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Engagement im Sportverein – struk­tu­relle Verän­de­rungen in der plura­li­sierten Sport- und Bewegungs­kultur

in: vorgänge Nr. 223 (3/2018), S. 5-14

Der Beitrag pointiert ausgewählte Thesen zum ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement im Sportverein vor dem Hintergrund des dynamischen Wandels der Sport- und Bewegungskultur in Deutschland. Einerseits bildet der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) als Dachverband des verbandlich organisierten Vereinssports mit rund 27.5 Millionen Mitgliedschaften in mehr als 90.000 Sportvereinen die größte Personenvereinigung in Deutschland. Andererseits wird die Idee vom Sportverein als einer solidargemeinschaftlich, ehrenamtlich und basisdemokratisch grundierten freiwilligen Vereinigung als Basis des Sportvereinswesens zunehmend problematisiert. Während im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse langfristige Mitgliedschaften, emotionale Vereinsbindungen und dauerhafte Engagementformate im lokalen Sportverein an individueller und gesellschaftlicher Relevanz verlieren, wird ein Wandel hin zu temporären, projektbezogenen und individuell passenden Engagements in variablen sozialen Kontexten postuliert. In dieser Perspektive kommt der Weiterentwicklung von Partizipationschancen, einer entsprechenden Informationspolitik und organisatorisch-institutioneller Flexibilität hohe Bedeutung zu, will man Vereine für (neue) Mitglieder attraktiver machen und die bestehenden Mitglieder aktiv und kompetent beteiligen.

Einleitung

Seit Gründung des Deutschen Sportbundes (DSB) im Jahr 1950 und dann des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) im Jahr 2006 hat das verbandlich organisierte Sportvereinswesen eine bemerkenswerte Mitgliedschaftszunahme erlebt, die erst in den letzten Jahren in eine Phase der Stagnation übergegangen ist. Dieser jahrzehntelange Boom hat die Dachorganisation der deutschen Turn- und Sportbewegung zur größten Personenvereinigung in Deutschland avancieren lassen. Aktuell werden rund 27,5 Mio. Mitgliedschaften in mehr als 91.000 Sportvereinen in Deutschland registriert (vgl. DOSB, 2018). Angesichts dieser Zahlen bildet der vereins- und verbandsorganisierte Sport einen relevanten Organisationsfaktor mit lebensweltlicher Einbettung in der Zivilgesellschaft in Deutschland: Bis hinein in die Verästelungen lokaler Alltagswelten organisieren sich Individuen auf freiwilliger Basis in Vereinen und versuchen durch das Spenden von Geld, Sachleistungen, Zeit und Wissen ihre gemeinsamen sportbezogenen Interessen in die Praxis umzusetzen (vgl. u.a. Braun 2013).

Allerdings sind die Formen und Kontexte, in denen sich die individuellen Akteure im Feld des Sports freiwillig engagieren, in den letzten Jahrzehnten immer vielfältiger geworden. So expandierte die Sport- und Bewegungskultur jenseits des verbandlich organisierten Vereinssports in den letzten Jahrzehnten so dynamisch, dass längst eine Vielfalt von Sportformen in loseren, spontaneren, flexibleren und kurzlebigeren Netzwerken, Projekten und Initiativen in Parks und Wäldern oder auf öffentlichen Plätzen ebenso wie auch in Online-Formaten (z.B. e-Sport) ausgeübt werden. Während in diesen Kontexten das Selbstorganisationspotenzial der Bevölkerung zu wachsen scheint, sind offenbar traditionelle Sportverbände – trotz der Popularität vieler Sportarten wie z.B. dem Fußballspiel – mit zunehmenden Problemen bei der Gewinnung und Bindung freiwillig und ehrenamtlich engagierter Mitglieder für die Vereinsarbeit konfrontiert (vgl. u.a. Braun 2017; Breuer 2017; Emrich et al. 2001; Thieme 2017).

Vor diesem Hintergrund versucht der folgende Beitrag ausgewählte Thesen zum ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement im Sportverein im Lichte einer sich dynamisch wandelnden Sport- und Bewegungskultur in Deutschland zu pointieren.

Engagement als Struk­tur­merkmal von Sport­ver­einen

In seinen vergleichenden Analysen mit privatgewerblichen und staatlichen Organisationen hat Horch (1983, 1992) den analytischen Idealtypus der „demokratischen ehrenamtlichen freiwilligen Vereinigung“ mit seinen idealtypischen Strukturbesonderheiten systematisch herausgearbeitet. Eine freiwillige Vereinigung wie z.B. ein Sportverein lässt sich demnach als ein frei gewählter Zusammenschluss von natürlichen Personen charakterisieren, die im Rahmen einer formalen – d.h. geplanten, am Ziel der Vereinigung ausgerichteten und von bestimmten Personen unabhängigen – Organisationsstruktur gemeinsam ihre sportbezogenen Ziele verfolgen.

Die mitgliedschaftliche Struktur bildet dabei ein zentrales Vereinsmerkmal, insofern als die Mitglieder als oberstes Entscheidungsorgan den Souverän repräsentieren, von dem Kompetenzdelegation und organisatorische Verfassungsentscheide ausgehen. Grundlage dafür sind demokratische und partizipativ verfasste Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse, in denen die Mitglieder die Vereinsziele unabhängig von externer Einflussnahme aushandeln und definieren. Diese Ziele werden durch die Verbindung verschiedener Formen der Mitgliederpartizipation in die soziale Praxis umgesetzt. Die Orientierung an bedarfswirtschaftlichen Zielen ist dabei das leitende Prinzip der Wirtschaftsform, d.h. Ziel der Produktion ist die Deckung eines spezifischen Bedarfs und nicht die Erwirtschaftung eines Ertrags (vgl. Braun 2003; Horch 1983, 1985, 1992; Nagel 2006; Thieme 2017).

Vor dem Hintergrund dieser Strukturmerkmale lässt sich das ehrenamtliche und freiwillige Engagement von Mitgliedern als ein Bestandserhaltungsgebot von Sportvereinen verstehen: Durch das Spenden von Zeit und Wissen erstellen Mitglieder für Mitglieder Vereinsleistungen, so dass Sportvereine als „Produzenten-Konsumenten-Gemeinschaften“ (Horch 1983) beschrieben werden können. Strob (1999) spricht in einem ähnlichen Zusammenhang auch von „Wahl-Gemeinschaften“, deren Mitglieder sich freiwillig zusammenschließen, um sich in „Gemeinschaftsarbeit“ für die Realisierung ihrer Interessen zu engagieren. Wenn „nicht-ökonomische Anreize im Vordergrund stehen, wird die Mitgliedschaft und Mitarbeit vom Individuum nicht als ein Tauschgeschäft erlebt. Wichtige Anreize freiwilliger Vereinigungen sind tauschtheoretisch nicht zu erfassen, wie z.B. die persönliche Befriedigung, die daraus erwächst, daß man einen Beitrag zur Erreichung eines hochbewerteten Ziels leistet“ (Horch 1985: 226). In diesem Sinne argumentiert auch Strob (1999), dass „die Bereitschaft zur Übernahme von Gemeinschaftsarbeiten als Kennzeichen dafür zu werten ist, inwieweit ein einzelnes Individuum die jeweilige Gruppierung als Gemeinschaft ansieht“ (Strob 1999: 160).

Diese Mitglieder bezeichnet Strob (1999) als „Gemeinschaftskern“, für den ein freiwilliges Engagement „zunächst wenig spektakulär ist, gilt die Gemeinschaftsarbeit in der Binnenperspektive häufig als ein konstitutives Merkmal der Gemeinschaft, zumindest ein konstitutives Merkmal des Gemeinschaftskerns, und gehört in diesem Zusammenhang schlechterdings zum Gemeinschaftsalltag“ (Strob 1999: 243). Insbesondere die „emotionale Qualität einer Gemeinschaft als Ausdruck einer inneren Verbundenheit verdeutlicht, warum ein Individuum ohne eine unmittelbare Nutzenerwartung eine Gemeinschaftsarbeit ausüben kann“ (Strob 1999: 144). Die Mitglieder dieses Gemeinschaftskerns kontrastiert Strob (1999: 160-161) mit den Mitgliedern in der „Gemeinschaftsperipherie“, die als „Trittbrettfahrer“ vom freiwilligen Engagement des Gemeinschaftskerns zu profitieren suchten, die Vereinsziele bzw. deren Erreichung anders definierten oder „die jeweilige Gruppierung nicht (mehr) als Gemeinschaft wahrnehmen“ (Strob 1999: 161).

Folgt man dieser Argumentationsfigur, dann ist das freiwillige und ehrenamtliche Engagement von Mitgliedern mehr als ein unentgeltliches Engagement, um die Ziele eines Sportvereins in die soziale Praxis umzusetzen. Vielmehr kann ein solches Engagement die affektive Bindung der Mitglieder untereinander und an den Sportverein erzeugen, stabilisieren und fördern; und umgekehrt dürfte diese emotionale Bindung wiederum die Bereitschaft stützen und anregen, sich freiwillig in dem und für den Sportverein zu engagieren. Diese beiden wechselseitig aufeinander bezogenen Prozesse dürften wiederum dazu beitragen, die besondere Handlungslogik in Sportvereinen als Wahl-Gemeinschaften zu (re-)produzieren: den wechselseitigen, zielgerichteten Nutzen einerseits und insbesondere die emotionale, personale Bindung der Mitglieder andererseits, die nach Strob (1999) die freiwillige Begrenzung der individuellen Nutzenerwartung und den Handlungsmodus der „Gemeinschaftsarbeit“ begründet.

Moder­ni­sie­rungs­pro­zesse im freiwil­ligen und ehren­amt­li­chen Engagement

Die Beschreibung vom Sportverein als einer ehrenamtlich organisierten und basisdemokratisch grundierten freiwilligen Vereinigung wird allerdings seit langem in Frage gestellt. Zumindest gilt der „Vereinsmeier“, der nach landläufiger Meinung in der eigenen Welt seines geselligen Sportvereins nach festgelegten Werten und Normen lebt, schon längst als Auslaufmodell. So resümierte Lenk (1972) bereits in den frühen 1970er Jahren, dass noch bis in die 1950er Jahre hinein die Sportvereine ihre Mitglieder auf der Basis einer gemeinsamen „Idee“ gesammelt hätten; Vereinsnamen („Einheit“, „Concordia“, „Eintracht“), Vereinssymbole (Fahnen, Abzeichen), Bilder von der „Vereinsfamilie“ oder das „brüderliche Du“ hätten Sportvereinen den Charakter von „Lebensgemeinschaften“ mit einer „ganzheitlich bindenden ‚Lebensform'“ verliehen (Lenk 1972: 104). Hingegen werde schon seinerzeit der „Verein (…) nicht mehr als ganzheitlich bindende ‚Lebensform‘ […], als ‚wahre Lebensgemeinschaft‘ empfunden, sondern mehr als Zweckorganisation, die freiwillig benutzt wird, um private Freizeitbedürfnisse zu erfüllen. Man dient keiner Idee mehr, besitzt kaum noch eine Ideologie, sondern steht dem Verein in einer ‚Benutzerhaltung‘ […] gegenüber“ (Lenk 1972: 104; dazu auch Baur/Braun 2001; Braun/Nagel 2005; Nagel 2006; Strob 1999; Thieme 2017; Zimmer 2007).

Wo jedoch geht es hin mit der „Solidargemeinschaft“ Sportverein in Zeiten eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels, in der langfristige Mitgliedschaften ebenso wie dauerhafte Engagementformate im lokalen Sportverein an individueller und gesellschaftlicher Relevanz zu verlieren scheinen? Auch wenn entsprechende Thesen und Zukunftszenarien vielfach einen Sachverhalt überbetonen und gegenläufige Entwicklungen ausblenden, so erscheint das Bild vom „Aussterben der Stammkunden“, das Streeck (1999) schon vor mehreren Jahrzehnten als Zukunftsszenario für intermediäre Großorganisationen und ihr lebensnahes Unterfutter in Gestalt der Vereine vor Ort entwarf, durchaus Plausibilität beanspruchen zu können. Folgt man dieser Argumentationsfigur, dann müsste unter den Mitgliedern auch die Bereitschaft zu „Gemeinschaftsarbeit“ (Strob 1999) im Sportverein zunehmend „brüchiger“ geworden sein – sei es im Hinblick auf die Übernahme formaler (Ehren-)Ämter als Funktionsträgerin bzw. -träger (Vorstandsmitglied, Abteilungsleitung, Übungs- und Gruppenleitung etc.), sei es auf informeller Ebene durch das regelmäßige Mithelfen und Zupacken im Verein oder der Sportgruppe (z.B. bei Wettkämpfen, Vereinsfesten). Auch wenn die Befundlage nicht eindeutig ist, so scheinen Studien dieses Bild insbesondere für die Bereitschaft zur Übernahme längerfristig perspektivierter und sozial verpflichtender Vereinsfunktionen zu bestätigen (vgl. z.B. Braun 2017; Breuer 2017; Simonson et al. 2017).

Als ursächlich dafür werden vielfach gesellschaftliche Modernisierungsprozesse ins Feld geführt, die auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert werden. So wird z.B. auf der organisationalen Ebene der Sportverbände und Sportvereine das zunehmende Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie und Mission thematisiert und die These vertreten, dass sich diese traditionsreichen intermediären Organisationen immer weitreichender wandeln würden: nämlich von zivilgesellschaftlich verankerten, bedarfswirtschaftlich ausgerichteten Solidargemeinschaften mit dauerhaften Mitgliedschaften und einem belastbaren Ehrenamt zu betriebswirtschaftlich geführten Dienstleistungsorganisationen auf einem bunten Sportanbietermarkt, auf dem Konsumenteninnen und Konsumenten themenbezogen bestimmte Leistungen als Ware auswählen und gemäß individueller Kosten-Nutzen-Kalküle einkaufen würden (vgl. im Überblick Braun/Nagel 2005).

In diesem Sinne wird auf der individuellen Ebene argumentiert, dass eine Sportvereinsmitgliedschaft nur noch aufgrund rationaler Nutzenabwägungen aufrechterhalten werde; Mitglieder treten dann „gewissermaßen als Kunden auf und nehmen konkrete Dienstleistungen des Vereins im Bereich der Sportausübung in Anspruch“, wie Cachay (1988: 228) schon in den 1980er Jahren formulierte. In dieser Argumentationsrichtung stellt sich dann auch die persönliche Entscheidung für ein freiwilliges und ehrenamtliches Engagement im Sportverein als ein Abgleich von Leistungsbilanzen dar: Ob, wie, wo, wann und wie lange man sich engagiert, werde auf der Basis einer Kosten-Nutzen-Kalkulation entschieden. Seine Zeit und sein Wissen stelle man so lange unentgeltlich zur Verfügung, solange sich die individuellen Erwartungen und Ansprüche erfüllten und sich durch das eigene Engagement Vorteile erzielen ließen, die bei nicht kooperativem Handeln unerreichbar blieben (vgl. z.B. Horch 1983, 1992). „Der Business Talk hat längst Einzug gehalten in die Welt der Vereine, die eigentlich keine mehr sind“, kritisiert Zimmer (2012: 286); denn „‚in‘ ist ein zeitlicher absehbarer und genau kalkulierbarer ‚Return on Social Investment'“ (Zimmer 2012: 286).

Struk­tu­reller Wandel im Engagement

Vor diesem Hintergrund wird in der Engagementforschung ebenso wie in gesellschaftspolitischen Engagementdebatten seit einigen Jahrzehnten die These von einem „Strukturwandel des Ehrenamts“ im Kontext des gesellschaftlichen Wertewandels herausgestellt (vgl. z.B. Beher et al. 2000; Braun 2001; Olk 1987). Diese These von einem Wandel vom „alten“ zum „neuen Ehrenamt“ lässt sich anhand folgender Merkmalstypisierungen veranschaulichen:  Einerseits würden an die Stelle einer länger- oder gar langfristigen Bindung an eine spezielle Trägerorganisation wie z.B. einen bestimmten Sportverein temporäre und projektbezogene Engagements in variablen sozialen Kontexten und Formaten treten. Andererseits würde die milieugebundene und langfristige Vereinssozialisation durch biografische Passungen überlagert werden, bei der Motiv, Anlass und Gelegenheitsstrukturen für ein Engagement zusammenpassen müssten. Drittens trete an die Stelle des selbstlosen Opfers für einen Verband bzw. Verein der Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung. Viertens würde die Vorstellung von der Unentgeltlichkeit eines Engagements immer weitreichender mit der Erwartung an eine materielle Gegenleistung in Form von Aufwandsentschädigungen oder Honorarzahlungen konfrontiert werden. Und schließlich trete an die Stelle der ehrenamtlichen Laientätigkeit die Erwartung an Professionalität im eigenen Engagement verbunden mit adäquaten Qualifizierunsgsmöglichkeiten (vgl. Baur/Braun 2000; Braun 2017).

Versucht man diese Merkmalstypsierungen zusammenzufassen, dann kann man sagen, dass der Typus des neuen Ehrenamtlichen primär nach dem persönlichen Nutzen, Wert und Sinn seines Engagements fragt, während der alte Ehrenamtliche aus einer verinnerlichten Gewohnheit heraus agiert und seine Handlungen primär an den spezifischen Strukturen und Bedarfen eines Sportvereins ausrichtet. Zwar sind die damit verbundenen vielschichtigen Annahmen über einen Strukturwandel des Ehrenamts im Sportverein im Speziellen und im Feld des Sports im Allgemeinen auf empirischer Ebene bislang nicht differenzierter belegt worden, da u.a. empirische Langzeitstudien fehlen, die diesen Wandel fassen könnten. Sollten diese Annahmen aber zumindest partiell die Realität eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels abbilden, dann dürfte das rational motivierte Handeln den Typus des neuen Ehrenamtlichen voraussetzungsvoller machen, um ihn für ein Engagement in den etablierten Strukturen des Sportvereinswesens zu gewinnen und ihn dauerhaft daran zu binden.
Folgt man dieser Argumentationsfigur, dann können gerade die traditionellen Verbände mit ihrem lebensweltlich gebundenen Vereinswesen nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie früher auf die frühzeitig sozialisierte und langjährig eingespurte „Vereinskarriere“ als Modus der Gewinnung und Bindung von ehrenamtlichem und freiwilligem Engagement vertrauen (vgl. z.B. Braun 2017). In Reaktion darauf scheinen sich immer mehr Verbände und Vereine dazu gezwungen zu sehen, „Leistungen an Nichtmitglieder im Einzelhandel abzugeben und um der Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit willen auf das Zustandekommen formalisierter unspezifischer Dauerbindungen (‚Mitgliedschaft‘) als Voraussetzung der Nutzung von Vereinsleistungen zu verzichten“ (Streeck 1999: 232). Zugleich lassen sich die weitaus weniger institutionalisierten Beteiligungs- und Engagementformate in anderen Sportsettings so interpretieren, dass sie gerade einen Reflex auf die geschwächte „Moral- und Ideologiefähigkeit des vorhandenen Institutionensystems“ (Streeck 1999: 229) darstellen.

Diese Formate setzen nämlich an die Stelle affektiv aufgeladener Mitgliedschaften, die vielfach mit einer „generalisierten und unspezifischen Loyalitätsverpflichtung“ (Streeck 1999: 229) gegenüber organisierten Gemeinschaftsstrukturen einhergehen, „institutionell ungebundene Moralsubstitute“ (Streeck 1999: 229) in eher spontaneren, temporär inszenierten und wenig formalisierten Gruppen und Netzwerken einer sich ausdifferenzierenden Sportkultur. Zahlreiche Bewegungen im Feld des Sports, die ihre Mobilisierungskraft aus Netzwerken moderner Medienvielfalt zu ziehen scheinen (von Laufbewegungen über Trend-, Fitness- und Gesundheitssport bis hin zu onlinebasierten Strukturen wie e-Sport), kann man auch so interpretieren, dass quer durch die gesellschaftlichen Großgruppen die Loyalität gegenüber organisierten intermediären Großverbänden im Feld des Sports abgenommen hat. Zugleich hat auch das Selbstorganisationspotenzial von Bürgerinnen und Bürgern an Effektivität und Effizienz sowie an gesellschaftlichem Einfluss gewonnen, was sich auch im Feld des Sports dokumentiert.

Selbst­or­ga­ni­sa­tion in Sport­ver­einen

In diesem Sinne könnten die systematische Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung von Gelegenheitsstrukturen für Engagement und Partizipation zentrale Elemente darstellen, damit sich Mitglieder auch an der Selbstorganisation der Sportvereine aktiv und kompetent beteiligen (können). Voraussetzung für die Selbstorganisation in Vereinen ist nämlich nicht nur, dass die Mitglieder durch ihre Zeit- und Wissensspenden Vereinsleistungen erstellen. Sie müssen auch in Prozessen und Strukturen der demokratischen Willensbildung und Entscheidungsfindung – von Diskussionen in geselligen Interaktionen bis hin zu formalen Mitgliederversammlungen – ihre Interessen artikulieren, immer wieder aufs Neue abstimmen und in Vereinszielen vereinbaren können (Baur/Braun 2000; Braun 2003a; Horch 1985, 1992; Nagel 2006).

Diese These verweist u.a. auf die vielfältigen Vorstellungen über Vereine als „Schulen der Demokratie“, die von Alexis de Tocquevilles vor rund 180 Jahren verfasstem Reisebericht über die Demokratie in Nordamerika (de Tocqueville 2001) über die sozialwissenschaftliche Forschung zur politischen Kultur moderner Gesellschaften (grundlegend Almond & Verba 1963) bis hin zur Sozialkapital-Forschung (Putnam 2000) reichen. Mitgliedschaften und Engagement in Vereinen werden dabei mit der Figur der „kompetenten Bürgerin“ bzw. des „kompetenten Bürgers“ verbunden, die bzw. der über kognitive, prozedurale und habituelle Kompetenzen verfügt (vgl. Münkler 1997), um in einem demokratischen Gemeinwesen sinnhaft, verständig und erfolgreich handeln und insofern mit den „Zumutungen der Demokratie“ (Buchstein 1996) umgehen zu können.

Argumentiert wird in diesem Kontext, dass in freiheitlich verfassten Gesellschaften ein „Bürgersinn“ zum Tragen kommen müsse, der sich im Engagement für allgemeine Aufgaben manifestiere, ein Engagement also, „bei dem – nach den Vorgaben einer Theorie individuellen Nutzenkalküls formuliert – individueller Aufwand und individuell nutzbarer Ertrag in keinem ökonomisch sinnvollen Verhältnis stehen“ (Münkler 2002: 30). In diesem Argumentationszusammenhang wurde in den letzten Jahrzehnten auch der Begriff der „Bürgertugend“ wiederbelebt und mit dem Begriff der „freiwilligen Selbstverpflichtung“ (Münkler 2002: 34) in ein aktuelleres Gesellschaftsverständnis übersetzt. Dieser Begriff macht bereits deutlich, dass es nicht nur um rechtliche Definitionen des Bürgerstatus geht, sondern auch um die Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger, um den damit verbundenen Status ausfüllen zu können. Und zu diesen Kompetenzen werden Elemente wie politische Partizipationsfähigkeit und Partizipationsbereitschaft, die Bereitschaft zu Solidarität oder Gemeinwohlorientierung zur Mehrung öffentlicher Güter gezählt (vgl. dazu ausführlich Münkler 1997; Putnam 2000).

In diesem Diskussionszusammenhang kommt der Vielzahl von lebensweltlich eingebundenen Vereinen im Allgemeinen und Sportvereinen im Speziellen eine maßgebliche Schnittstellen- bzw. Vermittlungsfunktion zwischen Individuum und Staat, privat und staatlich oder von Staat und Gesellschaft zu (vgl. dazu detailliert Schuppert 1997). Diese Vermittlungsfunktion hat Streeck (1999) als einen komplexen und institutionell zu leistenden Prozess beschrieben, der für das Zurücklegen des langen Weges vom Individuum zur Gesellschaft von elementarer Bedeutung sei. Und hier kann man fragen, inwieweit dazu in Sportvereinen adäquate Voraussetzungen existieren; denn die Beteiligung an der Selbstorganisation der Sportvereine bedarf anspruchsvoller institutioneller und auch zielgruppenspezifischer Arrangements, die kontinuierlich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen sind. Insoweit könnten die Weiterentwicklung von Partizipationschancen, einer entsprechenden Informationspolitik über Mitwirkungsmöglichkeiten und adäquater organisatorischer institutioneller Arrangements zentrale Elemente sein, damit sich Mitglieder an der Selbstorganisation der Sportvereine aktiv und kompetent beteiligen und um für (neue) Mitglieder attraktiv zu sein und zur Mitwirkung an der Selbstorganisationspraxis zu ermuntern. Solche Gelegenheitsstrukturen könnten auch – quasi als „Nebenprodukt“ – das „Sozialkapital“ der modernen Gesellschaft befördern, wie es der Politikwissenschaftler Robert D. Putnam (2000) nennt.

SEBASTIAN BRAUN   1971, Dr. phil. habil., Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, dort Leitung der Abteilung Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft und darüber hinaus der Abteilung Integration, Sport und Fußball am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Arbeitsgebiete: sportbezogene Forschung zu bürgerschaftlichem Engagement und Zivilgesellschaft, Verbänden und Vereinen, Integration und Sozialkapital sowie gesellschaftlichem Engagement von Unternehmen. EMail: braun@hu-berlin.de.

Literatur

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Baur, Jürgen/Braun, Sebastian 2001: Der vereinsorganisierte Sport in Ostdeutschland. Köln: Sport und Buch Strauß.

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