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Besondere Schranken der Presse­frei­heit von Großver­le­gern?

Aus: vorgänge Heft 4/1970, S. 134f

In den jüngsten Auseinandersetzungen um die den Meinungsmarkt stark beherrschende Stellung des Springer-Konzerns wurde auch die Frage aufgeworfen, ob man der Presse- und Gewerbefreiheit eines Großverlegers stärkere Schranken ziehen dürfe als der Meinungsfreiheit eines einzelnen Bürgers. Diese Frage soll hier auf der Grundlage einer vertiefenden Betrachtung sowohl des herkömmlichen Grundrechtsverständnisses als auch des Sinns von Grundrechtsschranken untersucht werden.
Eine vertiefende Betrachtung des herkömmlichen Grundrechts-Verhältnisses zeigt die Grundrechte als Rechte sozialer Minderheiten. Sie sind dies ebenso wie die tragenden Verfassungsprinzipien vom Vorbehalt und vom Vorrang des Gesetzes (der Verfassung) und ebenso wie Verfassungsstaatlichkeit und Gesetzesstaatlichkeit überhaupt sowie die Gerichtsweg-Generalklausel.
In die Rechte sozialer Minderheiten soll der Staat nicht unbegrenzt eingreifen (Freiheitsrechte, Abwehrrechte, sog. negativer Status), Minderheiten sollen von der Daseinsvorsorge nicht ausgeschlossen sein (soziale Grundrechte auf Leistungen des Staates, sog. positiver Status) und Minderheiten sollen auch wählen und abstimmen sowie sich mit Bitten, Beschwerden und Vorschlägen an den Staat wenden dürfen (Teilhabe-Grundrechte, politische oder staatsbürgerliche Grundrechte, sog. aktiver Status).
Von Minderheitenrechten wird dabei nicht in einem rein quantitativ-zahlenmäßigen Sinne gesprochen: Minderheit ist nicht einfach die geringere Zahl im Verhältnis zur zahlenmäßigen Mehrheit. Minderheit, das sind die politisch Schwächeren, welche die Staatstätigkeit ohne Inanspruchnahme von Grundrechten nicht beeinflussen könnten, weder begrenzend noch teilhabend. Die Minderheit, die Schwächeren, das ist die große Menge der Bürger als Einzelne und als Angehörige einflußschwacher Gruppen. Minderheit, das sind demgemäß nicht einflußstarke Einzelne oder Gruppen, also z. B. nicht diejenigen, die durch Finanzierung der Machthaber größten, wenn nicht maßgeblich bestimmenden Einfluß auf die Staatstätigkeit haben. Finanzierung der Machthaber gab es bekanntlich bei den Fuggern und anderen Bankiers und gibt es bei solchen auch heute; es gibt sie bei den großen Wirtschaftsverbänden mit ihren sog. Förderergesellschaften zur Parteienfinanzierung. Mitwirkung an der Macht geschieht auch durch psychische Einflußnahme auf den Willensbildungsprozeß, z.B. als einer der von Paul Sethe apostrophierten 200 reichen Leute, die in Ausübung des Grundrechts der Pressefreiheit nicht nur ihre Meinung äußern und verbreiten, sondern diese durch „veranlaßte“ Berichterstattung und Meinungsbildung auch zur Meinung großer Teile der Wähler und/oder jedenfalls zur Grundlage der Willensbildung der von einer wirklichen oder vermeintlichen Wählermeinung abhängigen aktiven Politiker machen können.

Für den Inhaber solcher politisch erheblichen gesellschaftlichen Macht besteht kein Bedürfnis nach abwehrendem, forderndem oder teilhabendem Grundrechtsschutz kraft sozialer
Minderheitsposition. Ein solches Bedürfnis besteht für ihn ebensowenig wie für den Inhaber hoheitlicher Rechtsmacht. Nähme ein solcher Machtinhaber gleichwohl Grundrechte in demselben Maße in Anspruch wie ein sozial Schwacher, so wäre seine vorgrundrechtliche Rechtsmacht oder/und gesellschaftliche Macht noch um die Macht vermehrt, die jedwede Grundrechtsberechtigung verleiht. Das wäre nicht nur grundrechts-sinnwidrig. Es widerspräche auch dem allgemeinen Gleichheitssatz, der jegliche Privilegierung verbietet, mithin auch die Privilegierung durch Anerkennung tatsächlich unterschiedlich starker und nur formal-rechtlich gleicher Grundrechtspositionen, und d.h. auch die Über-Privilegierung von Positionen gesellschaftlicher Macht durch Zuerkennung von Grundrechtspositionen, die nur noch in einem extrem formalen Sinne gleich den Grundrechtpositionen aller Bürger ohne solche Machtpositionen sind, weil diese ihre formal gleiche Grundrechtsberechtigung zum Erwerb eines Gewerbebetriebs überhaupt oder gar zum Aufbau eines Pressekonzerns tatsächlich nicht ausüben können.
Dies kann hier nur für die als Teilhabe-Grundrechte im aktiven Status zu verstehenden Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit näher ausgeführt werden. Hier besteht ein Unterschied zwischen einerseits der sozialen Teilhabemacht eines einzelnen Bürgers oder örtlichen Bürgerforums, welche die Regierungspolitik kritisch beobachten und mit Petitionen beeinflussen möchten, und andererseits der sozialen Teilhabemacht eines Presse-Großverlegers mit hohem nationalen, regionalen oder lokalen Verbreitungsanteil überhaupt oder für eine bestimmte Zeitungsgattung. Dieser hat schon kraft seiner gesellschaftlich-politisch dominierenden Rolle mehr Teilhabe als andere und er schließt in seiner Position und kraft ihrer andere von gleicher Freiheit und Teilhabe aus; sowohl seine konkurrierenden Verleger als auch die von ihm gegenwärtig oder womöglich zukünftig abhängigen Redakteure, Techniker und Händler sowie vor allem die Leser mit ihrem Grundrechtsanspruch auf eine Pluralität von Informationsquellen. Diese Machtposition würde noch gestärkt, jene Machtlosigkeit vertieft, Freiheit, Gleichheit und Demokratie mithin entscheidend geschwächt, wollte man unter dem Stichwort Pressefreiheit (und Gewerbefreiheit) jegliche Ausübung sozialer Pressemacht sanktionieren.
Deshalb kann der Inhaber politisch erheblicher gesellschaftlicher Pressemacht trotz formal gleicher Grundrechtssubjektivität im Ergebnis konkreter Grundrechtsanwendung nicht dieselbe Grundrechtsposition haben wie der Bürger ohne solche Macht. Theorie und Dogmatik der Grundrechtsschranken müssen ihn stärker eingrenzen als seine machtlosen oder mindermächtigen Mitbürger oder Mitbürgergruppen: Die Befugnisse zur konkreten Inanspruchnahme der Pressefreiheit muß je nach der sozialen Teilhabemacht unterschiedlich stark sein.
Sowohl vom Freiheits- wie vom Teilhabeverständnis muß sich der Inhaber politisch erheblicher gesellschaftlicher Macht stärkere Grundrechtsschranken auferlegen lassen als seine machtlosen Mitbürger. Wir müssen uns darüber klar sein, daß die Grundrechtsschranken nicht schlechthin Freiheitsbeschränkungen sind. Vielmehr stellen die gesetzlichen Schranken sozialer Macht zwar für den Träger solcher Macht Grundrechtsschranken dar, für die Adressaten seiner Machtausübung aber eröffnen sie reale Freiheitsräume. Das gilt nicht nur für das Eigentum, dessen Gebrauch bereits nach der Gewährleistungsschranke der ausdrücklichen Verfassungsbestimmung des Art. 14 II GG verpflichtend dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll. Insbesondere erhalten oder schaffen solche Schranken der Pressefreiheit eines Großverlegers der Informationsfreiheit seiner Leser einen Freiheitsraum, die ihm verbieten, seine Meinung mit den Mitteln emotional-affektiv-aufreizender Meinungsbeeinflussung und/oder Informationsverfälschung und/oder der rationalen Erzeugung eines irrationalen, vor- oder antidemokratischen Glaubens an Idee, Norm, Wirklichkeit oder Möglichkeit einer konfliktlosen heilen Welt in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbreiten.
Dieser Freiheitsraum der Leser durch Freiheitsbeschränkung der Schreiber hat unterschiedliches Gewicht, je nachdem die Leser das Gelesene im negativen oder im aktiven Status verwenden wollen und/oder sollen. Je mehr die Leser nicht nur private Meinungen [135] sondern öffentliche Meinung bilden und Staat und Gesellschaft gestalten sollen, je mehr sie also auf Inanspruchnahme aktiver Teilhaberechte angewiesen und hingeordnet sind, desto mehr müssen solche Rechte von Verlagen und Redaktionen beschränkt sein, welche die Leser an ihre Teilhabe aufgrund rational-diskursiver Willensbildung hindern können.

Zunehmende Hinordnung auf Inanspruchnahme aktiver Statusrechte ist aber vorrangiger Grundsatz nicht nur des Grundgesetzes, sondern vielfältiger staatsbürgerlicher Aktivität sowie vielfältiger Absichtserklärungen aus allen politischen Richtungen: Die hier untersuchte Frage steht im zeitlichen und sachlichen Zusammenhang verschiedenartigster und vielschichtigster Bestrebungen nach verstärkter Demokratisierung und Mitbestimmung, nach mehr Demokratie durch Mitbestimmung in Staat und Gesellschaft, nach einer endgültigen kritisch reflektierenden Abkehr vom obrigkeitsstaatlichen Prinzip akklamierter Oligarchien, die ihre Macht der Verknüpfung von bürgerlichem Informationsdefizit und darin begründeter Ansprechbarkeit für emotionale Aufreizung verdanken.
Diese vom Grundgesetz gebotene, es eigentlich erst erfüllende Entwicklung zu einem demokratischen Gemeinwesen verlangt auch eine ihr konforme Bestimmung von Grundrechtsschranken. Wer seine soziale Macht dafür einsetzt, sich jener Entwicklung entgegenzustellen, kann sich dafür nicht auf Teilhabe-Grundrechte, insbesondere die Pressefreiheit berufen. Denn diese sind von ihrer inhaltlichen und funktionellen Struktur her schon mit ihrer Gewährleistung durch das Demokratiegebot beschränkt. Wer Pressemacht dafür einsetzt, Informationen nicht zu verbreiten, sondern zu verkürzen und damit zu verfälschen, aus welchem politischen oder kommerziellen Interesse auch immer, steht damit schon von vornherein außerhalb der Pressefreiheit, weil diese nur die tendenziell wahre Information deckt.
Wer mit Nachrichtenverkürzung und damit Nachrichtenverfälschung noch dazu emotional-affektive Aufreizung verknüpft, geht darauf aus, die Entfaltung staatsbürgerlicher reflektierender Ratio nicht zu fördern sondern zu behindern, ja sogar das Mindestmaß von Ratio aus der Meinungs- und Willensbildung auszuschalten oder gar nicht erst aufkommen zu lassen, auf dem die Teilhaberechte von jeher aufbauen. Wer so handelt, dessen formale Pressefreiheits-Subjektivität muß schließlich hinter die durch sein Handeln vielfältig untergrabenen Rechte anderer zurücktreten : von den konkreten Grundrechten auf freie rationale plurale Information, auf freie rational begründete Meinungsbildung (für sich und als Grundlage der Vereinigungs-, Versammlungs-, Petitions- und Parteienfreiheit, des aktiven und passiven freien Wahlrechts) bis zu der allgemeinen Persönlichkeitsfreiheit und zur Menschenwürde. Dabei spielt es keine Rolle, auf welchem konstruktiv-demokratischen Wege diese Rechte-anderer-Schranken gezogen werden, ob über die ausdrückliche Rechte-anderer-Schranken in Art 2 I 2 GG, über die systematische Interpretation des Art. 5 I aus den genannten anderen Grundrechtsbedingungen und der Staatszielbestimmung des Art. 20 in Verb. mit 21 oder über eine Immanenztheorie.
Alle diese Grenzen der Pressefreiheit sind im Grunde Grenzen aus der Achtung vor dem Leser als Glied des souveränen Volkes, das zur Selbst- und Mitbestimmung berufen ist. Diese Grenzen erkennen zu helfen, bedeutet gleichzeitig einen Beitrag zum Abbau der Rechtsfremdheit in diesem Volke einschließlich seiner Journalisten, wie sie sich Anfang Februar etwa in der Formel äußerte, selbst ein infamer Journalismus sei noch kein Rechtsbruch. Man mag solche rechtsfremde Solidarisierungen dem Traum des Mißbrauchs von Pressefreiheitsschranken durch die Staatsmacht in Vergangenheit und Gegenwart zugute halten. Doch darf die Furcht vor diesem Mißbrauch von Staatsmacht gegen Presse, Leser-Bürger und Demokratie nicht blind machen für den Mißbrauch von Pressemacht gegen Leser-Bürger und Demokratie. Die Vorgänge der letzten Wochen sollten endlich Staat und Öffentlichkeit dazu veranlassen, nicht mehr Ruhe zu geben, bis die – wie dargelegt – durchaus vorhandene Theorie und Dogmatik zur Praxis eines Gesetzes zum Schutze freier Information und Meinungsbildung gedeiht.
Artikel 5 GG schützt nicht die Verfälschung von Nachrichten und nicht die Konzentration von Pressemacht in der Hand von Großverlegern, er ermöglicht vielmehr gesetzgeberische Maßnahmen zur Behebung solcher Gefahren.

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