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Lobrede auf Ulrich Vultejus anläßlich der Verleihung des Fritz-­Bau­e­r-­Preises 1981 in Magdeburg

Aus: vorgänge Nr. 52( Heft 2/1982), S.5-9

(vg) Die Humanistische Union hat den von ihr 1968 im Gedenken an ihr Gründungsmitglied Fritz Bauer gestifteten Fritz-Bauer-Preis 1981 an den niedersächsischen Richter Ulrich Vultejus verliehen. Fritz Bauer war Hessischer Generalstaatsanwalt nach 1945. Staatsanwälte gibt es in Massen, auch Generalstaats- und Generalbundesanwälte; dieser Umstand würde also keine Preisstiftung veranlassen. Fritz Bauer aber war nach Widerstand und Emigration aufgrund des Dritten Reiches ein Jurist, der nach 1945 so eindeutig und singulär für Humanisierung, Liberalisierung und Demokratisierung des Rechtswesens eintrat, dass genau deshalb zur Erinnerung dieser Sache die Stiftung des Fritz-Bauer-Preises zu einem Merkstein wurde für die erstrebte Menschlichkeit des Rechtssystems.
Warum der Richter Ulrich Vultejus zum Preisträger 1981 gewählt wurde, ergibt sich so deutlich aus den hier nachfolgend veröffentlichten beiden Reden, dass es Eulen nach Athen tragen hieße, sollte das noch ausführlicher begründet werden.

Die Humanistische Union verleiht den zur Erinnerung an einen der wenigen ganz großen deutschen Juristen gestifteten Fritz-Bauer-Preis, mit dem sie Verdienste um Humanisierung, Liberalisierung und Demokratisierung des Rechtswesens würdigt, heute an den elften Preisträger nach Helga Einsele, Gustav Heinemann, Birgitta Wolf, Emmy Diemer-Nicolaus, Heinrich Hannover, Helmut Ostermeyer, Werner Hill, Heinz-Dietrich Stark, Gerald Grünwald und Peggy Parnass, nämlich an Ulrich Vultejus. Damit wird zum zweiten Mal ein Richter ausgezeichnet, ein Strafrichter, der im Sinne Fritz Bauers in der ersten Instanz um innere Unabhängigkeit von den Mächtigen, um Gerechtigkeit und Menschlichkeit beim Richten bemüht ist. Wir sind überzeugt, dass Fritz Bauer der strafrichterlichen Tätigkeit Ulrich Vultejus‘ uneingeschränkt Beifall zollen würde.
Zugleich ehrt die Humanistische Union aus Anlass ihres Delegiertentages in Marburg damit, wenn nicht einen Sohn, so doch wenigstens einen Urenkel der Stadt Marburg, dessen Vorfahr hier der einst Kanzler (soviel wie heute Rektor) der hiesigen Universität war und an den noch die Vultejusstraße in Marburg erinnert, die es übrigens auch in Frankfurt und Kassel gibt – Beweis dafür, dass Angehörige dieses Geschlechts nebst ihrem Tun und Treiben als Juristen oder auch als Offiziere im Gedächtnis ihrer hessischen Mitbürger fortlebten.
Ulrich Vultejus ist nun allerdings nicht hier aufgewachsen, sondern als Anwaltssohn in Celle. In einer Wohnung schräg gegenüber dem Celler Zuchthaus, damals noch keine Justizfestung mit Strahlbeleuchtung und Schießtürmen, sondern ein efeuüberzogener Barockbau. Hier erlebte er als sechzehn jähriger „Jugendlicher” 1943 sein erstes Strafverfahren (später eingestellt), weil er den HJ-Dienst verweigerte. Eindrucksvoller war ihm wohl die Beobachtung 1945, wie wieselflink und nahtlos sich selbst tief braune Juristen in demokratische zu verwandeln vermochten.
Nach gut benotetem Examen durchlief er das Referendariat, um 1952 Richter zu werden. Der – wie er sie bezeichnete -„die Menschen zerstörenden Wirkung juristischer Ausbildung“ hatte er widerstanden. Dies ist überhaupt ein Charakteristikum auch wieder dieses Fritz-Bauer-Preisträgers: er widersteht, er leistet Widerstand, wo andere sich lieber dem Leviathan anpassen. Oberamtsrichter und Leiter des Amtsgerichtes in Bad Harzburg wird er dennoch bis zur Auflösung dieses Gerichtes, indessen schon argwöhnisch beobachtet. Wegen der Auflösung kommt er 1973 als Richter und stellvertretender Behördenleiter an das Amtsgericht in Hildesheim. Der Chef der CDU-Fraktion und Vorsitzende des Rechtsausschusses im Niedersächsischen Landtag bemerkt dazu: „Wir haben der Ernennung zugestimmt, weil wir Sie so in der Nähe Hannovers besser unter Aufsicht haben als an irgendeiner Stelle im Harz.”
Zum Ratsherrn wird er in Bad Harzburg zweimal für die SPD gewählt, und zwar als Person, nicht über Liste. Auch dem rechten SPD-Flügel ist er nicht geheuer. Für die zweite Wahl platziert man ihn auf den zweitletzten Listenplatz, doch Vultejus wird mit dem zweitbesten Stimmenergebnis gleich hinter dem Listenführer vom Volke gewählt. Er engagiert sich in der ASJ, in der Gewerkschaft ÖTV, bekommt Lehraufträge. Er schreibt in mancherlei Veröffentlichungen eine originelle, nachdenkliche, glänzende und witzige Feder – es ist nicht der Ort und nicht die Zeit, darüber heute hier mehr zu sagen.

Zu sprechen ist vielmehr über die Zivilcourage, mit der er sich dem Anpassungsdruck widersetzt, der vom Justizapparat, von der Umwelt, auch von der Kollegenschaft ausgeht, wie er das für gerecht Erkannte, ohne Rücksicht auf die Folgen für seine Person vertritt, dem Schwachen beisteht, selbst um den Preis, sich mächtige Institutionen zum Feinde zu machen. Zu sprechen ist mit anderen Worten über das, worüber nicht ein einziges Wort zu verlieren wäre, hätten wir wirklich eine Demokratie statt eines Demokratie-Defizits, hätten wir eine menschliche Gesellschaft anstatt der täglichen Inhumanitäten, wären Richter wie Ulrich Vultejus keine Solitäre, sondern eine Selbstverständlichkeit. In einem japanischen Fernsehfilm über das mittelalterliche China sah ich kürzlich eine der Hauptfiguren, die im ganzen Lande unter dem Namen „der ehrliche Richter“ bekannt war. Nun, wir machen Fortschritte. Es gibt wohl noch mehr gerechte, unabhängige und mutige Richter als Ulrich Vultejus; indessen haben sie doch leider auch bei uns Seltenheitswert.
Zum Mut, besser vielleicht zur Tapferkeit, muss sich Geschicklichkeit und Wachsamkeit gesellen. Denn die Reaktion kommt nicht mehr so unverhohlen daher, wie vorzeiten, nur ihre Tendenz ist die alte geblieben. Ein Beispiel sei Gottlieb Planck, ein überaus begabter Jurist, Mitarbeiter an der Zivilprozessordnung, Mitverfasser des Bürgerlichen Gesetzbuches. Seiner viel versprechenden Richterkarriere in Hannover tat er erstmals Abbruch, als er sich 1848 einem liberalen „vaterländischen Verein” anschloss. Der Justizminister versetzte ihn strafweise wegen dieser „Dienstpflichtverletzung” nach Osnabrück. Dort erklärte er seinen Beitritt in den Osnabrücker Arbeiterbildungsverein. Die Antwort des Ministeriums war eine disziplinare Maßregelung durch Weiterversetzung nach Aurich („Aurich-schaurig“ heißt es noch heute unter niedersächsischen Richtern und
Beamten). In Aurich votierte er in einem Rechtsfall dahin, eine bestimmte königliche Verordnung sei verfassungswidrig. Dem folgte eine Rüge nunmehr von Seiner Majestät selbst: „Wir haben mit Befremden und Missfallen vernommen, dass eines unserer Gerichte unter Verkennung seiner Stellung sich die Befugnis angemaßt hat, die Verfassungsmäßigkeit unserer Königlichen Verordnung vom 1. August dieses Jahres in den Kreis der richterlichen Prüfung und Entscheidung zu ziehen.” Eine Strafversetzung zu dem ganz unbedeutenden Gericht in Dannenberg war die Maßnahme. In der Folgezeit gab es mehrere politische Strafverfahren gegen Planck, der schließlich unter dem strengen Verbot jeglicher politischer Tätigkeit bei herabgesetztem Gehalt in den Wartestand versetzt wurde. Die Verfolgungen endeten erst mit der Hannoverschen Monarchie 1866.
Gar so lange ist das noch nicht her; am 20. Mai war Plancks 65. Todestag. Auch hat die äußere, die formalisierte Unabhängigkeit des Richters der Staatsmacht gegenüber zugenommen. Indessen sind wir doch von dem idealen Zustand, dass die einzige Beschränkung richterlicher Unabhängigkeit die Pflicht und zugleich die Neigung sei, auf Gesetz, Recht und Menschlichkeit Rücksicht zu nehmen, noch weit entfernt. Wer sich vor Disziplinarverfahren ängstigt, wer seine Streicheleinheiten braucht, wer sich um seine Beförderung sorgt, dessen Unabhängigkeit ist allemal gefährdet.
Wir aber, die Bürger, sind in einem hohen Maße auf die innere Unabhängigkeit von Richtern angewiesen. Denn Richtersprüche wirken selbst dann, wenn sie auf nichts weiter gegründet sind als auf richterliche Vorurteile, doch als die Wahrsprüche einer scheinbar neutralen Instanz. Dies erklärt den Einfluss einer reaktionären Justiz zum Beispiel auf den Untergang der Weimarer Republik.

Vultejus hingegen lässt es sich angelegen sein, das Publikum zu warnen vor einer „Justiz als eines auf Beförderung angelegten Betriebes, weil ein die materiellen Wünsche und den persönlichen Ehrgeiz einspannendes Beförderungssystem den Richter zu korrumpieren geeignet ist”. Durch solche staatsbürgerliche Aufklärung stellt man natürlich die eigene Karriere zur Disposition, lässt indessen zugleich im eigenen Bereich jeden Versuch scheitern, den angepassten, den bequemen, den von den Mächtigen abhängigen Richter zu fördern. Gefördert werden hingegen allemal die Prinzings, Foths und Somoskeoys (folgend: Dr. S.). Vultejus fragt sich (und uns), „ob ein System des Strafrechts fortbestehen darf, in dem ein Mensch wie Dr. S. sich so zu einem Schrecken seiner Mitbürger entwickeln kann. Diese Frage wird um so dringlicher, als Dr. S. keineswegs das fleischgewordene Böse, sondern ein Mann ist, der sich der Gerechtigkeit verpflichtet fühlt – so wie er sie sieht und wie viele Strafrichter sie sehen mögen. Unser Strafrecht ist in seiner Anlage noch immer das Strafrecht des Obrigkeitsstaates. Der Staat beurteilt und verurteilt durch seine Richter die eigenen Bürger, weil sie gegen seine Gesetze verstoßen haben. Der Bürger wird zum Objekt staatlicher Rache. Die Gerechtigkeit wird so zu einer Frage der dem Einzelfall fachmännisch angepassten Dosierung dieser Rache. Die Frage des Strafrichters muss anders lauten: Warum kommt der Mitbürger, für dessen Lebensweg der Strafrichter fortan eine Mitverantwortung trägt, in diesem Leben nicht zurecht, so dass er gegen die Regeln verstößt, die wir zum Zusammenleben als Bürger in dieser Gesellschaft brauchen. Und weiter: Was muss geschehen, damit der angeklagte Mitbürger ohne auch ihn selbst belastende Störungen leben kann? So wird die richterliche Aufgabe zum Dienst am Angeklagten, wenn auch zu einem Dienst, der gewiss nicht immer auf bittere Arznei verzichten kann. .. wir brauchen einen anderen Strafrichter!” Natürlich helfe das nichts bei fortbestehendem Strafrechtssystem. Darum folgt bei Vultejus die Einsicht: „Hinter dem Horizont muss ein Gott etwas besseres als das Strafrecht verborgen halten!” Hier berührt sich Ulrich Vultejus nun unmittelbar mit Fritz Bauer, der bereits 1954 auf der Bundestagung der „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen” dazu aufforderte, das alte Schuldstrafrecht zu ersetzen, Schuld künftig als eine nur moralische Kategorie aufzufassen, während der Staat einen auf gesellschaftliche Wirksamkeit gerichteten Maßnahmenkatalog aufzustellen habe, der sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft und des Täters orientiere.
Ulrich Vultejus hält es „für unerlässlich zu zeigen, dass die Strukturen der deutschen Justiz seit mehr als einem Jahrhundert nahezu unverändert sind, dass Kaiserreich, die Republik von Weimar, der Nationalsozialismus sowie die Bundesrepublik mit dieser Justiz und ihren unveränderten Strukturen offensichtlich zufrieden waren”; ihn beunruhigt diese Verwendbarkeit deutscher Richter für jedes politische System, offenbar beruhend auf ihrer Bereitschaft, alles aus dem Bewusstsein zu blenden, was nicht im gesetzlichen Programm gespeichert ist, beruhend auf der Bereitschaft, sich selbst teilblind zu machen. Er begreift die Bedeutung des Problembewusstseins, die Unzulässigkeit,
blindlings zu richten. Seine mehrfach wiederholte Forderung, der Richter habe sich auch nach seinem Gewissen zu orientieren, wird ihm alsbald (ich selbst habe es bei einem Staatsanwalt noch vor kurzem erlebt) sozusagen noch im Munde herumgedreht, als wolle er sich vom positiven Gesetz los sagen. Allerdings, der sehende, der „politische” Richter ist für Privilegien und Ungerechtigkeiten in einer Gesellschaftsordnung gefährlich; er muss durch berufliche Sozialisation verhütet werden. Daher Krieg auch den Sozialwissenschaften!

Schlimmer noch, Vultejus macht für seine Person Ernst mit der so häufig Wortlaut beschworenen „Gewährleistung”, jederzeit für die Maximen unserer Verfassung einzutreten: Nur meint er damit nicht die als Knüppel gegen Anders denkende geschwungene „FDGO”. Vielmehr stellt er fest, „dass der (nach dem Zusammenbruch der Hitlerei) wieder erstarkte Staat die Freiheitsrechte des Bürgers wie jederzeit widerrufliche Wahlgeschenke einzusammeln in Versuchung ist. .. die Buchstaben der Verfassung allein können die Grundrechte nicht schützen; nur beherzter Mut kann unsere Verfassung bewahren.”
Er nimmt ernst, was König Friedrich der Große an d’Alembert schrieb, dass die Gesetze zum Schutze der Schwachen da sind. So tritt er mit anderen Bürgern gemeinsam öffentlich für den Erhalt eines Arbeitsgerichtsurteils ein, welches das Land Niedersachsen verpflichtete, einen Lehramtsanwärter in den öffentlichen Dienst einzustellen, dem die Landesregierung vorwarf, er sei ein „Linksextremist”. Nicht deswegen tritt Vultejus für ihn ein, das gilt ihm gleich, sondern ausdrücklich deshalb, weil auch und gerade ein Richter seiner Überzeugung nach für einen Bedrängten einzutreten hat, „wenn dessen politische Überzeugung dem staatlichen Standard politischer Meinungen widerspricht”. Während die Landesregierung vom Richter der Berufungskammer des Landesarbeitsgerichtes die Aufhebung jenes arbeitsgerichtlichen Urteils erster Instanz verlangt, tritt Vultejus mit anderen zusammen für dessen Erhalt ein. Die absurde Folge: Nicht etwa dem auch über Richterkarrieren mächtigen Kabinett, sondern dem machtlosen Richter Vultejus wird vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes der Vorwurf gemacht,jenen Kammervorsitzenden des Landesarbeitsgerichtes unter Druck gesetzt zu haben; ein Disziplinarverfahren wird eingeleitet.
Nicht das erste:
Im Sommer 1976 hatte Vultejus mit seinen Schöffen über die Anklage gegen einen leitenden Manager der Großindustrie zu entscheiden; als dieser – obschon ausdrücklich davor gewarnt – der Hauptverhandlung fernblieb, behandelte das Schöffengericht ihn wie jeden anderen Bürger: es erließ auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl. Der Verteidiger des Managers lehnte V. wegen Befangenheit deswegen ab, aber auch deshalb, weil V. als damals Vorsitzender der Fachgruppe Richter und Staatsanwälte in der ÖTV Gewerkschafter sei. Der dafür zuständige Direktor des Amtsgerichtes, Mitglied des konservativen Richterbundes und auch der CDU, erklärte die Ablehnung, ohne dem ein Wort hinzuzufügen, für begründet. Das löste ein lebhaftes Echo in Presse und Rundfunk aus. Auch V., der von mehreren konservativen Zeitungen sehr hart angegriffen worden war, wurde schließlich interviewt. Auf Befragen des Interviewers, ob es nicht richtig gewesen wäre, den richterlichen Ablehnungsbeschluss mit den eigenen Überlegungen des Richters zu begründen, entgegnete Vultejus, ja, das halte er für unfair, übrigens auch für gesetzwidrig, weil der Staatsanwaltschaft kein rechtliches Gehör gewährt worden sei; auch empöre ihn die Ablehnung, weil sie unterstelle, dass gewerkschaftsangehörige Richter weniger objektiv als konservative urteilen würden; doch hoffe er, dass die Gewerkschafter nun sähen, dass als Richter tätige Gewerkschafter nur eine kleine Minderheit in der Justiz darstellten, deshalb Unterstützung und auch Solidarität benötigten. Wegen dieses Interviews wurde Vultejus nicht nur disziplinarrechtlich verfolgt und schließlich auch verurteilt. Außerdem hat der Präsident des Oberlandesgerichtes Celle, sein Dienstvorgesetzter, in einem langen Leserbrief in einer Tageszeitung Vultejus eine Verletzung seiner Amtspflichten vorgeworfen, wie auch im erst erwähnten Fall der Landesjustizminister einer hannoverschen Zeitung einen langen Leserbrief gegen Vultejus zuschickte. Dass Dienstvorgesetzte in einer Rechtssache ihres Untergebenen in der Presse gegen diesen Stellung beziehen, ist gewiss ein schwerer Verstoß gegen die Pflichten zur Fürsorge und zur vertrauensvollen Zusammenarbeit. Immerhin, ganz so rigoros wie der königlich-hannoversche Justizminister gegen Gottlieb Planck kann man heute nicht mehr vorgehen; wir schreiten, wenn auch sehr langsam, voran.
Und es bleibt nicht bei Disziplinarverfahren. Vultejus entfernt „Erkenntnisse” der Verfassungsschutzbehörden aus der Strafakte eines von ihm und seinen Schöffen zu beurteilenden Falles, weil diese „Erkenntnisse”, ohne mit dem Rechtsfall das geringste zu tun zu haben, offenkundig nur eingefügt worden sind, um das Gericht gegen die Angeklagten und ihre politische Überzeugung vor einzunehmen. Die Staatsanwaltschaft antwortet, indem sie wegen dieser Entfernung unzulässiger Aktenstücke gegen Vultejus ein strafrechtliches Verfahren wegen „Verwahrungsbruches” einleitet. Es bleibt auch nicht bei diesem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Weitere folgen, gar wegen „Rechtsbeugung” (was man nationalsozialistischen Terror-Richtern gar nicht antun mag) in der Folge eines der Staatsanwaltschaft missliebigen Freispruches.
Vultejus widersteht, er lässt sich nicht disziplinieren, macht weiter. Er macht sogar fröhlich, lachend weiter, obschon doch ein Richter bei uns gravitätisch zu sein hat; schließlich ist in keinem einzigen Gesetz jemals von Spaß die Rede. Unverdrossen bringt er es bis vor den Bundesgerichtshof, dass jener Präsident des Oberlandesgerichtes den unterstellten Strafrichtern im Bezirk „Empfehlungen” gab, wie sie in politisch motivierten Strafprozessen zu agieren haben.
Eine dienstliche Weisung sei das nicht, so wehrt sich der OLG-Präsident. Es fragt sich nur, ob es am Ende gar keiner Einzelanweisung mehr bedarf, so wenig, wie bei den Massenverhaftungen in Nürnberg. Wie beunruhigend ist es doch, dass Nürnberger Richter, ohne sich zu bedenken, über die von ihnen mit feierlichem Eid beschworene Bindung an Gesetze wie Haftkautelen, Jugendgerichtsrecht und gar eines unserer wichtigen Grundrechte eine – falsch verstandene! – Staatsräson zu stellen bereit waren, ohne da ihnen ein Justizminister oder Ministerpräsident diese erst nahe bringen musste. Wie überaus beunruhigend, dass sich die Mehrheit unseres Volkes über soetwas nicht mehr beunruhigt, dass die Gefahren zum großen Teil nicht mehr erkannt werden, die aus der unbewältigten, nur verdrängten, entsetzlichen Vergangenheit herüberdrohen!

Dass Richter so kritisiert werden, soll neuerdings wieder – die Stimmen, angeführt vom Bayerischen Justizminister und vom Generalbundesanwalt, mehren sich – illegitim sein. Die Humanistische Union setzt jedoch mit dieser Preisverleihung ein Zeichen, ein Zeichen gegen den staatsloyalen, vom Wohlwollen des Apparats abhängigen, für die Folgen seines Tuns blinden, jeder Reflexion absagenden Richter.  Sie setzt ein Zeichen für den selbstkritischen, menschlichen, wissensdurstigen, nachdenklichen, unabhängigen Richter. Noch einmal zum Abschluss Vultejus:
„Abzuklären bleibt die Frage, ob öffentliche Meinungsäußerungen unterbleiben müssen, wenn sie eine Entscheidung betreffen, die nicht durch ein Parlament oder die Verwaltung, sondern durch ein Gericht getroffen wird. .. Es gibt. .. keinen Grund für den Wunsch, Richter vor dem Einfluss der öffentlichen Meinung schützen zu wollen. Wir können auch nicht die jeweils nur für kurze Zeitabschnitte gewählten Abgeordneten und ihre weisungsgebundenen Verwaltungsbeamten der Zugluft öffentlicher Meinung aussetzen und gleichzeitig die wie keine andere Berufsgruppe geschützte Richterschaft einem Strauß von Mimosen gleich behandeln wollen. .. Nur ein Richter, der gewohnt ist, sich dem differenzierten Meinungsbildungsprozess der Demokratie zu stellen, der ihm entgegentretende Meinungen als willkommenen Anstoß wertet, die eigene Position zu überdenken, und der die Justizverwaltung lediglich als Zulieferbetrieb für die sachlichen Voraussetzungen seiner richterlichen Arbeit einschätzt, kann den Erwartungen entsprechen, die das Richterbild des Grundgesetzes prägt.”

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