Publikationen / vorgänge / vorgänge 5/1968

Appell der HU vor der zweiten Lesung der Notstands­ver­fas­sung

vorgängevorgänge 5/196805/1970Seite 164-165
von vg

Aus: vorgänge Heft 5/ 1968, S. 164-165

Der Bundestag soll am 15. Mai über den neuen Notstandsverfassungsentwurf des Rechts- und Innenausschusses entscheiden. Dieser Ausschußentwurf beruht aber keineswegs auf den in der Öffentlichkeit bekannten und diskutierten Gesetzesvorlagen, sondern auf einer in wesentlichen Fragen völlig neuen Konzeption, welche die Bundesregierung hinter verschlossenen Türen ausgehandelt und ohne vorherige Beratung durch Bundestag und Bundesrat den Ausschußmitgliedern als sogenannte „Formulierungshilfe” unterbreitet hat.

Der Bundesvorstand der HU hält eine solche Verfahrensweise für einen Verstoß gegen die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Er warnt die Volksvertreter davor, einen so zustandegekommenen Entwurf ohne ausreichende und öffentliche Diskussion zu verabschieden.

Vor allem die folgenden Einzelheiten dieses Entwurfs geben zu schweren Bedenken Anlaß:

1. Der neue Entwurf verschleiert in der Frage der Dienstverpflichtung, des Arbeitsplatzwechselverbotes und der Anwendung der sogenannten einfachen Notstandsgesetze die politische Machtentscheidung. Die Entscheidung über den Notstand bleibt hier letztlich weiter die Stunde der Exekutive.

2. Die Notstandsgesetzgebung begründeten ihre Befürworter häufig mit der Gefahr, daß die Alliierten in Ausnahmezuständen Notstandsvollmachten an die Bundesregierung delegieren könnten. Der neue Entwurf verlegt die Möglichkeit einer solchen Delegierung einfach von den Alliierten auf „ein internationales Organ”, das heißt auf die NATO und schließt für diesen Fall ausdrücklich jede parlamentarische Kontrolle aus.

3. Der neue Entwurf möchte das durch die öffentliche Diskussion unabweisbar gewordene Widerstandsrecht umfunktionieren zu einem Instrument gegen innere „Notstände”: Dieses Recht war bisher stets im Hinblick auf verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt gefordert worden. Der Entwurf verkehrt es in ein Recht, jeder Behinderung eines Verfassungsorgans (also auch durch Streiks, Demonstrationen etc.) entgegenzutreten. Ein bisher von unten nach oben gerichtetes Recht soll umgedreht werden zu einem Recht, das „Selbstjustiz” rechtfertigen könnte.

4. Der neue Entwurf schafft den Geheimdiensten und Verfassungsschutzämtern die Möglichkeit einer allgemeinen Post- und Telefonkontrolle ohne gerichtliche Nachprüfung. Die Grundlage des Rechtsstaats: der lückenlose Rechtsschutz des Bürgers gegenüber der öffentlichen Gewalt wäre damit hinsichtlich der Vertraulichkeit des privat gesprochenen oder geschriebenen Worts beseitigt. Der Bundestag hat keine Berechtigung, einen solchen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention in das Grundgesetz der Bundesrepublik einzubauen.

Der Bundesvorstand der Humanistischen Union appelliert an alle Abgeordneten, die Ausschußvorlage zunächst abzulehnen und für eine Überprüfung und Verbesserung der genannten Mängel zu sorgen. Um diesem Appell Nachdruck zu verleihen, hat die Humanistische Union ihren Mitgliedern nahegelegt, sich am 11. Mai an dem Sternmarsch nach Bonn zu beteiligen.

nach oben