Publikationen / vorgänge / vorgänge 3/1970

Philo­so­phie­un­ter­richt statt Religi­ons­un­ter­richt. 8 Thesen

vorgängevorgänge 3/197003/1970Seite 108-109

Vorgänge 3/1970, S. 108-109

(vg) Dr. Joachim Kahl (Vorstandsmitglied der HU, Verfasser von „Das Elend des Christentums“; siehe seine Thesen über die Unwissenschaftlichkeit der Theologie in vg 12/69) hat der Humanistischen Union für ihren Verbandstag (Nürnberg, 4./5. April) „Acht Thesen zur Ersetzung des Religionsunterrichts durch Philosophieunterricht“ vorgelegt, die auch in dieser Zeitschrift zur Diskussion gestellt sein sollen.

1. Gemessen am Standard einer demokratischen Schule, die auf die Emanzipation der Schüler abzielt und sie zu kritischem Denken und rationalem Handeln erziehen will, er-weist sich der christlich-konfessionelle Unterricht als ein Fach, das sich weder politisch noch pädagogisch legitimieren läßt.

2. Formal die Agentur der Kirche in der Schule, das Relikt eines vordemokratischen Staatskirchentums, privilegiert der RU das Christentum, beschneidet die Lehrfreiheit des Lehrers und verletzt die Religionsfreiheit des Schülers.

3. Inhaltlich begünstigt der RU die Ausbildung autoritärer Charaktere, die an Glauben und Gehorsam gewöhnt sind (Abhängigkeit vom allmächtigen Vater, Menschen als Kinder oder Schafe).

4. Den RU aus der Schule zu verbannen, heißt nicht, das Christentum und die Religionen überhaupt zu ignorieren. An die Stelle des kirchlichen Fachs muß ein Philosophieunterricht treten, der auch religionswissenschaftlichen Problemen geöffnet ist.

5. Ein Fach „Religionskunde“, wie es die HU bisher empfohlen hat, bleibt als Alternative unzureichend, da es der scheinliberalen Fiktion von der Neutralität von Informationen aufsitzt und den Bereich des Nichtreligiösen, der Philosophie, begrifflich ausschließt.

6. Angeleitet durch die vier Fragen Kants „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ und aus-gehend von den Interessen der Schüler wer-den alle Probleme der Religionen, der Religionskritik und der Philosophie diskutiert.

7. Dieser Philosophieunterricht – als Zwillingsfach zum politischen Unterricht gedacht und mit diesem in einem zukünftigen Projektsystem verschmelzbar – ist nicht „neutral“, sondern ergreift bewußt und offen Partei für die menschliche Vernunft und deren Interesse an einer freien und gerechten Gesellschaft. Das Christentum und die anderen Religionen werden befragt, welchen Beitrag sie hierzu geleistet haben und leisten.

8. Dieser Reform im Curriculum der Schule muß eine Reform in der Universität entsprechen: die Transformation der theologischen Fakultäten in religionswissenschaftliche Fachbereiche sowie die Multiplikation der philosophischen Professuren. Nur wissenschaftlich ausgebildete Philosophielehrer können diesen Unterricht erteilen.

nach oben