Deutschland

Die Ergebnisse der Studie »Safe Sport« wurden bundesweit im organisierten Sport, aber auch in der Presse mit vergleichsweise großem Interesse aufgenommen und dienten bereits als Anlass, erste Maßnahmen abzuleiten. Zunächst wurden für die verschiedenen Organisationstypen des Sports in Deutschland spezifische Handlungsempfehlungen entwickelt: für die Landessportverbände, Spitzenverbände, Verbände mit besonderen Aufgaben, Sportvereine und das Verbundsystem Nachwuchsleistungssport (hierzu gehören die Sportinternate, Nachwuchsleistungszentren, Eliteschulen des Sports sowie die Olympiastützpunkte). Diese Handlungsempfehlungen wurden an die Mitgliedsorganisationen des DOSB und der dsj weitergegeben und sollen dort als Grundlage für die Initiierung von Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt dienen.

Weiterhin konnte aufgrund der »Safe Sport«-Ergebnisse erreicht werden, dass das Thema sexualisierte Gewalt Eingang fand in das Attribute-System der Potentialanalyse-Kommission des DOSB. Diese Kommission wird laut aktueller Planungen dafür zuständig sein, das von der Bundesregierung für alle leistungssportlich orientierten Sportverbände zur Verfügung gestellte Fördergeld auf die Verbände zu verteilen. Hierzu wird ein so genanntes Potentialanalysesystem (PotAS) verwendet, innerhalb welchem verschiedene verbandsbezogene Aspekte bewertet werden, um das Potential des jeweiligen Verbandes einzuschätzen, zukünftig bei internationalen großen Wettkämpfen (insbes. Olympischen Spielen) erfolgreich zu sein (PotAS Kommission, 2018). Indem die Prävention sexualisierter Gewalt explizit als Attribut in das System aufgenommen wurde, erhalten Sportverbände, welche eine_n Ansprechpartner_in zum Thema sexualisierte Gewalt und ein Präventionskonzept sowie einen Verhaltenscodex vorweisen können, zukünftig voraussichtlich mehr Fördergelder als Verbände, die diese Maßnahmen noch nicht ergriffen haben. Dies kann als großer Erfolg bezeichnet werden, denn hierdurch bekommen die leistungsorientiert arbeitenden Sportverbände einen finanziellen Anreiz, sich mit dem Schutz vor sexualisierter Gewalt auseinanderzusetzen.

Aus Sicht des Breitensports wäre jedoch als wichtige weitere Grundlage zur Prävention sexualisierter Gewalt eine Studie notwendig, welche belastbare Zahlen liefern kann zur Prävalenz sexualisierter Gewalt in denjenigen Sportvereinen, die überwiegend breitensportlich orientiert sind, denn die Ergebnisse der Athlet_innenbefragung aus »Safe Sport« sind lediglich aussagekräftig für den Wettkampf- und Leistungssport und können nicht ohne weiteres auf den Breitensport übertragen werden. Da jedoch eine hohe Zahl der Kinder und Jugendlichen ihren Sport auf Breitensportniveau und in kleinen, rein ehrenamtlich geführten Vereinen treiben, wäre eine solche Studie sehr wichtig für Erkenntnisse darüber, ob und inwiefern der Schutz junger Menschen vor Gewalterfahrungen im Breitensport angemessen entwickelt ist.

JEANNINE OHLERT   Jahrgang 1975, Dipl.-Psych., Dr. phil, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln sowie an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikum Ulm; aktuelle Forschungsfelder sind das Thema sexualisierte Gewalt im Sport, die Persönlichkeitsentwicklung junger Athlet_innen sowie Gruppenprozesse in Sportmannschaften.

BETTINA RULOFS   Jahrgang 1971, Dipl.-Sportlehrerin, Dr. sportwiss., Akademische Oberrätin am Institut für Soziologie und Genderforschung der Deutschen Sporthochschule Köln; aktuelle Forschungsfelder sind Kinderschutz und die Prävention sexualisierter Gewalt, soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport, Management von Diversität im organisierten Sport, Förderung von Inklusion im Schulsport.

Literatur

Allroggen, M., Ohlert, J., Gramm, C. & Rau, T. (2016). Erfahrungen sexualisierter Gewalt von Kaderathlet/-innen. In B. Rulofs (Hrsg.), „Safe Sport“ – Schutz von Kindern und Jugendlichen im organisierten Sport in Deutschland: Erste Ergebnisse des Forschungsprojektes zur Analyse von Häufigkeiten, Formen, Präventions- und Interventionsmaßnahmen bei sexualisierter Gewalt. Köln: Deutsche Sporthochschule Köln, S. 9–12.

Brackenridge, C. (2001). Spoilsports. Understanding and preventing sexual exploitation in sport. London: Routledge.

Cense, M. & Brackenridge, C. (2001). Temporal and developmental risk factors for sexual harassment and abuse in sport. European Physical Education Review, 7 (1), S. 61–79.

Fasting, K. (2012). What do we know about sexual harassment and abuse in sport in Europe? Vortrag bei der Europäischen Konferenz „Safer, better, stronger! Prevention of sexual harassment and abuse in sport“, Berlin.

Finkelhor, D. (1984). Child sexual abuse. New theory and research. New York: Free Press.

Hartmann-Tews, I., Rulofs, B., Feiler, S. & Breuer, C. (2016). Zur Situation der Prävention und Intervention in Sportvereinen. In B. Rulofs (Hrsg.), „Safe Sport“ – Schutz von Kindern und Jugendlichen im organisierten Sport in Deutschland: Erste Ergebnisse des Forschungsprojektes zur Analyse von Häufigkeiten, Formen, Präventions- und Interventionsmaßnahmen bei sexualisierter Gewalt. Köln: Deutsche Sporthochschule Köln, S. 18–21.

Klein, M. & Palzkill, B. (1998). Gewalt gegen Mädchen und Frauen im Sport. Pilotstudie im Auftrag des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf: Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen.

Maniglio, R. (2009). The impact of child sexual abuse on health. A systematic review of reviews. Clinical psychology review, 29 (7), S. 647–657. https://doi.org/10.1016/j.cpr. 2009.08.003

Ohlert, J., Rau, T., Rulofs, B. & Allroggen, M. (2017). Prävalenz und Charakteristika sexualisierter Gewalt im Spitzensport in Deutschland. Leistungssport, 47 (3), S. 44–47.

Ohlert, J., Seidler, C., Rau, T., Rulofs, B. & Allroggen, M. (2018). Sexual violence in organized sport in Germany. German Journal of Exercise and Sport Research, 48 (1), S. 59-68. https://doi.org/10.1007/s12662-017-0485-9

PotAS Kommission. (2018). Attributesystem. Zugriff am 21.03.2018. Verfügbar unter https://www.potas.de/files/Attributesystem.pdf

Rulofs, B. (2015). Sexualisierte Gewalt. In W. Schmidt, N. Neuber, T. Rauschenbach, H.-P. Brandl-Bredenbeck, J. Süßenbach & C. Breuer (Hrsg.), Dritter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Schorndorf: Hofmann, S. 370–392.

Rulofs, B., Wagner, I. & Hartmann-Tews, I. (2016). Zur Situation der Prävention und Intervention in den Mitgliedsorganisationen des DOSB/der dsj. In B. Rulofs (Hrsg.), „Safe Sport“ – Schutz von Kindern und Jugendlichen im organisierten Sport in Deutschland: Erste Ergebnisse des Forschungsprojektes zur Analyse von Häufigkeiten, Formen, Präventions- und Interventionsmaßnahmen bei sexualisierter Gewalt (S. 13–17). Köln: Deutsche Sporthochschule Köln.

Thiel, A., Mayer, J. & Digel, H. (2010). Gesundheit im Spitzensport – Eine sozialwissenschaftliche Analyse. Schorndorf: Hofmann.

Vertommen, T., Schipper-van Veldhoven, N., Wouters, K., Kampen, J. K., Brackenridge, C. H., Rhind, D. J. A. et al. (2016). Interpersonal violence against children in sport in the Netherlands and Belgium. Child Abuse & Neglect, 51, S. 223–236. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2015.10.006

Anmerkungen:

(1) Die Sozialisation in einer Risikokultur basiert darauf, dass Athlet_innen in ihrem Sport häufig an ihre Grenzen und zum Teil darüber hinaus gehen müssen, um ihre Leistungsfähigkeit zu erweitern. Hierdurch entsteht das Risiko, dass eigene Grenzen von den Sportler_innen gar nicht mehr erkannt werden Thiel, Mayer und Digel (2010).

(2) Als Kaderathlet_innen gelten alle Sportler_innen, die aufgrund ihrer Leistungen in der eigenen Sportart für eine Auswahlmannschaft ihres Bundeslandes (D/C- bzw. D-Kader) oder für das deutsche Nationalteam (B- bzw. A-Kader) nominiert wurden.

(3) Materialien der dsj unter www.dsj.de/kinderschutz; Materialien des LSB NRW unter www.lsb.nrw/ unsere-themen/gegen-sexualisierte-gewalt-im-sport

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