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Die Inter­pre­ta­tion der Verfassung als Herrschafts­si­che­rung

Zu konservativen Umdeutungen des Grundgesetzes

Joachim Perels

Die Interpretation der Verfassung als Herrschaftssicherung

Zu konservativen Umdeutungen des Grundgesetzes

Das Problem der Interpretation demokratischer Verfassungen besteht, allgemein gesprochen, darin, das Verhältnis des Verfassungsrechts zu den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten zu bestimmen. Für autoritär organisierte Systeme existiert dieses Problem prinzipiell nicht, denn ihr rechtlicher, besser: technisch juristischer Funktionsmodus dient dazu, die bestehenden hierarchischen Strukturen in Ökonomie, Politik und Kultur zu stabilisieren, gesellschaftliche Alternativen und Wandlungsprozesse – Opposition im weitesten Sinne – in den Bereich der Illegalität zu verweisen. Sind in derartigen Systemen Herrschaftsordnung und Verfassungsvollzug identisch – von den Papierphrasen etwa entgegenstehender Verfassungstexte kann man absehen -, so zeichnen sich demokratische Verfassungen dadurch aus, daß zwischen den gerade bestehenden Machtlagen und den durch die Rechtsordnung verbürgten Freiheiten keine unmittelbare Einheit, sondern ein latenter bzw. offener Widerspruch besteht. Gesellschaftliche und politische Konflikte, die sich auf die Gestaltung der sozialen und staatlichen Ordnung beziehen, können unter dem Schutz der Legalität ausgetragen werden.

Auf dieses Organisationsprinzip demokratischer Verfassungen reagieren konservative Verfassungsinterpretationen in spezifischer Weise. Grob gesagt tendieren sie dazu, die Ausdrucksformen sozialer und politischer Gegensätze an den Rahmen des Status quo der bürgerlichen Gesellschaft zu binden. Das geschieht im wesentlichen durch zwei aufeinander bezogene Argumentationsmuster. Zum einen wird der Staatsapparat mit zusätzlichen Kompetenzen und Sanktionsmitteln ausgestattet, durch die Freiheitsrechte und der durch sie garantierte offene demokratische Prozeß dem Vorbehalt unterworfen werden können, mit den politischen Interessen des Staatsapparats vereinbar zu sein. Zum anderen werden die gesellschaftlichen Grundlagen, vor allem die Wirtschaftsordnung, mit dem Verfassungsrecht in derWeise identifiziert, daß allein das ökonomische System der sogenannten sozialen Marktwirtschaft verfassungsmäßig sei.

I.

Das Grundgesetz und die Marktwirtschaft

Die These, daß das Grundgesetz eine privatwirtschaftliche Ordnung gebiete, wurde zuerst Mitte der 50er Jahre von dem späteren Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, H. C. Nipperdey, formuliert. In einer repräsentativen Veröffentlichung Nipperdeys heißt es: „Mit der Gewährleistung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art 2 I) auf sämtlichen Gebieten des menschlichen und somit in einer ihrer Erscheinungsformen auch auf dem Gebiet des gewerblichen, des wirtschaftlichen Lebens ist für den wirtschaftlichen Bereich das wesentliche Lebenselement der Markt-(Wettbewerbs-)Wirtschaft zum Verfassungsbestandteil gemacht“[1].

Zwar ist diese schlichte Auslegung des Art 2 GG, für die, nebenbei bemerkt, das Problem der freien Entfaltung der abhängig Arbeitenden, immerhin die große Mehrheit der Bevölkerung, gar nicht auftaucht, nicht allgemein akzeptiert worden. Dennoch wird die grundsätzliche Position der ldentifikation von Verfassungsordnung und kapitalistischer Gesellschaft von den Hauptvertretern konservativer Staatsrechtslehre nach wie vor vertreten. Klaus Stern, gegenwärtig Vorsitzender der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und Verfasser eines voluminösen Kompendiums zum Staatsrecht der Bundesrepublik, geht davon aus, daß die kapitalistischen Strukturen dem Grundrechtssystem inhärent seien, so daß man von einer „gesamtverfassungsrechtlichen Freiheitsentscheidung“ zugunsten der marktwirtschaftlichen Ordnung sprechen müsse[2]. Ulrich Scheuner, nach wie vor wirkungskräftige Figur der älteren Generation der bundesdeutschen Staatsrechtslehrer,konstatiert in einer jüngst erschienenen Arbeit, daß in einer pluralistischen Demokratie „auseinandergehende Auffassungen über die Fundamente der Sozialordnung“ existierten, die der Aufgabenstellung der Verfassung, „den dauerhaften Grundkonsens der Bürger zu begründen“, widersprächen: „Dem Bestand der politischen Ordnung dient die Verfassung… dadurch, daß sie zugleich bestimmte Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung festigt. Sie stärkt damit den Grundkonsens, indem sie die grundlegende Orientierung des Staates auch oberhalb bestehender sozialer Konflikte festlegt“[3].

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Position von Ernst-Wolfgang Böckenförde, wohl der gedanklich reflektierteste Kopf im Mehrheitspektrum der gegenwärtigen Staatsrechtslehre. Böckenförde konzediert auf der einen Seite, daß die privatwirtschaftliche Ordnung von der Verfassung nicht festgeschrieben ist. Er trägt seine Argumente gegen die Aufhebung des kapitalistischen Wirtschaftssystems ausdrücklich nicht als verfassungsrechtliche, sondern als verfassungspolitische vor[4], um in demselben Aufsatz, in dem er gerade diese Feststellung getroffen hat, am Ende doch zu behaupten, Änderungen der – als „institutionalisierte(r) Klassenkompromiß“ zu beschreibenden – gesellschaftlichen Machtverteilung seien allein dann zulässig, wenn sie von den Kräften, die den Klassenkompromiß tragen, gemeinsam vorgenommen würden: „Das System des Kompromisses muß vor einseitiger, das heißt nicht ein-vernehmlicher Systemveränderung gesichert sein, auch im Bewußtsein der Beteiligten“[5]. Damit wird für Änderungen der gesellschaftlichen Struktur das demokratische Mehrheitsprinzip suspendiert und durch korporative Zwangsmechanismen ersetzt.

Gegen die seit der ersten Restaurationsphase vom Beginn der 50er Jahre bis heute in der Stoßrichtung unveränderten konservativen Versuche, die bürgerliche Gesellschaft verfassungsrechtlich mit Ewigkeitsrang auszustatten, stehen wesentlich zwei Argumente. Sie beziehen sich auf den Verfassungstext und auf den historischen Prozeß der Entstehung des Grundgesetzes. Diese Argumente sind so alt wie das Grundgesetz selbst. Angesichts der fortdauernden und zuweilen geradezu dreisten Umdeutungen der Verfassung müssen sie weiter vorgetragen werden.

Der Verfassungstext, der auch Staatsrechtslehrern gelegentlich zur Lektüre zu empfehlen ist, enthält bekanntlich in Art15 GG ausdrücklich die Möglichkeit, die Grundlagen des privatwirtschaftlichen Systems im Wege eines einfachen Gesetzes, das mit parlamentarischer Mehrheit beschlossen wird, zu verändern und in eine Ordnung gesellschaftlicher Demokratie zu verwandeln. Eine weitere Norm, die der konservativen Umwandlung des Grundgesetzes in ein Statut zur Festschreibung der ökonomischen Fremdbestimmung der Lohn-abhängigen entgegensteht, ist die in Art 20 Abs 1/ Art 28 Abs 1 GG niedergelegte Sozialstaatsklausel. In ihr wird die Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Rechtsstaat definiert. Neben der Garantie der, soziale Sicherheit verbürgenden Leistungsverwaltung hat dieser Rechtsgrundsatz die besondere Funktion deutlich zu machen, daß die sozialen Grundlagen des Rechtsstaates im Gegensatz zum liberalen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts nicht mehr als naturwüchsige Gegebenheit hingenommen werden, sondern prinzipiell zur Disposition des demokratischen Entscheidungsprozesses gestellt sind[6].

Daß diese Normen im Grundgesetz enthalten sind, beruht hauptsächlich darauf, daß die Sozialdemokratie als wesentlicher politischer Faktor an der Konzipierung und Formulierung des Grundgesetzes beteiligt war. Die Sozialdemokratie hatte aber 1948/49 das Ziel, die bürgerliche Eigentumsordnung durch eine demokratische Vergesellschaftung zentraler ökonomischer Eigentumspositionen zu überwinden. Das Grundgesetz konnte vom Parlamentarischen Rat nur dann verabschiedet werden, wenn diese politische Zielsetzung der Sozialdemokratie (und, wie man hin-zufügen kann, der Gewerkschaften) vom Grundgesetz prinzipiell gedeckt wurde. Daher werden die Legalitätsgarantien für den Übergang zum Sozialismus durch die Normierungen der Art 15, 20 Abs 1 und 28 Abs 1 GG im Grundgesetz verankert. Ein weiterer verfassungsgeschichtlicher Gedanke kommt hinzu. Der Gehalt der Formel vom sozialen Rechtsstaat war in der Sozialdemokratie wesentlich durch deren Verfassungsjuristen der Weimarer Republik vorgeformt worden. Neben Hermann Heller ist hierbei besonders Franz Neumann zu nennen; er war in der Endphase der Weimarer Republik, bis zu seiner Ausbürgerung durch die Nazis Anfang Mai 1933, Syndikus des Vorstands der SPD. Franz Neumann hatte die Formel vom sozialen Rechtsstaat 1930 in einer Weise interpretiert, die auch für die Gedankenwelt der Nachkriegssozialdemokratie bestimmend blieb. Das Ziel des sozialen Rechtsstaats sei, schrieb Neumann, „die Verwirklichung der sozialen Freiheit.Soziale Freiheit bedeutet, daß die Arbeiterschaft ihr Arbeitsschicksal selbst bestimmen will, daß die Fremdbestimmung der Arbeit durch die Befehlsgewalt des Eigentümers an den Produktionsmitteln der Selbstbestimmung weichen muß“[7].

Es wäre nun freilich ein Mißverständnis, mit der Kritik an der konservativen Interpretation des Grundgesetzes solle zugleich eine „linke“ Verfassungsinterpretation propagiert werden. Denn eine Verfassungsinterpretation, die den Text und die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ernst nimmt,. verfährt mit konservativen Positionen nicht in der Form einer einfachen Negation, etwa derart, die bürgerliche Eigentumsordnung sei verfassungswidrig.

Demokratische Verfassungsinterpretation zeichnet sich allein dadurch aus, daß sie die demokratischen Regelungsformen und Freiheitsgarantien prinzipiell zur Richtschnur wählt und sie nicht dort enden läßt, wo politische und gesellschaftliche Besitzstände in Gefahr geraten. Das bedeutet, daß die Verfassung nicht zum politischen Kampfinstrument zur Illegalisierung des politischen und gesellschaftlichen Gegners umfunktioniert wird, sondern als ein Rahmen interpretiert wird, in dem die verschiedenen konservativen, liberalen und linken Kräfte ihre Ziele artikulieren und durchsetzen können, wenn sie sich an die verfassungsrechtlichen Regeln halten[8].

Vorzuwerfen ist der konservativen Interpretationsrichtung, daß sie die von ihr vertretenen politischen Ziele, insbesondere die Sicherung der privatkapitalistischen Ordnung, als verfassungsrechtlich allein mögliche ausgibt und damit ein breites Spektrum politischer Kräfte, zu denen Teile der Gewerkschaftsbewegung, Gruppen in der SPD und links von der SPD gehören, aus dem legalen Handlungsbereich zu verdrängen sucht. Hätte dieser Versuch Erfolg, so wäre der offene und kontroverse demokratische Prozeß zerstört und die Verfassung zum Anhängsel der Herrschaftsinteressen ökonomischer Machteliten herabgesunken.

II.

Das Grundgesetz und die Staatsräson

Der zweite große Problembereich, der sich auf das Verhältnis des Staatsapparats zu den politischen Freiheitsrechten bezieht, wird von konservativen Verfassungsinterpretationen tendenziell so bestimmt, daß sich die grundrechtlichen Schranken für die öffentliche Gewalt zugunsten zusätzlicher Kontrollkompetenzen exekutiver, aber auch judikativer Instanzen verschieben. Eines der wichtigsten interpretatorischen Instrumente hierfür sind – das haben die Arbeiten von Ulrich K. Preuß, Helmut Ridder, Erhard Denninger, Friedrich Müller und Jürgen Seifert gezeigt[9] – die sogenannten Verfassungsprinzipien, die unter verschiedenen Begriffstiteln – objektive Wertordnung, Einheit der Verfassung, streitbare Demokratie, Schutz der Verfassung, Gerechtigkeit etc. – auftreten. Diese sogenannten Verfassungsprinzipien werden zumeist zu dem Zweck konstruiert, verfassungsgesetzlich eindeutig normierte Freiheitsgarantien durch eine Über-Legalität zu begrenzen, hinter der sich in Wahrheit die jeweiligen politischen Interessen des Staatsapparats verbergen. So wird z.B. in der überwiegenden Zahl der Entscheidungen zur Frage des Zugangs sogenannter Radikaler zum öffentlichen Dienst[10] die Formel von der streitbaren Demokratie gerade nicht auf die konkreten verfassungsgesetzlichen Tatbestände der Verwirkung der Grundrechte (Art 18 GG), des Vereinsverbots (Art 9 Abs 2 GG) und des Parteiverbots (Art 21 Abs 2 GG) beschränkt, sondern zur allgemeinen Geltungsnorm überhöht, die den einzelnen Freiheitsrechten entgegengesetzt werden kann. Damit ist inhaltlich Interventionen des Staatsapparats in den Bereich freier Kommunikation und Aktion, entgegen den grundrechtlichen Garantien der Verfassung, prinzipiell der Weg gebahnt.

Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Auswirkungen dieser Interpretationsformen auf den Geltungsgrad der politischen Freiheitsrechte im einzelnen systematisch zu überprüfen. Zwei Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gleichheitssatz und zur Gewissensfreiheit müssen an dieser Stelle genügen.

Im Radikalen beschluß des Bundesverfassungsgerichts findet sich eine Argumentation, die das Prinzip des sogenannten Schutzes der Verfassung als Instrument gegen das in Art 3 Abs 3 GG normierte Diskriminierungsverbot („Niemand darf wegen … seiner … politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“) einsetzt. Im Rahmen der Treuepflicht der Beamten, sagt das Bundesverfassungsgericht, gelte dies Differenzierungsverbot „nicht absolut“: nur bezweckte Benachteiligungen und Bevorzugungen, nicht aber solche, die die Folge einer ganz anders intendierten Regelung – wie etwa der Schutz der Verfassung – seien, verstießen gegen Art 3 Abs 3 GG[11]. Im Klartext: Benachteiligungen wegen politischer Anschauungen, die den Schutz der Verfassung intendieren, sind zulässig, weil die politische Diskriminierung nur als unbeabsichtigte Nebenfolge hinzutritt. Abgesehen davon, daß die Diskriminierung bestimmter politischer Anschauungen die notwendige Form des sogenannten Schutzes der verfassungsmäßigen Ordnung ist und ihn nicht als unbeabsichtigte Nebenfolge gleichsam zufällig begleitet, bedeutet dies, daß das Diskriminierungsverbot einem durch die öffentliche Gewalt aktualisierbaren Vorbehalt unterstellt wird, der es im konkreten Fall außer Kraft setzen und damit in ein Gebot verwandeln kann, gerade an politische Anschauungen staatliche Ungleichbehandlungen zu knüpfen. Das Ergebnis ist paradox genug: Der Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung geschieht dadurch, daß sie von der öffentlichen Gewalt um einen wesentlichen Bestandteil verkürzt wird: um den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 3 als einer Garantienorm für die Freiheit der verschiedenen politischen Anschauungen.

In der Wehrdienstentscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird ebenfalls ein sogenanntes Verfassungsprinzip, nämlich die Wehrgerechtigkeit, konstruiert, durch das verfassungsgesetzliche Freiheiten zusätzlichen obrigkeitlichen Ein-griffen zugänglich gemacht werden. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Abschaffung des Verfahrens, Wehrdienstverweigerer einer staatlichen Gewissensprüfung zu unterziehen, für verfassungswidrig, weil mit dieser Regelung der allgemeine Gleichheitssatz – alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich – verletzt würde: Als Inhalt des Gleichheitssatzes erscheint in diesem Falle die sogenannte staatsbürgerliche Pflichtengleichheit bzw. Wehrgerechtigkeit, die darin bestehe, daß jeder Wehrpflichtige grundsätzlich Wehrdienst zu leisten habe. Diese Pflichtengleichheit werde verletzt, wenn derjenige, der den Wehrdienst verweigere, sich durch eine einfache Erklärung seiner Verpflichtung entziehen könne, ohne daß sicher-gestellt sei, daß er zum Ersatzdienst einberufen werde. Gegenüber der Wehrpflicht bilde das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung nach Art 4 Abs 3 GG eine Ausnahme, die nur dann gerechtfertigt sei, wenn diejenigen, die das Grund-recht in Anspruch nähmen, einer vorgängigen Überprüfung ihres Gewissens unterworfen würden[12]. Damit verwandelt sich der allgemeine Gleichheitssatz in einen als Pflichtengleichheit firmierenden Staatswohlvorbehalt, der die Gewissensfreiheit, die die Vielgestaltigkeit von Überzeugungen gewährleistet, zugunsten einer einheitlichen staatlichen Pflichtauffassung zurücktreten läßt. Das in Art 4 Abs 3 GG geschützte abweichende Gewissen des Kriegsdienstverweigerers wird durch die Vorschaltung des angeblichen Verfassungsprinzips der Wehrgerechtigkeit diskriminiert, denn dem abweichenden Gewissen wird im Gegensatz zum konformierenden Gewissen zu-gemutet, sich zusätzlich zu legitimieren[12]a.

III.

Die konservative Tradition in der Staatsrechtslehre

Um die Gründe für die Ausbildung und Wirksamkeit konservativer Interpretationsformen der Verfassung ans Licht zu bringen, bedürfte es einer eigenen Untersuchung. Einige stichwortartige Erklärungsmomente bieten sich gleichwohl an.

Gewichtig ist zunächst die Mehrheitstradition der deutschen Staatsrechtslehre, die sich von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik, nicht zuletzt dank bemerkenswerter personeller Kontinuitäten, erhalten hat. Diese Tradition bewahrt ein weitgehend vor-demokratisches Begriffsgefüge; dessen Kern darin besteht, der verfassungsrechtlich garantierten Sphäre des politischen Prozesses und der gesellschaftlichen Konflikte eine hiervon vorgeblich abgehobene staatliche Apparatur überzuordnen. Die praktische Bedeutung eines derartigen begrifflichen Instrumentariums liegt darin, daß es aufgrund der Vorherrschaft konservativer Staatsrechtler an den juristischen Fakultäten der Bundesrepublik die Denkweise des administrativen und judikativen Personals der öffentlichen Gewalt in weitem Maße prägt.

Zum zweiten verbirgt sich hinter der konservativen Juridifizierung gesellschaftlicher und politischer Streitgegenstände ein besonderes Legitimationsproblem. Weil soziale und staatliche Hierarchien im offenen Meinungskampf mit Begründungsschwierigkeiten konfrontiert sind, liegt es nahe auf juristisch drapierte Begründungen zurückzugreifen, denen eine stärkere Legitimationswirkung zukommt, da sie mindestens potentiell mit dem Schwert der Sanktion versehen sind. Überhaupt lassen sich partikulare Herrschaftsinteressen, die in der argumentativen Kontroverse als solche hervortreten würden, in der scheinbar allgemeinen Form juristischer Deduktionen leichter darstellen.

Schließlich sind die konservativen Interpretationen der Verfassung als Reaktionsformen auf Gefährdungen des gesellschaftlichen Status quo zu begreifen. Diese Einsicht bestimmt nicht umsonst das gesamte Werk Carl Schmitts, des scharfsinnigsten Kopfes konservativer Verfassungstherorie: Als „Leichengift“[13] denunziert er eine demokratische Verfassung wie die von Weimar, weil sie – nicht anders als das Grundgesetz – die gesellschaftlichen Grundlagen prinzipiell zur Disposition des demokratischen Entscheidungsprozesses stellt. Um diese Möglichkeit zu blockieren, wird nun stets der Versuch unternommen, das Grundgesetz in ein geschlossenes System objektiver Ordnungen zu verwandeln, in dem die Komplementärfunktionen demokratischer Oppositionsfreiheiten, die Tugenden des „Opfers“ und des „Dienstes“[14], verpflichtend sind.

Daß die Propagierung restaurativer ldeologien nicht mit der Auslegung des Grundgesetzes verwechselt wird, sondern als Amputation der Verfassung kenntlich bleibt, ist eine Voraussetzung dafür, die politischen Freiheiten in der Bundesrepublik zu schützen.

[1] H. C. Nipperdey, Freie Entfaltung der Persönlichkeit (1962), abgedruckt in E. Denninger (Hg), Freiheitliche demokratische Grundordnung Bd I, Frankfurt am Main 1977, S 256.

[2] K. Stern; Von den Bedingungen der Freiheit (1973), ab-gedruckt in: E. Denninger, aa0, S 286f.

[3] U. Scheuner, Die Funktion der Verfassung für den Bestand der politischen Ordnung, in: W. Hennis, U. Matz, P. Graf Kielmannsegg (Hg), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Bd II, Stuttgart 1979, S 121, S 127, S 129.

[4] E.-W. Böckenförde, Die politische Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie, in: W. Hennis, U. Matz, P. Graf Kielmannsegg (Hg), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Bd I, Stuttgart 1977, S 241f.

[5] E.-W. Böckenförde, ebd, S 253f, Hervorhebung von mir.

[6] Vgl hierzu zuletzt W. Abendroth, Über den Zusammenhang von Grundrechtssystem und Demokratie, in: J. Perels (Hg), Grundrechte als Fundament der Demokratie, Frankfurt 1979, S 255 f.

[7] F. Neumann, Die soziale Bedeutung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung (1930), in: ders, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954, hg von A. Söllner, Frankfurt am Main 1978, S 70. Zur Position von Franz Neumann s auch J. Perels, Demokratischer Marxismus als theoretisches und politisches Programm, Vorgänge 43 (dieses Heft, Teil „Kritik“).

[8] Vgl J. Seifert, Haus oder Forum. Wertsystem oder offene Verfassung, in: J. Habermas (Hg), Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘, Bd I, Frankfurt am Main 1979, S 321 ff; J. Perels, Die Grenzmarken der Verfassung. Sicherung gesellschaftlicher Machtverhältnisse oder Rahmenregelung des demokratischen Prozesses?, Kritische Justiz 4/1977, S 375ff.

[9] U. K. Preuß, Legalität und Pluralismus, Frankfurt am Main 1973; H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975; E. Denninger, Freiheitsordnung-Wertordnung-Pflichtordnung, in: M. Tohidipur (Hg), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, Frankfurt am Main 1976, S 163ff; F. Müller, Die Einheit der Verfassung, Berlin 1979; J. Seifert, Haus oder Forum, aa0.

[10] Zu Einzelfällen siehe H. Knirsch, B. Nagel, W. Voegeli, „Radikale“ im öffentlichen Dienst?, Frankfurt am Main 1973, S 153ff; 3. Internationales Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland, Dokumente, Verhandlungen, Ergebnisse, Bd I, Berlin 1978, S 28ff; P. Koch/R. Oltmanns, SOS. Freiheit in Deutschland, Ein Stern-Buch, Hamburg 1978, S 145ff; zur juristischen Argumentation s BVerfGE 39, S 334ff, ins-besondere Leitsatz 2; kritisch hierzu auch der ehemalige Generalbundesanwalt und CDU-Bundestagsabgeordnete M. Güde in seinem Beitrag: Die Verwirrung unseres Staatsschutzrechts, in: M. Güde, L. Raiser, H. Simon, C. F. v. Weizäcker, Zur Verfassung unserer Demokratie. Vier republikanische Reden, Reinbek 1978, S 7ff, insbesondere S 29ff.

[11] BVerfGE 39, S 368.

[12] BVerfGE 48, S 127ff, insb Leitsatz 6,7 und 9 sowie S166-169. 12a Zur Kritik vgl auch das Sondervotum von Hirsch, ebd S 186ff, insb S 188-190.

[13] C. Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, Hamburg 1934, S 47.

[14] Vgl U. Scheuner, Die Funktion der Verfassung.. . aa0 S 111. In dem resignierenden Ton, in dem vom Entschwinden der „ethischen Positibnen“ (ebd) des Opfers und des Dienstes gesprochen wird, klingt die Forderung, sie wieder aufzurichten, unüberhörbar durch.

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