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Die Humanis­ti­sche Union zur Rechts­s­taat­lich­keit des Verfahrens des Verfas­sungs­schutzes

aus: vorgänge Nr. 37 (1-1979), S. 113

Der Verfassungsschutz oder – vornehmer ausgedrückt – das „Bundesamt für Verfassungsschutz“ war schon zu Adenauers Zeiten für Nachdenkliche ein Stein des Anstoßes. Damals, in den fünfziger Jahren, hat es, denke ich zurück, getan, was Adenauer wollte. Es hat Leute diskriminiert, ohne daß diese Gelegenheit hatten, sich dagegen zu wehren. Adenauer machte mit seinem „Geheimdienst“, was er nur wollte. Heute ist das Verfassungsschutzamt eine Institution. Zwar schämt sich eine SPD/FDP-Koalition heute mehrundmehr, daß es diese Behörde überhaupt gibt; aber ihre Regierung geht mit der geschaffenen Einrichtung so um, als sei sie ein Ewigkeitswert, als könne auf sie ganzundgar nicht mehr verzichtet werden; als sei dieses „Amt“ eine Superinstitution über allen Regierungen und Gerichten.
Die Verfassungschutzberichte der letzten 5 Jahre sehen so aus, als müsse sich die Regierung – konkret: der jeweilige Innenminister — rechtfertigen dafür, daß es so dumme Verfassungsschutzberichte gibt. Wir wollen hier nicht die entsprechenden Äußerungen der von den jeweils regierenden Innenministern abgesegneten Berichte dokumentieren. Das Ergebnis wäre katastrophal.
Innenminister Gerhart Baum hat sich in den ersten 100 bis 200 Tagen seiner Amtszeit Verdienste erworben. Sein Vorwort zum Verfassungsschutzbericht 1977 ist allerdings inakzeptabel. Die Humanistische Union hat ihm am 6. Dezember 1978 Vorschläge gemacht, wie das Verfahren rechtsstaatlicher werden könnte. Hier ist der Brief:

Die Humanis­ti­sche Union zum Verfas­sungs­schutz­be­richt 1977

Betr.: „betrifft: Verfassungsschutz 1977″ Bezug: Schreiben von Prof Dr Helmut Gollwitzer und Prof Dr Wolf-Dieter Narr an die Mitglieder des Deutschen Bundestags vom 5.11.1978 (Frankfurter Rundschau, 17.11.78,4).

Sehr geehrter Herr Minister Baum,

wir bitten Sie um Verständnis, daß wir die oben erwähnte Einordnung des Sozialistischen Büros im Verfassungsschutzbericht 1977 zum Anlaß nehmen, Ihnen unsere Bedenken gegen solche verfassungsrechtlich nicht gedeckten Rubrizierungen zu unterbreiten…
Der Verfassungsschutzbericht 1977 läßt – wie andere Berichte dieser Art – nicht erkennen, in welchem Verfahren eine solche für die Betroffenen einschneidende Rubrizierung zustandekommt und welche Instanz innerhalb Ihres Ministeriums die vom Bundesamt für Verfassungsschutz vorgenommene Einordnung überprüft hat. Auch die Kriterien sind nicht durchsichtig, nach denen Organisationen oder bestimmte Aktivitäten (zB hinsichtlich der Durchführung eines Russell-Tribunals in der Bundesrepublik) Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht finden.
Der Bundesvorstand der Humanistischen Union ist der Auffassung, daß in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat kein Platz ist für Verrufserklärungen der Exekutive, die Staatsbürger oder Gruppen von Staatsbürgern unter Verwendung von Kriterien diskriminiert, die justitiabel sind. Die Verwendung solcher Kriterien in Verfassungsschutzberichten kann weder auf das Bundesverfassungsschutzgesetz noch auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29.10.1975 zum Verfassungsschutzbericht 1973 gestützt werden.

Wir bitten Sie daher, innerhalb Ihres Ministeriums eine Instanz zu schaffen, die darauf achtet, daß
1. in künftigen Verfassungsschutzberichten keine diskriminierenden   Rubrizierungen unter Verwendung von Kriterien vorgenommen werden, die von der Rechtsprechung aufgegriffen werden können,
2. die in solchen Berichten vorgenommenen politischen Bewertungen eindeutig auch als politische Einschätzungen deutlich gemacht werden und als solche erkennbar sind,
3. politische Bewertungen nicht ohne sorgfältigste und absichernde Prüfung vorgenommen werden bzw dadurch Zustandekommen, daß (wie bei der Bewertung des Sozialistischen Büros) Sätze aus dem Zusammenhang gerissen werden oder andere für das Verhältnis zum Grundgesetz zentrale Positionen unberücksichtigt bleiben (bei den Thesen des Sozialistischen Büros zB die Aussage, daß demokratische Freiheitsrechte „nicht taktisches Ziel nur, sondern Existenzbedingung sozialistischer Politik“ sind). Darüberhinaus schlägt der Bundesvorstand der Humanistischen Union vor, daß Sie eine gerichtsförmig arbeitende Widerspruchsstelle einrichten, bei der Beschwerden gegen die in Verfassungsschutzberichten vorgenommenen Einordnungen, Bewertungen und gegen Tatsachendarstellungen in einem öffentlichen Verfahren überprüft werden können.
Eine solche Kontrollinstanz ist nicht nur deshalb erforderlich, weil Gerichtsverfahren zeigen, daß Beamte des Verfassungsschutzes die in den Verfassungsschutzberichten vorgenommenen Einordnungen übernehmen; die Substanz der Bundesrepublik Deutschland als eines demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens ist bedroht, wenn Einwände gegen Tatsachenfeststellungen, Einordnungen und Rubrizierungen nicht vor einer öffentlich arbeitenden Instanz geltend gemacht werden können. Wir hoffen, daß wir bei Ihnen mit unseren Vorstellungen ein offenes Ohr finden und daß Sie aufgrund der Ihnen zustehenden Organisationsrechte unsere Vorschläge schon vor der Vorlage des nächsten Verfassungsschutzberichtes realisieren können. Zu einer Konkretisierung unserer Vorstellungen sind wir gern bereit.

Mit freundlichen Grüßen HUMANISTISCHE UNION

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